Erster Adventssonntag – Die Suche nach dem Sinn des Sinns

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Humanität – Das Vorhaben für Advents- und Weihnachtszeit

Beim Wein erzählte mir ein langjähriger Freund von einem Buch, das zu lesen er sich freue – es handelte sich um eine Untersuchung des Berliner Philosophen Volker Gerhardt mit dem Titel „Humanität. Über den Geist der Menschheit“[1]. Wir überlegten, das Buch gemeinsam zu lesen und uns mit den Mitteln der Technik über einige Hundert Kilometer hinweg auszutauschen. Noch ist es beim Plan geblieben. Ich habe begonnen, mich – im Anschluss an das Menschenbild Kants, das der Untersuchung zugrunde liegt und nicht das Meinige ist – neu und anders den Fragen nach dem „Humanum“, nach dem, was „der Mensch“ bzw. was „das Menschliche“ (sofern es das gibt) sei, aber auch nach was des Menschen „Bestimmung“ sein könnte, zu stellen.

Mein Vorhaben ist, an den vier Adventssonntagen, an einem Weihnachtstag und an den drei Sonn- und Feiertagen bis zum Ende Weihnachtszeit mit Zitaten und zusammenfassenden Thesen aus dieser Frage nach dem Menschen, seinem Wesen und seiner Bestimmung dem näher zu kommen, was zentraler Inhalt des Weihnachtsfestes ist: der Menschwerdung – nicht nur der Menschwerdung Gottes, sondern (vermittelt durch sie) der Menschwerdung des Menschen.

Zugegeben, ich ringe mit dem Buch und seinem Inhalt! Ob das Vorhaben gelingt, werden wir am 08.01.2023 sehen, am Fest Taufe des Herrn, mit dem der Weihnachtsfestkreis schließt. Aber jetzt stehen wir erst einmal am Anfang der Weihnachtszeit, im Beginn des Advents.

» Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. «
Mt 24,42

Die Botschaft des Advents: Aufbrechen? – Aufwachen? – Wachsam sein?

Advent hat immer etwas mit „Aufbruch“ und „Aufbrechen“ zu tun. Die erste Lesung dieses Advents stammt aus Jesaja, sie nimmt das bevorstehende Ende der Zeiten in den Blick, schaut nach vorn und endet mit den Worten „Haus Jakob, wir wollen gehen im Licht des Herrn“ (Jes 2,5). Der Aufbruch hat hier die Form des „Wir wollen gehen“. Die zweite Lesung aus dem Römerbrief sagt den Hörenden an: „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf!“ (Röm 13,11). Der Aufbruch hat hier die Form, aufzustehen, vielleicht auch, Aufstand zu wagen. Das Evangelium schließlich mahnt: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. […] Darum haltet auch ihr euch bereit.“ (Mt 24,42.44). Der Aufbruch hat hier die Form des Aufrufs zur Wachsamkeit – im Unterschied zum Verschlafen, zur Schläfrigkeit und zur Träumerei.

Ich mag die Radikalität der Lesungen nicht teilen! Natürlich mag ich – soweit ich das kann – gehen im Licht des Herrn, muss aber auch bestehen können in dem, was mir da entgegenkommt. Natürlich mag ich der Welt lieber als wacher Geselle denn als verschlafener Penner oder verpennter Schläfer entgegentreten bzw. sie empfangen. Aber ich liebe die Ruhe der Nacht, das Schlafen und das langsame Wachwerden in den Tag hinein – mit einem Kaffee am Nachttisch! Und natürlich ermahne ich mich und lasse ich mich ermahnen zur Wachsamkeit – aber nicht aus Angst, sondern aus Neugier, was der Tag, was die Begegnung (und aktuell auch: was das Buch) mit sich bringen wird.

» Die Natur des Menschen steht in einem zum Problem werdenden Verhältnis zwischen Individualität und Universalität, in der Suche nach dem Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und Selbstbestimmung, in der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Natur, für die von Menschen als zentrale Aufgabe verstandene Partizipation sowohl am Ganzen einer Gemeinschaft wie auch am Ganzen der Welt.«
Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen, 9.

Der erste Impuls: In Spannung(en) leben

Es macht den Advent – als Vorbereitung für die weihnachtliche Menschwerdung – genauso wie die Fastenzeit – als Vorbereitung für das österliche Menschenende in Vollendung – aus, dass oft bipolar gedacht und gesprochen wird: Das ist das, was „zu lassen“, und das, was „zu tun“ ist; das ist an dem einen Ende „Tod“, und am anderen Ende „Leben“, da sind die Guten, die „Schafe“, und da sind die Bösen, die „Böcke“. Aber so funktioniert Leben nicht! Da gibt es das „Schaf“ in mir, und den „Bock“. Da gibt es Zeiten des Lebens, aber auch Erfahrungen des Todes. Da weiß ich, was ich zu machen bzw. zu lassen hätte, und tue das Gegenteil. Es sei gewarnt vor der „Verinnerlichung“! Es geht hier nicht nur um die Weise, wie ich mir selbst begegne. Neben dem psychologischen gibt es auch den sozialen Aspekt. In diesen Spannungen stehe ich nicht allein, sondern zum einen auch auf andere hin, zum anderen gemeinsam mit ihnen – mittendrin.

Volker Gerhardt fasst diesen Stand-Punkt des Menschen – er sei hier der Startpunkt des diesjährigen Advent – wie folgt: Die Natur des Menschen steht in einem zum Problem werdenden Verhältnis zwischen Individualität und Universalität, in der Suche nach dem Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und Selbstbestimmung, in der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Natur, für die von Menschen als zentrale Aufgabe verstandene Partizipation sowohl am Ganzen einer Gemeinschaft wie auch am Ganzen der Welt.[2]

Sie können einen Adventsstern zeichnen mit drei Linien und sechs Punkten. Anfang und Ende der drei Linien können beschriftet werden mit „Individualität“ und „Universalität“, mit „Selbstorganisation“ und „Selbstbestimmung“, mit „Freiheit“ und „Natur“. Und dann spüren Sie dem nach, wo Ihr Platz ist auf diesen drei Linien. Seien Sie wachsam (Mt 13,42); wachen Sie auf vom Schlaf, vom Wegsehen (Röm 13,11) und vor allem: beginnen Sie zu gehen im Licht des Herrn (Jes 2,5) – in die Richtung, wo Sie mehr an Lebendigkeit, an Leben vermuten bzw. wo Sie weniger investieren wollen, weil die Investition sinnlos in Sachen Menschsein, Menschwerdung, Menschlichkeit scheint.

» Dazu schafft sich der Mensch einen singulären Raum des Welt- und Selbstverstehens, den er Öffentlichkeit nennt und der mir erst vollständig erscheint, wenn die erhabene Sphäre des Göttlichen hinzugehört. Insofern ist auch die Suche nach dem Sinn des Sinns eine Bemühung, die uns nur bei Menschen begegnet. «
Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen, 9.

Der zweite Impuls: Vom Sinn des Sinns

Die Frage ist: Nach welchen Maßstäben entscheiden Sie, auf was hin Sie wachsam sein wollen; worauf bezieht sich dieses „Aufwachen“ (bzw. was meint hier „schlafen“?); und vor allem: wohin oder auch mit wem sollen Sie denn gehen, wohin mich schlicht hinbewegen, was hinter mir lassen? Das ist eine wirkliche Überforderung, wenn Maßstäbe nicht klar sind oder fehlen.

Volker Gerhardt führt das oben angeführte Zitat deshalb weiter: „Dazu schafft sich der Mensch einen singulären Raum des Welt- und Selbstverstehens, den er Öffentlichkeit nennt und der mir erst vollständig erscheint, wenn die erhabene Sphäre des Göttlichen hinzugehört. Insofern ist auch die Suche nach dem Sinn des Sinns eine Bemühung, die uns nur bei Menschen begegnet.“[3]

Das „Dazu“ zu Beginn des Zitates bezieht sich auf die Aufgabe der Partizipation, der Teilhabe und der Teilnahme des Menschen am Ganzen einer Gemeinschaft – ich möchte gerne ergänzen: mit sich selbst und mit anderen – wie auch am Ganzen der Welt.

Das wäre ein zweiter Impuls für diesen ersten Advent: die Frage nach dem Sinn, und die Frage nach dem Sinn des Sinns. Sich in den eigenen „privaten“ Raum des Selbst- und Weltverstehens begeben und ins Gespräch, in Austausch mit sich selbst kommen über das, was anliegt, über die eigenen Anliegen. Den Raum öffnen für die eigene Öffentlichkeit – Sie werden wissen, wer dazugehört – und in den Austausch kommen. Und gerne auch neu sich Rechenschaft geben, ob die Sphäre des Göttlichen dabei eine Rolle spielt, spielen darf, verspielt hat.

Beim Wein hatte mir der Freund vom Buch erzählt. Beim Wein würde ich ihn gerne zum Gespräch treffen – in einer vertrauten „Öffentlichkeit“. Um die spannungsreichen Pole könnte es gehen, um Sinn und um den Sinn des Sinns. – Einen spannenden, sinn-reichen Advent Ihnen.

Amen.

Köln 23.11.2022
Harald Klein

[1] Gerhardt, Volker (2019): Humanität. Über den Geist der Menschheit, Nördingen.

[2] a.a.O., 9.

[3] ebd.