Fünfter Fastensonntag: Die Gräber – offen

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Der kleine Unterschied

Der Sonntag heute ist voll von Angeboten, Impulsen, Bildern, die alle auf Ostern hindeuten.

Nehmen Sie das Evangelium von der Auferweckung des Lazarus – für mich eines meiner liebsten Evangelien, schildert es doch, wie Jesus sich von der Trauer Marthas und Marias anstecken lässt und weint; das kommt nur noch ein zweites Mal in den Evangelien vor, in Lk 19,41-44, als Jesus am Ölberg sitzt und über die Stadt Jerusalem weint, die nicht erkannt hat, was ihr um Frieden dient. Und schildert es doch die Binden, die den Lazarus im Grab gefangen halten und die ihm abgenommen werden müssen, damit er gehen kann.

Oder nehmen Sie die Aussage in der Lesung aus dem Römerbrief: „Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm.“ Da geht es nicht um die richtige Konfession, um Kirchenzugehörigkeit und noch nicht mal um die „richtige“ Religionszugehörigkeit. Da geht es darum, den Geist Christi in sich wohnen zu lassen, ihm Raum zu geben – damit man das Leben hat und damit man das Leben weitergibt. Im Umkehrschluss: Wo Menschen lebendig sind, Leben haben, Leben weitergeben, für das Leben sorgen – in ihnen wohnt der Geist Christi. Das macht weit im Denken und im miteinander umgehen!

Aber mich ein wenig auslassen möchte ich mich über den Zuspruch Gottes bei im 37. Kapitel des Ezechiel: „So spricht Gott, der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk aus euren Gräbern herauf.“ Ganz nah an Ostern! Eine der Osternacht-Lesungen ist aus dem Kapitel vorher, aus Ez 36. Hier geht es darum, dass Gott reines Wasser über sein Volk gießt, dann wird es rein. Und dass er allen ein neues Herz und einen neuen Geist geben will, dass er das Herz aus Stein beseitigen und ihnen, uns ein Herz aus Fleisch geben will. Und schließlich, dass er seinen Geist in unser Inneres legen will – Sie kennen den Text sicher, und Sie hören den paulinischen Text oben im Römerbrief!

Aber so weit sind wir noch nicht. Noch ist nicht Ostern, und es gibt einen kleinen Unterschied! Ostern erzählt nicht vom zu öffnendem Grabe, Ostern erzählt vom offenen, vom leeren Grab. Wir stehen nicht am leeren Grab Jesu, sondern an dem zu öffnenden Grab des Lazarus. Da möchte ich mit Ihnen mal hinschauen, auf die Zusage Ezechiels – und ich nehme sie mal in der Du-Form, nicht in der Ihr-Form: „Ich öffne dein Grab und hole dich aus deinem Grab herauf.“ Wie mag dieser Satz für Sie klingen?

Im Grab leben?

„Ich hole dich aus deinem Grab hinaus“ – das kann zweifach verstanden werden: zum einen, dass ich schon tot bin – wie der Lazarus, der schon riecht. Oder dass ich wie im Grab lebe, dass mein Leben mehr tot als lebendig ist. Der erste Impuls könnte sein: „Ich lebe noch, und ich lebe nicht im Grab.“ Oder: „ich bin noch da – später mag der Herr mir das Grab öffnen.“ Und doch, auch das kenne ich: „Manchmal komm ich mir schon verloren vor, wie gelähmt, da wäre es gut, wenn einer mich heraus- und heraufrufen würde aus dem Elend.“ Die Sprache verrät uns. Da kann es schon mal sein, das einer für mich jetzt endgültig gestorben ist. Oder dass mir das Wasser bis zum Halse steht. Oder dass ich vor allen Sorgen untergehe, wie gelähmt bin, mir die Luft wegbleibt. Das ist dann ein Leben in den „kleinen“ Gräbern der Jetzt-Zeit!

Im Rückblick die Gräber aufdecken…

Es wäre mir zu billig, diese große Heilszusage Gottes des „Ich öffne deine Gräber und rufe dich herauf“ auf dieses „Jammern auf hohem Niveau“ zu beziehen, auch wenn all diese Ereignisse zumindest zeitweise wirklich belastend sein können. Es muss um mehr gehen.

In dieser Woche habe ich in einem Artikel von Matthias Horx, einem Zukunftsforscher, über die Zeit nach Corona, einen Begriff kennen gelernt, der mir neu war. Die Frage: „Wie wird es sein nach Corona?“ Aber anstelle einer Prognose, eines Blickes von der Gegenwart in die Zukunft, spricht Horx von einer Regnose, von einem Blick aus der Zukunft zurück auf die Gegenwart. Horx nennt das ein „Von-Vorne-Szenario“. [1] In diesem Artikel mache ich eine Anleihe und übernehme das Bild vom Straßencafé, in ich im September 2020 sitze und auf das Frühjahr zurückschaue, in dem mir – und jetzt geht es aus dem Artikel heraus – Gott mein Grab geöffnet und mich ins Leben geführt hat. Was ist da passiert? Das wäre etwas für diesen Sonntag, genau mit dieser Frage umzugehen. In sechs Monaten schauen Sie auf Ihr Leben zurück, fühlen sich sehr lebendig, aus dem Grab herausgerufen – was ist da passiert?

… heraufgeführt leben

Das wäre eine Buße, wie Sie kurz vor Ostern dem Herrn – und Ihnen, und mir – angemessen ist. Auf das schauen, was Sie, was mich am Leben hindert. Mit der Frage umzugehen, die in der Systemischen Beratung die „Wunderfrage“ heißt: „Angenommen, im September 2020 wäre das alles nicht mehr, was ist geschehen, dass Leben jetzt so anders, jenseits des Grabes, geschieht? Was davon ist mein eigener Beitrag, und um was möchte ich, möchten Sie Gott bitten? Es bei und mit dieser Frage einmal aushalten, einen Tag lang, und schauen, was passiert. Im besten Fall hören Sie auf sich gemünzt den Ruf Jesu: „Lazarus, komm heraus.“ Und auch sein „Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen.“

Er steht parat, heute, seien Sie gewiss: „So spricht Gott, der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk aus euren Gräbern herauf.“ Das wäre eine gute Bußübung: Mich heraufführen lassen, und heraufgeführt leben.

Köln, 30.03.2020
Harald Klein

[1]  Vgl. Horx, Matthias (2020): Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise vorbei ist [online] https://www.diezukunftnachcorona.com/die-welt-nach-corona/ [28.03.2020]