Vertellis spielen – in der Kirche
Ein mir sehr lieb gewordenes Spiel, gerade jetzt im Kreis der Familie um den Weihnachtsbaum herum oder im Freundeskreis nach dem Raclette an Silvester ist das aus den Niederlanden stammende „Vertellis“, übersetzt ungefähr mit „Erzähl mal“. Ganz einfach, und vor allem mehr als ein Spiel. Einer zieht eine Karte, auf der steht z.B. „Eine Deiner schönsten Begegnungen im vergangenen Jahr“ – und der, die Karte gezogen hat, erzählt. Richtig schön wird es, wenn man die Spielregeln lockert – mit der Frage: „Mag sonst noch jemand eine seiner/ihrer schönsten Begegnungen erzählen?“ In der zweiten Runde gibt es Einschätzungsfragen auf den Rest der Gruppe hin, das vergangene Jahr betreffend. Die dritte Runde nimmt das kommende Jahr und die Hoffnungen der einzelnen in den Blick, und die vierte Runde hat wieder Einschätzungen der anderen auf das kommende Jahr hin zum Thema. Absolut empfehlenswert!
Wenn ich es heute mit Ihnen spielen würde, würde ich Ihnen gerne die Karte zuspielen, auf die Frage steht, wann Sie im vergangenen Jahr den Himmel offen gesehen haben, oder wann Sie im vergangenen Jahr Jesus zur Rechten Gottes haben stehen sehen. Achtung: da steht nicht „ob Sie … gesehen haben“, denn dann könnten Sie leicht „Nein“ sagen! Da steht „wann“ drauf – und Sie müssen sich schon die Mühe machen, Ihre Begegnungen und Erlebnisse das Jahr hindurch an sich vorbeiziehen zu lassen. Also: Wann haben Sie im vergangenen Jahr den Himmel offen gesehen? Wann haben Sie im vergangenen Jahr Jesus gesehen – das „zur Rechten Gottes“ dürfen wir uns jetzt mal sparen.
„Wo Augen Dich ansehn, entstehst Du“ (Hilde Domin)
Keine leichte Aufgabe, keine leichte Karte die Ihnen das Leben da zuspielt, oder? Erinnern Sie sich noch an das Gedicht „Es gibt Dich“ von Hilde Domin, das in der Christmette seinen Ort hatte? Wo es dann in der Predigt darum ging, Jesus in den Blick zu nehmen, sich von Jesus ansehen zu lassen und den anderen so anzuschauen, dass ich in ihm, in ihr Jesus erahne. Dasselbe gilt heute, gilt dem Sehen des offenen Himmels und dem Sehen und Entdecken Jesu. Noch einmal Hilde Domin: „Dein Ort, Himmel oder Jesus, Dein Ort ist, wo Augen Dich ansehn. Wo sich die Augen treffen, entstehst Du.“
Sie können den Himmel nicht offen sehen wie Sie das Gesangbuch vor Ihnen auf der Bank oder Ihren Nachbarn neben sich sitzen sehen. Es geht weniger um das „Sehen“ als um das „Erkennen“. Dieses Erkennen ist eine Art „Sehen-wollen“. Stephanus blickt zum Himmel empor, er sieht den Himmel, aber er erkennt die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Seine Feinde können maximal den Himmel sehen, aber nichts darin erkennen.
Das ist die Grundstruktur unseres Glaubens: Wir sehen, was ist – wenn Sie über die Einkaufsstraße gehen oder mit der Straßenbahn fahren, sehen Sie Hunderte von Menschen. Völlig beziehungslos laufen Sie aneinander vorbei. Aber erst, wenn Augen mich ansehen, wo Augen sich treffen, entstehe ich, entstehst Du, entsteht ein Wir.
Das ist das Geheimnis der Freundschaft, auch der Partnerschaft: Zwei, die sich irgendwie begegnen, die sich anschauen, die zueinander finden und dann als ein „Wir“ auftreten. Sie können niemals den Freund oder die Partnerin „sehen“, sie können aber immer wieder neu den Freund oder die Partnerin „erkennen“ – in den Worten von Hilde Domin: „Wo Augen Dich ansehn, entstehst Du.“
Stephanus „sieht“ den Himmel offen
Dasselbe geschieht dem Stephanus in der Lesung. Wenn er „den Himmel offen sieht“ und wenn er „Jesus zur Rechten Gottes sieht“, ist es genau dieses Sehen, das eigentlich ein Erkennen meint. Nur die können es sehen, die es zuerst erkennen wollen. Im Hebräerbrief beginnt das 11. Kapitel mit den Worten „Glaube aber ist: Grundlage dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man nicht sieht.“ In einer alten Übersetzung heißt es: „Glaube ist Feststehen in dem, was man erhofft; Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.“ Man sagt, Stephanus sei der erste Märtyrer, der erste Glaubenszeuge, der sein Leben lassen musste. Ich glaube, dass ist die Art von Zeugnis, auf der es heute in der Kirche am meisten ankommt. Nicht das Weitergeben einer Lehre, die im Katechismus festgeschrieben ist; auch nicht das Anleiten zu frommen Übungen, Stundengebet, Rosenkranz, Andachten oder sonstigen Vorschriften und Verboten aus der christlichen Frömmigkeit; sondern das tiefere Sehen, das zu einem Erkennen führt, das Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht, aber erkennt, und das Feststehen in dem, was man für sich und für die anderen erhofft.
Hilde Domins Gedicht gilt für Stephanus: „Du fielest, aber du fällst nicht, Augen fangen dich auf. Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und dir sagen, dass es dich gibt.“
Ich wünsche Ihnen solche Augen-Blicke, die Sie auffangen, wenn Sie fallen, solche Augen-Blicke, die Sie wollen, die Sie ansehen, und die Ihnen sagen: Du bist, es gibt dich – und das ist gut so.
Erinnern Sie die Vertellis-Karte am Beginn der Predigt? „Wann haben Sie im vergangenen Jahr den Himmel offen gesehen? Wann haben Sie im vergangenen Jahr Jesus zur Rechten Gottes stehen gesehen, wann haben Sie Jesus gesehen?“ Merken Sie’s? Die Fragen sind falsch. Sie müssten lauten: Wann haben Sie im letzten Jahr den offenen Himmel erkannt? Wann haben Sie im letzten Jahr Jesus erkannt? Nehmen Sie Frage einfach mit ins neue Jahr. Das kann man einüben: „Dein Ort ist, wo Augen dich ansehen. Wo sich die Augen treffen, entstehst Du.“ Den offenen Himmel erkennen, Jesus erkennen in dem, was ich sehe und was sich mir zeigt, in denen um mich herum, in mir selbst – das hat mit Menschwerdung zu tun. Wo das Ansehen stimmt, wo der Blick ausgehalten wird, wo sich Augen treffen, da entstehst Du.
Amen.
Köln, 26.12.2019
Harald Klein