Zwischen Aschermittwoch und Pfingsten
Weihnachten und Ostern haben in der Feier der Liturgie eine auf sie abgestimmte Vorbereitungs- und eine Nachbereitungszeit. Zu Weihnachten gehört der vorgeschaltete Advent und die angehängte Weihnachtszeit bis zum Fest „Taufe des Herrn“. Zu Ostern gehört die vorgeschaltete Buß- oder Fastenzeit und die angehängte Osterzeit bis zum Pfingstfest.
Mit dem Aschermittwoch beginnt jetzt also die sogenannte „Bußzeit“. Die Evangelien sind recht bekannt. Jesu Versuchung und seine Verklärung kommen zum Vortrag, die Tempelreinigung wird vor Augen gestellt, die das Evangelium lesenden oder hörenden Christinnen und Christen nehmen teil am nächtlichen Gespräch Jesu mit Nikodemus, in dem Jesus klarstellt, dass es im Glauben an Gott um Rettung, nicht um Gericht und Zerstörung der Welt geht. Und dann ist schon Palmsonntag, dann begleiten die, die in den Gottesdiensten sind oder die die Hl. Schrift lesen, Jesus beim Einzug nach Jerusalem, nehmen geistlich teil an der Fußwaschung und am Letzten Abendmahl, beten mit Jesus am Ölberg und werden Zeugen seines Prozesses und seiner Hinrichtung.
Jesu Erfahrungen und die Erfahrung Jesu
In diesem ersten Teil, der österlichen Bußzeit, wird es also um Jesu Erfahrungen (im gen. subj.) gehen, in all dem, was der Evangelist Markus und zum Teil auch die anderen Evangelisten ihn eben erfahren lassen in diesem Zugehen auf seine Passion, gleichsam als „Jesu Leiden“ und als „Jesu Leidenschaft“ zu übersetzen.
Die Perspektive wendet sich mit Ostern und den Evangelien wie dem vom leeren Grab, von der Erscheinung beim zweifelnden Thomas, vom guten Hirten, vom Weinstock mit den vielen Reben, deren Bestimmung es ist, Frucht zu tragen, vom Sendungsauftrag an die Jünger an Christi Himmelfahrt und vom Geschenk des Heiligen Geistes an Pfingsten. In dieser Osterzeit wird es umgekehrt wie in der Bußzeit um die Erfahrung Jesu (im gen. obj.) gehen, also darum, wie die Apostel und die Jünger, wie die Männer und Frauen im Gefolge Jesu ihn als den Auferstandenenerfahren haben.
Damit beides, Jesu Erfahrungen und die Erfahrung Jesu nicht nur abgehoben, nicht nur theologisch oder spirituell überhöht oder irgendwie frömmelnd daherkommt, sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen. Zum einen muss es auch heutigen Menschen möglich sein, die Erfahrungen, die er Mensch Jesus gemacht hat, auch machen zu können; zum anderen muss es heutigen entsprechend offenen Menschen möglich sein, die Erfahrung Jesu, des Auferstandenen, als solche an sich erahnen und für sich deuten zu können.
Rilke und sein Ringen mit dem Leben
In den vergangenen drei Monaten habe ich mir als ein passendes Gegenüber für die Evangelientexte den Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) erkoren. Absolut hilfreich war die von Gunnar Decker verfasste Biografie „Rilke. Der ferne Magier“[1]. Decker bezieht sich in seiner Biografie vorwiegend auf Briefe und auf Tagebuchaufzeichnungen, weniger auf Lyrik oder Prosa. Eine zweite Quelle war mir Rilkes Prosa, darin besonders die „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“[2]. Sofern andere Texte von und über Rilke in die Predigten einfließen, sind in den Predigttexten die Quellen natürlich genannt.
Das Vorgehen ist subjektiv und will keiner literarkritischen Wissenschaftlichkeit standhalten. Die Texte der Evangelien lagen vor und waren zuerst da. Beim Lesen vor allem der Biografie von Gunnar Decker, aber auch des wohl bekanntesten Prosatextes Rilkes, des „Malte Laurids Brigge“ habe ich versucht, Annäherungen von Jesu Erfahrungenim Leben Rilkes wiederzufinden bzw. im Empfinden und in der Ausdeutung Rilkes Erfahrungen Jesu bei Rilke zu erahnen; was auch eine Hürde ist, denn Rilke ist 1901 aus der katholischen Kirche ausgetreten – jede Deutung der Erfahrung Jesu hat also, soll sie dem Erfahrenden, in diesem Fall Rilke, gerecht werden, nichts mit einem konfessionellen Bekenntnis gemein. Aber auch hier galt – und gilt bis heute noch: Nicht, dass die Kirche Gott hat, um an seiner Statt zu sprechen und sich zur Statthalterin Gottes zu machen; sondern Gott hat die Kirche, um sich auch (!)durch sie den Menschen zuwenden zu können.
Das würde Rilke so, wie ich ihn vermittelt durch Gunnar Decker kennengelernt habe, wohl unterschreiben.
Willkommen also bei einem spirituellen Rilke-Projekt. Ihnen eine gute Zeit auf Ostern zu – und nach Ostern auch, denn das ist die Zeit, in der wir leben!
Köln, 14.02.2024
Harald Klein
[1] Decker, Gunnar (2023): Rilke. Der ferne Magier. Eine Biografie, München.
[2] Rilke, Rainer Maria (1982): Werke, Bd. III-1: Prosa, 2. Aufl., 107-346.