Fronleichnam – Vom Verschwinden der Rituale, oder: Ihr seid der Leib Christi

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Fronleichnam – oder: Wer zeigt wem was?

„Fünf Tage nach dem Oktavtag von Pfingsten…“ – seit ich ein kleiner Junge war, kann ich mich an diesen außergewöhnlichen Tag erinnern: Befreundete Familien legten Blumenaltäre vor die drei Kreuze und den Dorfbrunnen in meiner Heimatgemeinde. Blasmusik im Gottesdienst und dann zur Prozession, die Kommunionkinder nochmal in kindlichem Anzug und Kommunionkleid, manchmal Kinder, denen schlecht wurde – nüchtern unterwegs und dann in Junihitze, der „Himmel“, den junge Männer aus den Dorfvereinen trugen und unter dem der Priester die Monstranz mit der großen Brothostie mit eingehüllten Händen trug. Aber auch jedes Jahr die Frage, mit der Blasmusik singen oder doch nach der Blasmusik…

In der Studienzeit in Innsbruck kamen dann zu all dem noch die Böllerschüsse von den Bergen herab dazu, es wurde streng nach Ständen in der Prozession gegangen, nicht nur Blasmusik – Kinder – Himmel – Erwachsene; in Tirol wurde dazu noch unterschieden nach „Jungmännern“ und „Jungfrauen“, dann die „Erwachsenen“.

Hier wie dort war allen klar: Nach dem Gottesdienst, nach der Prozession und der Rückkehr zum wiederholten Eucharistischen Segen in der Kirche geht es endlich ab ins Wirtshaus.

Schauen Sie doch mal auf Ihre eigenen Erinnerungen an das Fronleichnamsfest, auf Ihre Teilnahme an der Prozession oder am Wahrnehmen dessen, wie Menschen da unterwegs sind, in Köln etwa bei der Mülheimer Gottestracht der der Prozession um den Kölner Dom, die farbenfroh die Gemeinden anderer Muttersprache auszeichnen.

Und dann gehen Sie mal ein wenig reflexiv an dieses Fest, dessen Ursprung, Aussagekraft und Widersprüchlichkeit wunderbar im Wikipedia-Artikel erklärt wird. Mir stellt sich die die Frage: Wer zeigt hier wem was?

Kurz: Geht es – ähnlich wie bei der Flurprozession – darum, Christus im Zeichen des Brotes in die Welt zu tragen, im Sinne von: „Schau, für all das erbitten wir Deinen Segen?“ Geht es darum, den nur lau oder wenig Glaubenden zu zeigen: „Schaut, das ist unser und allemal auch Euer Gott!“ Geht es darum, vor den Nicht- oder Andersglaubenden ein Bekenntnis abzulegen: „Seht, das ist unser Gott!“ Oder geht es schlicht in der Wiederholung des Althergebrachten um eine Unterteilung der Zeit, um einen jahreskreislichen Pflock, der in den Ablauf des ewig Gleichen, des seriellenZeitempfindens gehauen wird? Vielleicht findet sich geschichtlich und örtlich, historisch und lokal von all dem ein wenig, mal mehr, mal weniger.

» Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht. Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung. «
Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 9.

Fronleichnam als Ritual[1]

Ohne als Kind über die Bewegungsabläufe in Gottesdienst oder Prozession reflektiert zu haben, wusste ich doch, was wann zu geschehen hatte. Ich hatte die Bewegungen und die Rituale im Nachahmen und im Mitmachen gelernt, später auch ein wenig durch Reflexion auf die Abläufe. Heute lasse ich mir gerne sagen: „Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht. Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung.“[2]

Was für ein Satz: Rituale bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor! Ich muss den Satz verstehen wollen – in den Fünf Axiomen von Paul Watzlawick über menschliche Kommunikation lautet das erste: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“[3] Das Zusammenkommen zum Gottesdienst (nicht nur) an Fronleichnam und zur Fronleichnamsprozession hat (besser: hatte einmal) etwas mit Werten und Ordnungen zu tun, die eine Gemeinschaft katholischer Christen trägt. Da brauchte es – um „Kommunikation“ so zu verstehen – kein Wort, keinen Handschlag, nicht mal einen Blick untereinander. Man war halt da, man war halt dabei.

Diese Kraft der Rituale ist verloren gegangen, vielleicht auch nur verschoben. Die von Byung-Chul Han beschriebenen „symbolischen Wahrnehmung“ in vielen Vollzügen des Lebens ist Gegenstand mancher religiösen Sehnsucht, doch auf die alten Rituale der Kirche wird sie kaum noch angewendet.  Die Rituale der Kirche und des Glaubens führen vielleicht noch Splittergruppen in den Pfarreien zusammen, von darauf aufbauender Gemeinschaftsbildung kann aber redlicherweise keine Rede mehr sein – und Sie finden so vielerorts in vielen Kirchengemeinden und -kreisen daher oft genug Kommunikation ohne Gemeinschaft vor.[4] Die alten Rituale und deren Kraft sind im Verschwinden, wenn nicht gar schon verschwunden. Fronleichnam wird zum Ausflugsort, zum Fotomotiv, zum Anlass des Staunens oder des Kopfschüttelns – in Köln und Mülheim sind vermutlich mehr Touristen um die Domplatte oder das Rheinufer herum als im Dom oder auf den Schiffen.

» Der Zeit fehlt heute ein festes Gefüge. Sie ist kein Haus, sondern ein unbeständiger Fluss. Sie zerfällt zur bloßen Abfolge punktueller Gegenwart. Sie stürzt fort. Nichts gibt ihr einen Halt. Die fortstürzende Zeit ist nicht bewohnbar. «
Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 11.

Die symbolische Wahrnehmung verdunstet

Wenn die Rituale einer Religion ihre Kraft als „symbolische Techniken der Einhausung“ verlieren und nicht mehr die Kraft haben, das „In-der-Welt-sein“ zu einem „Zu-Hause-sein“ zu verwandeln, wenn sie aus der Zeit nicht mehr das machen können, was „im Raum eine Wohnung ist“, wenn sie die Zeit nicht mehr ordnen können, fehlt dem Leben ein Gefüge.[5]

Ich denke an den ehemaligen Limburger Bischof Franz Kamphaus, einen großartigen Prediger. Eines seiner beliebten Wortspiele war “Hinter Christus her“[6], als Umschreibung für jede Prozession, für jede Wallfahrt, für jegliche Lebensführung als Christ oder als Christin. Die symbolische Wahrnehmung dieses „Hinter Christus her“ mit Monstranz, Himmel, Blasmusik und Eucharistischem Segen verdunstet, verschwindet. Was jetzt?

» Meine These ist, dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung. Weil die Modi der Welterfahrung und Weltaneignung aber niemals einfach individuell bestimmt werden, sondern immer sozioökonomisch und soziokulturell vermittelt sind, nenne ich das Vorhaben, das ich in diesem Buch ausarbeiten möchte, eine Soziologie der Weltbeziehung. Die zentrale Frage, was ein gutes von einem weniger guten Leben unterscheidet, lässt sich dann übersetzen in die Frage nach dem Unterschied zwischen gelingenden und misslingenden Weltbeziehungen. Wann gelingt Leben, wann misslingt es, wenn wir es nicht an Ressourcen und Optionen messen wollen? «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 19f..

Die symbolische Wahrnehmung – des Menschen eben!

Vielleicht ist die Eingangsfrage nach dem „Wer zeigt wem was?“ aktueller und hilfreicher, als es auf den ersten Blick aussieht. Ich bedaure sehr, dass alle drei liturgischen Texte für den Gottesdienst an diesem Tag den Scherpunkt auf „Eucharistie“ legen – den Besucherinnen und Besuchern des Gottesdiensts wird des Priesters Melchisedeks Gabe von Brot und Wein für Abram (Gen 14,18-20) vorgetragen, dann folgen die sog. paulinischen „Einsetzungsworte“ des Abendmahls (1 Kor 11,23-26) und das Evangelium von der Brotvermehrung (Lk 9,11b-17). Alles dreht sich um das „Brot vom Himmel“, aus dem die Theologie dann den „Leib Christi“ gemacht haben.

Wie anders wäre es, wenn z.B. 1 Kor 12,12-27 gelesen würde. Der letzte Vers wäre dann: „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm.“

Es kann sein, dass dieses Verdunsten und Verschwinden der Rituale mit dem zusammenhängen, was der Soziologe Hartmut Rosa Verlust von „Weltbeziehung“ und „Weltaneignung“ nennt. Er schreibt in der Einführung seines Buches „Resonanz“: „Meine These ist, dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung. Weil die Modi der Welterfahrung und Weltaneignung aber niemals einfach individuell bestimmt werden, sondern immer sozioökonomisch und soziokulturell vermittelt sind, nenne ich das Vorhaben, das ich in diesem Buch ausarbeiten möchte, eine Soziologie der Weltbeziehung. Die zentrale Frage, was ein gutes von einem weniger guten Leben unterscheidet, lässt sich dann übersetzen in die Frage nach dem Unterschied zwischen gelingenden und misslingenden Weltbeziehungen. Wann gelingt Leben, wann misslingt es, wenn wir es nicht an Ressourcen und Optionen messen wollen?“[7]

Was wäre das für ein Fest, wenn Leben mehr und mehr Prozession wäre, wenn nicht (zumindest nicht nur) der „Leib des Herrn“ eher unerkannt und ungekannt in einer Monstranz durch den Ort, das Viertel, die Stadt, die Welt getragen würde, sondern wenn ich mich, wenn Sie sich als Teil des „Leibes Christi“ verstehen würden, der selbst geht? Wenn Weltaneignung und Weltbeziehung gelingen und wenn nicht Ressourcen und Optionen, sondern der Geist Christi zur Messlatte eines guten und gelingenden Lebens würden? Es genügte dann, wenn ich, wenn Sie diese „symbolische Wahrnehmung“ des Lebens hätten. Die muss man nicht hochhalten und zeigen, die wird so erkannt! Da spielte Gemeinschaft ohne Kommunikation eine größere Rolle als Kommunikation ohne Gemeinschaft; da könnte sich das bloße In-der-Welt-sein zu einem Zu-Hause-sein entwickeln, da könnte die Zeit bewohnbar werden.

Wer zeigt wem was? – so lautete die Eingangsfrage. Da gibt es meinen Blick auf Christus, der mir zeigt und mich mich lehrt, und auf Menschen, die von ihm gelernt haben und mich lehren können. Und dann gibt es mich und neben mir einige, die ich habe finden dürfen, deren Weltbeziehung und Weltaneignung so ist, dass ich eine Ahnung vom guten Leben bekomme. Das geht auch ohne Kirche – was auch immer man darunter versteht -, aber in der Kirche Jesu Christi muss es gehen!

Nicht Christus in einer Monstranz tragen und gehen, sondern gehen und ihn in sich tragen! Für den einen oder die andere mag „Weltbeziehung“ und „Weltaneignung“ genügen; wem die „symbolische Wahrnehmung des Menschen“ lieb und wichtig, dem biete ich einen Vers aus einem Pfingstlied an: „Da schreitet Christus durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid, Gott lobend. Halleluja.“

Köln 15.06.2022
Harald Klein

[1] Ich beziehe mich in dieser Predigt u.a. auf den Essayband von Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, den ich sehr empfehle, um die Krise der Kirche in der Gegenwart von einem außergewöhnlichen Standpunkt, dem Verschwinden der Rituale eben, zu verstehen.

[2] Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 9.

[3] Vgl. [online] https://www.paulwatzlawick.de/axiome.html [15.06.2022]

[4] Die Artikel auf www.katholisch.de geben davon Tag für Tag Zeugnis!

[5] Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 10.

[6] vgl. Kamphaus, Franz (2001): Lichtblicke. Jahreslesebuch, Freiburg, 171-202.

[7] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie einer Weltbeziehung, Berlin, 19f.