Erster Adventssonntag: Richtet Euch auf und erhebt Euer Haupt!

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Ein Adventskalender der besonderen Art

Stell Dir vor, Du bekommst einen leeren Adventkalender geschenkt und darfst ihn Dir selbst füllen – keinen mit Türchen, sondern mit leeren kleinen Taschen, Beuteln oder Säckchen, die aber so groß sind oder werden, dass alles, was Du hineinpackst, darin Platz findet.

Und stell Dir vor, Du dürftest ihn für Dich füllen – mit 24 Dingen, Menschen, Erlebnissen und Erfahrungen, Haltungen, die Dein Leben wirklich reich machen, reich gemacht haben, reich machen werden – um die zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft dazu zu nehmen. Was ist es, wer war es oder wer/was könnte es sein, der/die/das Dein Leben reich macht?

Wir werden auf diesen besonderen Adventskalender noch zurückkommen!

» Die Neuordnung unserer Freiheiten hat nämlich nicht zur Folge, dass wir weniger, sondern dass wir anders frei sein werden, vielleicht sogar besser frei, wenn diese Formulierung erlaubt ist. Und es ist ebenso wenig ausgeschlossen, dass wir womöglich sogar glücklicher leben werden. «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 18.

„Prekäre Lebensverhältnisse“

Je nach Lebensweise, nach Milieu oder Stand werden die Inhalte dieses Adventskalenders bei anderen Menschen jeweils anders aussehen, er wird von verschiedenen Menschen unterschiedlich gefüllt werden. Es geht mir gar nicht so sehr um eine finanzielle Lage. Mir scheint, dass es eine große Verbindung zwischen den Menschen verschiedenster Lebensweisen, Milieus oder Ständen gibt, die ich „prekäre Erfahrung“ nennen möchte. Mit prekären Lebenslagen meine ich nicht automatisch Armut, sondern eine Art Zwischenzustand zwischen (unsicherem) Wohlstand und (drohender) Armut. Angesichts der immer deutlich sich zeigenden Klimakatastrophe und der weltweiten Unsicherheit in Fragen der Sicherheit meine ich, von einer globalen prekären Lebenssituation sprechen zu können. In der steckts Du, in der stecke ich, und wir sind alles andere als allein.

Jean-Pierre Wils, dessen Buch „Verzicht und Freiheit“ Pate steht für „Auf Links gedreht“ im Advent und in der Weihnachtszeit 2024/2025, schreibt im Vorwort seines Buches:

„Als ‚prekär‘ empfinden […] immer mehr Menschen ihre Lebensumstände. Sie versuchen auf einem abrutschenden Hang die Balance zu halten – oft vergeblich. Das Gefühl eines andauernden Auseinanderdriftens und einer Zerfaserung des Zusammenhalts prägt die Atmosphäre, in der manche richtungslos umherirren. Die Klüfte werden tiefer, die Unübersichtlichkeit nimmt zu, die Aggressionen steigen.[1]

Das ist nicht neu. Es scheint aber anders zu sein in dieser Zeit, es scheint radikaler zu sein, globaler, vor allem aber nicht mehr unumkehrbar. Das prekäre Empfinden der Lebensumstände kennen auch schon die Menschen des Evangeliums. Im Evangelium des Ersten Advent wird bei diesen mehr als prekären Lebensverhältnissen angesetzt. Der Evangelist Lukas schreibt:

„Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“ (Lk 21,25)

Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen, in welchen christlichen Kirchen und Gruppierungen auch immer, in solchen Sätzen ein Fundament ihrer Welt-, Politik- und Gegenwartsdeutung liegt. Und ich wage zu bezweifeln, dass diese Form der Deutung die Kraft hat, aus der Angst zu führen oder wenigsten mit ihr zu leben – nein, sie macht Angst!

Der Evangelist Lukas schreibt dann weiter:

„Dann wird man den Menschensohn in einer Wolke kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn dies beginnt, dann richtet Euch auf und erhebt Eure Häupter; denn Eure Erlösung ist nahe.“ (Lk 21,27f)

» Das Wissen bleibt jedoch häufig arm an Konsequenzen. «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 14.

Hilfen, das Haupt zu erheben

Es fällt schwer, das lukanische Wort „… denn Eure Erlösung ist nahe“ angesichts der Auswirkungen der Klimakatastrophe oder angesichts der Unsicherheiten in der Frage nach dem Frieden in der Welt zu hören. Eine Hilfe, trotz all dem und in all dem das Hupt zu erheben, ist mir die Philosophie. Wils schreibt:

„Es ist Aufgabe der Philosophie, die Welt deuten zu helfen, die schwierigen Wirklichkeiten, in denen wir leben, verstehen zu lernen, unser Tun und Lassen gegebenenfalls zu korrigieren.“[2]

Da sind wir wieder beim selbst zu füllenden Adventskalender. Jetzt gilt es nochmal zu überlegen, was Dein Leben wirklich reich gemacht hat, macht oder machen wird. Die Dinge, Ereignisse, Menschen, die am Himmel sich abzeichnen mit großer Kraft und Herrlichkeit, wirst Du in den Angeboten des „Black Friday“ nicht finden – er ist gerade heute, sorry! Es gilt sich aufzurichten und auszurichten auf eine Form des Lebens, die den Namen „Leben“ verdient. Und die hat mit klarem Denken, mit Philosophie – übersetzt: Freude an der Weisheit – zu tun. Noch einmal Wils in seiner Analyse der Gegenwart:

„Wir sind zu Opfern von Luxusambitionen geworden, zu Suchtabhängigen von Verhältnissen, die uns nicht länger zwischen Überfluss und Überflüssigem zu unterscheiden erlauben. Entschlackung aus Eigen- und Fremdinteressen ist angesagt, ebenso Abschied von Überflüssigem aus beiderlei Gründen. Es lässt sich jedoch ein besseres und zukunftträchtigeres Leben vorstellen, wenn wir ‚auf Verzichte nicht länger verzichten‘ und die Attraktivität des Weniger entdecken lernen.“[3]

Um Vorstellung geht es an diesem Ersten Advent. Um ein klares Nachdenken darüber, was wohl geschieht und wie unser Leben aussähe, und was wir gewännen, wenn wir auf Verzichte nicht länger verzichten. Das steht mal über dem Ersten Advent! Und es soll fürs Erste, für den Ersten Advent genügen.

Wie sehr diese aktuellen politischen, gesellschaftlichen, auch religiösen und spirituellen Fragen mit Advent, mit dem kommenden Erlöser und mit der Menschwerdung Jesu zu tun hat, das drückt Paulus in einem Loblied auf Christus aus, das im Brief an Philipper niedergeschrieben ist:

Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen,

damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt:
«Jesus Christus ist der Herr» – zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,5-11)

Schau doch nochmal in die Taschen Deines Adventskalenders, ob das Richtige oder die Richtigen drin. Vielleicht hilft die „Entschlackung aus Eigen- und Fremdinteressen“, oder der Abschied von Überfluss und Überflüssigem? Du kannst austauschen, das Eine heraus- und das andere hineinlegen. Oder auch Taschen freilassen! Er muss nicht heute vollgefüllt werden, das hat keiner gesagt! Es hilft vielleicht, oder es hilft gerade gar nicht, in Jesus die „Attraktivität des Weniger“ entdecken zu lernen – das sei Dir und Deinem Gespür überlassen. Aber Deinen Adventskalender, den fülle Dir klug!

Amen.

Köln, 26.11.2024
Harald Klein

[1] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 10.

[2] a.a.O., 21.

[3] a.a.O., 17.