Verstehen mit allen Sinnen
Das Evangelium heute setzt da an, wo das Evangelium des Ostermontags geendet hat. Die beiden Jünger, denen auf dem Weg nach Emmaus das Herz brannte, als der Auferstandene ihnen den Sinn der Schrift erschloss und der mit ihnen in Emmaus das Brot gebrochen hat, sind nach Jerusalem zurückgekehrt und erzählen den Jüngern, was sie unterwegs erlebt haben. Während sie erzählen, tritt Jesus in ihre Mitte – und es wiederholt sich vieles von dem, was der Evangelist Johannes z.B. in der Thomas-Geschichte erzählte. Jesus zeigt seine durchbohrten Hände und Füße, er isst ein Stück gebratenen Fisch vor den Augen der Jünger, er verweist auf die Heilige Schrift, die erfüllt werden muss in dem, was über den Messias, über ihn geschrieben steht. Und dann der Satz, der heute für mich über allem steht: „Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften“ (Lk 24,45), dem sich ein knapper Verweis auf Leiden, Tod, Auferstehung und Umkehr der Völker anschließt. Für all das seien sie, die Jünger, Zeugen, angefangen in Jerusalem.
Den Sinn öffnen für das Verstehen der Schrift: Das wäre doch wohl heute ein, wenn nicht sogar der Dienst der Kirche: denen, die danach fragen, den Sinn für das Verständnis der Schriften eröffnen, oder anders: mit den Sinnen das Verständnis der Schrift eröffnen.
Vielleicht siehst Du das anders, aber für mich vermag nur eines der drei Standbeine von „Kirche“ diesen Dienst leisten. Das Standbein der Religion, der Lehre, des Glaubens, der geglaubt wird, bleibt im Begrifflichen, im Unterscheidenden. Das Standbein der Frömmigkeit, des Rituellen im Privaten wie im Öffentlichen, des Glaubens, wie er geglaubt wird, vereint Menschen untereinander und vermag Halt in überfordernden Situationen geben zu können. Aber nur das Standbein der Spiritualität, des Geistes und der Geisteshaltung, des Glaubens, der Lehre und Ritus sowohl zu nutzen als auch beides zu übersteigen vermag, ist alltagstauglich, dialogisch, auf den Menschen und die Menschwerdung ausgerichtet und kann – sofern auf Jesus Christus bezogen – christlich sein.
Mit den Sinnen das Verständnis der Schrift eröffnen – das kann sich nicht im Raum der Kirche abspielen, in dem nach so Vielem gefragt wird, wie z.B. der Rolle der Frau im Weihesakrament, der Bedeutung der Zeichen in der Liturgie, dem Segens- und Sakramentenverständnis. Mit den Sinnen das Verständnis der Schrift eröffnen – das schaut genau in die andere Richtung (da ist er wieder, der Januskopf!), das schaut hinein in die Welt. In die kleine Welt, die die Meinige ist, aber auch in die große Welt, in der sich Ungleichheit, Unfriede und Ungerechtigkeit immer mehr auszubreiten scheinen. Das Wort „Umkehr“ ist für eine weltzugewandte Spiritualität ein echtes Programmwort, aber so ganz anders gefüllt, als es Kirchentexte verstehen. Es geht um eine Umkehr in die Welt hinein (keinesfalls aus der Welt heraus) mit allen Sinnen. Diese Umkehr, diese Kehrtwende fängt mit der „Wahrnehmung mit allen Sinnen“ an und setzt sich im „Handeln mit allen Sinnen“ fort, mitten in der Welt, und für die Welt. „Geistgewirkt“ wäre vielleicht eine passende Umschreibung für diese spirituelle Umkehr, für diese kirchliche Kehrtwende.
bekämpfen sich Koryphäen.
was der Eine als Wahrheit hat erkannt,
die Andren als Lüge schmähen,
und plappern über 'nen Elefant,
den keiner hat je gesehen! «
Gottesdienst: Jesus zeigt sich – oder: er wird gezeigt
Es mag ein wenig weit hergeholt sein, dennoch sei es gesagt: die Osterevangelien spielen allesamt im Vor-pfingstlichen. Als wäre es, wie bei der Betonung der Religion und der Frömmigkeit als die „bedeutenden“ Standbeine der Kirche, nur möglich, den geglaubten Christus in den Formen zu sehen und zu erleben, die sich rituell herausgebildet haben. Die Liturgie sei der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt, heißt es in den Lehrdokumenten des II. Vatikanischen Konzils.[1] Das mag stimmen, nach Ostern, im Obergeschoss, bei verschlossenen Türen. Hier zeigt sich Jesus – und andersherum: hier bekommen die Glaubenden Jesus gezeigt etwa in Brot und Wein, Kreuzweg, Pieta, beinahe die gesamte Bilderwelt erschließt sich den Sinnen in einer Spannung zwischen Tod (vor allem) und Leben (auch). Hier wird uns Jesus gezeigt – wie sehr er sich selbst den Glaubenden zeigen kann, wie sehr er erkannt oder eben nicht erkannt wird, sei dahingestellt. Nichts anderes geschieht in der Verkündigung im Gottesdienst.
Weltdienst: Jesus suchen, ihn wahrnehmen und für wahr nehmen
Das Ganze geht so lange, bis die Wirklichkeit von Pfingsten wahrgenommen wird. Jetzt kommen die anderen Menschen ins Spiel, auch die mit fremder Sprache und Kultur. Jetzt heißt es das Obergeschoss, den Abendmahlssaal verlassen und in die Welt zu gehen, „angefangen in Jerusalem“ heißt es heute im Evangelium. Jetzt heißt es, dem Gelernten(Religion) und dem Eingeübten( Frömmigkeit) seinen Platz zuzuweisen und dem Geist (Spiritualität) seinen Raum zu geben. Wieder kommt der Januskopf, der beide Seiten sieht, ins Spiel. Es ist nicht mehr allein die Kirche und ihre Vertreter, in denen mit Christus entgegenkommt, es ist vielmehr seine Welt, die Menschen und ihre Schicksale, die Länder und ihre Nöte, in denen Christus Begegnung sucht. Das ist wieder der Prozess der Umkehr. Es heißt Abschied von und Ausbruch aus einer Welt, die sich vorwiegend in den Kirchenmauern abspielt. Nicht, um sie hinter sich zu lassen, sondern um ihr den ihr gemäßen Platz einzuräumen.
Ich möchte diesen neuen Weg der österlich-pfingstlichen Umkehr gerne umschreiben mit der Abkehr vom Versuch, Jesus, den Auferstandenen zu suchen auf den im wahrsten Sinne des Wortes traditionellen Wegen – das wäre durchaus auch berechtigter Weg der klösterlichen Gemeinschaften oder von Menschen, die nach den alten Ordens- oder Gemeinschaftsregeln ihr Leben ausrichten. Für ein Christsein mitten in der Welt, scheint mir ein Prozess des Sehen-Lernens und des Sich-Finden-Lassens, wie ihn Rainer Maria Rilke in seiner Prosadichtung „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ formuliert hilfreicher. Rilke lässt den jungen Malte Laurids Brigge in Paris ankommen und durch die Stadt gehen, die ihm eher unheimlich als schön vorkommt, in den Menschenmassen, den Häuserschluchten, den vielen Bewegungen, die ihn mitreißen. Auf der dritten Seite seiner Prosadichtung notiert Malte Laurids Brigge in sein Tagebuch: „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.“[2]
Rilke hat hier, ohne es zu wollen, dem „Weltdienst“ des Christlichen einen Ausdruckgegeben. Die Zeit nutzen, um sehen zu lernen. Immer wieder anfangen damit, dass ich in jedem Menschen Christus sehen kann, wenn ich ihn sehen will – und das in jedem Gesicht, das diesem Menschen eben zu Gesichte steht. Der Geist, in dem dies geschehen und sich vollziehen kann, ist uns gegeben.
„Eine Menge Menschen und noch viel mehr Gesichter“, lässt Rilke seinen Malte schreiben. Das ist auch meine, auch deine Wirklichkeit. Mir ist das ein Öffnen der Sinne für das Verständnis der Schriften, und vielleicht dient es Dir auch. Es gilt, sehen zu lernen, die Gesichter zu verstehen und die Zusagen des Auferstandenen mit allen Sinnen zu erspüren. Es kann immer noch das Brot am Altar dann der „Leib Christi“ sein, aber die kleine Scheibe Brot hat große Brüder, hat große Schwestern an die Seite bekommen. Und ich darf mich selbst, Du darfst Dich selbst dazu zählen.
Amen.
Köln, 11.04.2024
Harald Klein
[1] vgl. Sacrosanctum Concilium. Konstitution über die Heilige Liturgie, 10; [online] https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html#:~:text=Aus%20der%20Liturgie%2C%20besonders%20aus,als%20auf%20sein%20Ziel%20hinstrebt. [11.04.2024]
[2] Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rilke, Rainer Maria, Sämtliche Werke, Bd. III-1, herausgegeben vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 111.