„Was sollen wir also tun?“
Stell Dir vor, Du machst den Fernseher an – ja, das laufende Programm, das Dich zu überraschen vermag, nicht ein Film aus der Mediathek, zu dem schon irgendwie in Beziehung stehst – und stößt da auf einen Bericht über Johannes, den man „den Täufern“ nennt, oder „den Vorläufer“, weil er die nahe Ankunft Jesu „ankündigt“, biblisch würde man „prophezeit“ sagen.
Dieser Johannes steht heute im Evangelium im Blickpunkt. Seine Geschichte wirst Du kennen. Die Leute kommen zu ihm fragen ihn: „Was sollen wir also tun?“ und er antwortet ihnen: „Wer zwei Gewänder hat, gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle genauso!“ Es kommen auch „Zöllner“, um sich taufen zu lassen, und fragen ihn: „Meister, was sollen wir tun?“ Und Johannes: „Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist!“ Schließlich erzählt das Evangelium, dass auch Soldaten kommen und ihn fragen: „Was sollen denn wir tun?“ Johannes antwortet ihnen: „Misshandelt niemandem, erpresst niemanden, begnügt Euch mit Eurem Sold.“
Drei verschiedene Gruppen kommen und fragen, was sie denn tun sollen angesichts der nahen Ankunft des Gottessohnes, und ich weiß nicht, ob sie es aus Angst und Sorge, das Falsche, das Unangemessene zu tun, fragen, oder ob sie ihr Tun als Vorbereitung für eine ersehnte Ankunft verstehen.
Was ich weiß, ist, dass Johannes einfache Selbstverständlichkeiten zur Antwort gibt. Keiner der Gruppen muss über sein Maß hinausgehen, von keinem wird Übermäßiges verlangt – es scheint lediglich wichtig zu sein, dass jeder und jede einzelne dieser Gruppen und die Gruppe als Ganze ihr Maß kennen, und sich danach richten!
Die eigene Wirklichkeit anschauen, die eigenen Überzeugungen hinterfragen, das eigene Handeln reflektieren, und dann – eben im angemessenen Maße – weiter!
in dieses 'Café Claire de Lune' geführt.
Du wolltest dort du selbst sein,
für ein paar Stunden der Nacht.
Durch unsere armselige Erscheinung,
durch unsere kurzsichtigen Augen,
durch unsere liebeleeren Herzen
wolltest du all diesen Leuten begegnen,
die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen.«
„Was sollen wir also lassen?“
Aber ach, der Fernsehsender zeigt gar keine Verfilmung, sondern eine Verfremdung des Evangeliums. Es geht immer noch um die Ankunft und die Gegenwart Christi, aber in einer anderen Situation. Im Film kommen die Leute, die Zöllnerund die Soldaten zu Johannes und fragen anders, sie fragen: „Was sollen wir also lassen?“ Wohlgemerkt: es geht nicht um das persönliche Lebensgefühl, um geistliche oder körperliche Wellness, um Politik mit den Nächsten und Übernächsten – es geht darum, die Welt (als kleine, als mittlere und als große) angesichts ihrer Krisen, ihrer Kriege, vornehmlich aber der Klimakatastrophe offen zu halten für die Gegenwart und die Herrschaft Christi.
„Was also sollen wir lassen? Damit Du, Christus, sichtbar und spürbar bei uns bleibst? Damit wir leben können?“ Es mag Dich verwundern, aber auch hier gilt das, was der Johannes des Evangeliums sagt und was ich oben schon geschrieben habe: Johannes wird einfache Selbstverständlichkeiten zur Antwort geben Keiner der Gruppen muss über sein Maß hinausgehen, von keinem wird Übermäßiges verlangt – es scheint lediglich wichtig zu sein, dass jeder einzelne dieser Gruppen und die Gruppen als Ganze ihr Maß kennen, und sich danach richten! Um Jean-Pierre Wils‘ Überlegungen zu „Verzicht und Freiheit“ ins Spiel zu bringen: Der Bezugspunkt des Johannes könnte dabei die Frage nach drei Fehldeutungen der Freiheit[1] und deren Korrektur sein.
Es könnte sein, dass Johannes vor einem „Negativismus der Freiheit“ warnt. Den Leuten, den Zöllnern, den Soldaten gibt er mit auf den Weg, dass für sie „Freiheit“ viel zu oft eine „Freiheit von…“ Grenzen werden vom Individuum gesetzt, die ihnen scheinbar ihre Selbstentfaltung gewähren, und weder der Nachbar noch der Staat wird hier geduldet. Letzterer wird angerufen, wenn der Nachbar es übertreibt. Und in dieser Deutung wird der „Nachbar“ schnell zum Konkurrenten“. – Was würde geschehen, wenn in einer Krisen- oder Katastrophensituation aus der „Freiheit von…“ eine Freiheit für…“ würde? Oder wenn die Grenzen vom Individuum selbst ein wenig enger gezogen würden? Wenn sie eben im Maß blieben. Höre ich da den werbenden Johannes?
Es könnte sein, dass Johannes vor einem „Naturalismus der Freiheit“ warnt. Den Leuten, den Zöllnern, den Soldaten gibt er mit auf den Weg, dass Freiheit kein angeborenes Recht des Einzelnen ist, das Menschen sich auf dem Weg vom Säugling zu Erwachsenen aneignen. Vielleicht würde Johannes hinweisen auf das Wörtchen „Ich“, auf die Eigeninitiative des „Ich“, auf die vielen Pfade des „Ich“, die freiheits-initiiert, freiheits-ambitioniert, freiheits-erweiternd und freiheits-finalisiert sind. Es scheint, so Johannes, als würden Menschen ihren Freiheitsradius immer weiter ausdehnen wollen, bis es zu einer Überdehnung komme. Und wieder wäre es die Frage nach dem Maß, das dem Individuum oder der Gruppe genügen und der Katastrophe entsprechen würde. Freiheit ist immer das Resultat eines ‚Wir‘, nicht bloß der Besitz eines ‚Ich‘. Nur im Bündnis mit anderen wurden wir uns sind wir, nur im Bündnis werden wir bleiben.
Es könnte sein, dass Johannes vor einem „Absolutismus der Freiheit“ warnt. Den Leuten, den Zöllnern, den Soldaten gibt er mit auf den Weg, dass Freiheit niemals unteilbar und nur das Eigentum des Einzelnen sei. Nur in sich isolierte Individuen denken und handeln so. Bewegungs-, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit brauchen ein komplexes Netzwerk von Erlaubnissen und Verboten, von Lizenzen und Limitierungen, von Möglichkeiten und Verzichten, von Tun und Lassen, damit dieser Absolutismus verabschiedet werden kann. Dieses Netzwerk ist demokratisch abgestimmt und losgelöst von Stand, Herkunft, Verdienst usw.
dieses Stückchen Erde,
das dir den Rücken zu kehren schien.
Wir wissen, dass wir durch dich
ein Scharnier aus Fleisch geworden sind,
ein Scharnier der Gnade,
die diesen Fleck Erde dazu bringt,
sich mitten in der Nacht,
fast wider Willen,
dem Vater allen Lebens zuzuwenden.
In uns vollzieht sich das Sakrament deiner Liebe. «
Weihnachten feiern – was also soll ich tun, soll ich lassen?
Der erste Zuspruch: In der Spannung zwischen Nostalgie und radikaler Hoffnung durchaus wissen, wie lieb Dir die Nostalgie ist, mit ihrem „Zeitindex […], mit einem Zeitpfeil, der in eine rückwärtsgewandte Richtung weist.“[2] So war das immer an Weihnachten. Aber da nicht stehenblieben, sondern nach vorn schauen, auch wenn sich vieles im Raumindexgrau in grau zeigt. Ehrlich ist es, wenn Du auch und gerade an Weihnachten den Schmerz an der eigenen Trostlosigkeit über viele Missstände in der Welt zulässt und aushältst.
Der zweite Zuspruch: Dein Maß ermessen! Die Illusionen über die Welt, wie sie ist, als solche enttarnen. Gerade jetzt mag stimmen, was Wils diagnostiziert: „Illusionen sind nun einmal resistenter als die Realitäten. Warum nicht in Zeitflucht(t)räume investieren?“[3] Aber anstatt zu fliehen wäre es hilfreicher, am Ort zu bleiben und sich hier kurz-, mittel- und langfristig mit der Tugend des Mutes den Herausforderungen zu stellen. Mit einer eigenen Vision einer Gesellschaft, in der Du leben möchtest, begegnest Du aller Nostalgie und jeglicher Realitätsverweigerung.
Der dritte Zuspruch: Ein Unterkapitel in Wils‘ Buch ist überschrieben mit Unersättlichkeit oder Kooperation.[4] Hier wird eine kleine Schlussreflexion auf die drei Fehldeutungen von Freiheit gegeben. Du musst sie nicht einmal kennen und könntest dennoch beschreiben, ob, wo und wie Du mehr der Mensch der Unersättlichkeit bist bzw. ob, wo und wie Du eher als der kooperierende Mensch erlebt wirst. Klar, es geht nicht um Reinformen, es geht um Dein Maß. Weihnachten feiern kann in diesem Jahr heißen, die ganz eigenen Maße neu zu justieren, damit es eine Passung gibt zur Welt, wie sie ist und zu dem, was Du zu geben bereit bist. Johannes wäre da an Deiner Seite. Jesus auch.
Amen.
Köln, 14.12.2024
Harald Klein
[1] vgl. Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 172-192.
[2] a.a.O., 23.
[3] a.a.O., 31.
[4] a.a.O., 192-206.