Goethes „Gretchenfrage“ nach der Religion
Die Literaturwissenschaft kennt viele Gattungen und hat ihnen Namen gegeben. Manche sind alltäglich geworden. Jeder von Ihnen kann ein Gedicht von einem Roman und ein Drama von einer Komödie unterscheiden. Eine Gattung, die eher am Rande vorkommt, ist die sogenannte „Gretchenfrage“. In dieser Literaturgattung geht es um eine Frage an ein Gegenüber. Die Frage zielt auf den Kern eines Problems. Deren Beantwortung soll die Gesinnung des Gefragten aufdecken. Meist sind das unangenehme Fragen, die zu einem Bekenntnis bewegen sollen, das bisher noch nicht abgegeben wurde.
Die Mutter der Gattung der Gretchenfrage ist natürlich ein Gretchen, besser: ist Margarethe in Goethes „Faust I“. Goethes Held, Heinrich Faust, umwirbt dieses junge Mädchen, ihm gelingt ein Kuss, Gretchen weicht zurück und fragt ihn: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust, der im Pakt mit Mephisto steht, weicht der Frage aus, und Gretchen erkennt: „Denn du hast kein Christentum.“
Goethes „Gretchenfrage“ nach der Eucharistie
Man muss nicht Goethe sein, oder ein Faust oder ein Gretchen, um sich diese Frage zu stellen und um wenigstens sich selbst Rechenschaft zu geben. Ich möchte Gretchens bzw. Goethes Frage heute an Fronleichnam aber einmal abwandeln: „Nun sag, wie hast Du’s mit der Eucharistie?“ Ich glaube, je nachdem, ob Sie mehr ein religiöser Mensch sind, mehr ein frommerMensch oder mehr ein spiritueller Mensch, kann ihre Antwort ganz anders aussehen.
Der religiöse Mensch und die Eucharistie
Der religiöse Mensch ist ganz zu Hause in der Lehre der Kirche und findet darin Halt. Eucharistie heißt für ihn die Übernahme der Lehre von der Vergegenwärtigung des letzten Abendmahls Jesu. Brot und Wein stehen für Wachstum, das Gott schenkt, und für die Arbeit des Menschen, der aus dem Gewachsenen etwas Lebensnotwendiges oder Lebenserheiterndes schafft. Dazu kommt dann die Wandlung der Substanz, Thomas von Aquin nennt das im 13. Jahrhundert „Transsubstantiation“, eine Denkweise, so heißt es in der Dogmatik, die „angemessen“ beschreibt (nicht: die sagt, was ist!), was in der Wandlung geschieht. Im Brot, im Wein ist Gott ganz gegenwärtig, so lehrt es die Kirche, das Sakrament des Altares ist Unterpfand der Gegenwart Gottes mitten unter den Menschen.
Wenn es eine Pfeilrichtung im Dreieck „lehrende Kirche“ – „gelehrter Inhalt“ – „Christ“ gibt, dann geht der Pfeil einmal von den Lehrenden aus und zeigt auf die Lehre von der Eucharistie, ein zweiter Pfeil geht auf den Christen und verweist ihn auf den Inhalt der Lehre hin, und ein dritter Pfeil geht vom Christen zum gelehrten Inhalt aus und besagt: „Daran glaube, daran erfreue ich mich, so ist es!“ – oder wenigstens: „So soll es sein!“
Der fromme Mensch und die Eucharistie
Der fromme Mensch ist ganz zu Hause in den Riten und Gebräuchen seiner Religion. Eucharistie bedeutet hier besonders und beinahe ausschließlich die Feier der Messe, der fromme Mensch kann „Eucharistie“ und „Messe“ austauschen, sie bezeichnen ihm das Gleiche. In der gläubigen Annahme – das Wort ist doppeldeutig! – der Gegenwart, der Präsenz, der Anwesenheit Jesu in Brot und im Wein sucht der fromme Mensch genau diese Gegenwart. Sie kennen die Antwort des hl Pfarrers von Ars auf die Frage, was er eigentlich bei der Anbetung tue? Jean Marie Vianney antwortet: „Ich schaue ihn an, und er schaut mich an.“ Die Prozession mit dem Allerheiligsten an Fronleichnam gehört hier hinein. Katholiken zeigen der Welt, hinter wem sie her sind oder wer ihnen vorangeht. Und betend hofft man an diesem Tag darauf, dass etwas von der Präsenz Christi auf dem Prozessionsweg und bei den Menschen, die dort wohnen, hängen bleibt. Ob es die Messfeier ist oder die Eucharistische Anbetung oder die Prozession, der fromme Mensch kennt die Riten und Gebräuche, die Gebete in der Messe – und die Messe strukturiert ihm den Sonntag, vielleiht sogar die Woche. Er fühlt sich dem gegenwärtigen Herrn in der Eucharistie nahe.
Wenn Sie das Dreieck „lehrende Kirche“ – „gelehrter Inhalt“ – „Christ“ anschauen, so sind die Pfeile da anders. Der fromme Mensch fragt nicht so sehr nach den Lehrenden, ihm ist klar: Donnerstag in der Woche nach Pfingsten ist Fronleichnam, ist Prozession und Eucharistischer Segen, und die Lieder dieses Hochfestes singen sich gut. Ein Pfeil geht vom Christen zum Vollzug (nicht so sehr zum Inhalt) des Festes; zwischen Lehrenden und Christen ist kaum ein Pfeil, kaum ein Impuls zu spüren, und der Pfeil, der von den Lehrenden auf den Inhalt des Festes geht, ist derselbe wie beim religiösen Menschen.
Der spirituelle Mensch und die Eucharistie
Der spirituelle Mensch ist zu Hause in der Suche nach einem Geist, mit dem er sein alltägliches Leben gestalten kann, in dem er Antwort geben kann auf die Fragen, die an ihn gestellt werden, seien es persönliche oder seien es gesellschaftliche Fragen. Er müht sich um ein Wachstum, um ein mehr an Menschlichkeit in seinem Verhalten, und er nimmt als Christ in all dem Maß an Jesus Christus, an seinem Wort und seiner Botschaft, an seien Geschick, seinem Sterben und Auferstehen. Alles, was dem dient, ist dem spirituellen Menschen ein Geschenk. Sofern die Lehre der Religion und das Brauchtum der Frömmigkeit ihm in seinem spirituellen Leben unterstützen, kann er dabeibleiben. Er kann beides hinter sich lassen, wenn es eher hinderlich ist, ohne dass er an Spiritualität verliert. Die Richtungen der Pfeile zwischen „Lehrende“, „Inhalt“ und „Christ“ sind ihm erst einmal ziemlich gleichgültig, Ers geht über diesen „Richtungsangaben zum Christsein“.
Ärgern wird ihn, dass der Begriff „Eucharistie“, der ja „Danksagung“ meint, im Katholischen ausschließlich für die Feier der Messe reserviert und vorgesehen ist. Das ist ihm zu eng. Ist es denn nur „Eucharistie“, also Danksagung, wenn heute – ach nein, in diesem Jahr ist ja verboten -, also: wenn sonst an Fronleichnam Männer und Frauen mit Blaskapellen, fromme Lieder singend, hinter einem Pfarrer herlaufen, der unter einem „Himmel“ die Monstranz trägt? Ist es nicht auch „Eucharistie“, also Danksagung, wenn wir heute Nachmittag zu fünft wandernd unterwegs sind, und wenn ich Menschen um mich habe, für die ich bei jedem Einzelnen Gott Dank sagen kann dafür, dass wir uns haben und in Gefährtenschaft miteinander und füreinander leben? Tut das der „Eucharistie“ im Sinne der Gelehrten denn Abbruch? Ist es nicht Grund zur Danksagung, ist es nicht „Eucharistie“, dass nebenan ich weiß nicht wie viele Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger sich um die Gesundheit der Menschen in unserem Veedel sorgen? Ist es nicht Danksagung, ist es nicht „Eucharistie“, wenn Sie oder wenn ich mich abends dankbar ins Bett legen und ruhig einschlafen kann, trotz manchem Schweren, aber auch in der Kraft, da zu sein und bestehen zu können.
Wenn ich es recht überlege, gibt es beim spirituellen Menschen doch einige Pfeile, die vielleicht bei den andren beide etwas zu kurz kommen. Ich glaube, vom spirituellen Menschen geht ein Pfeil auf die „Lehrenden“, und denen sagen sie: „Ihr mögt Recht haben mit dem, was ihr lehrt. Aber lasst Euch sagen, dass es mehr gibt, und dass es Menschen gibt, die woanders das finden und entdecken, was Ihr uns hier lehren oder sogar nehmen wollt.“ Und ich glaube, dass vom spirituellen Menschen ein Pfeil auf den Inhalt, auf die Eucharistie hin geht, der besagt: „Ich bin dankbar um Dich“ oder auch „Ich versteh Dich nicht, aber das, was man von dir sagt, finde ich hier. Ich danke Dir für die Vielfalt, in der Du Dich mir zeigst.“
Die Gretchenfrage des Fronleichnamsfestes: Wie hast Du’s mit der Eucharistie? Ein wenig anders: Wofür, auf welche Weise, für wen, wann bist Du dankbar, Jesus gegenüber, aber auch den Gefährtinnen und Gefährten?
Bei einem „eucharistischen Leben“ geht es auch um die Mitfeier der Messe, aber vielmehr geht es um die Einübung der Dankbarkeit für das Leben und für alles Lebendige.
Wenn am Ende des Tages steht: „Ich danke Dir für…“ – dann ist das nicht nur „auch“ Eucharistie“, sondern dann ist „gerade das“ Eucharistie.
Amen.
Köln, 10.06.2020
Harald Klein