05. Sonntag der Osterzeit – Orte der Fruchtbarkeit, oder: Draußen vor der Tür IV

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
  • –   
  • –   

„Ein Mann kommt nach Deutschland…“

„Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und abends auch manchmal die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld musste er mit seiner Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause. Ein Mann kommt nach Deutschland…“[1]

In seinem „Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“ – so Borcherts Untertitel zu „Draußen vor der Tür“ – stehen diese Zeilen gleich nach der Aufzählung der mitspielenden Personen, sie leiten und läuten die Handlung ein, ignatianisch gesehen könnte man sagen, Borchert bereitet die Bühne.

Das Vorspiel zwischen Leben und Tod

Im Vorspiel des Stückes – ob es eine Anlehnung an Goethes „Faust“ ist? – begegnen sich der Beerdigungsunternehmer, der sich als der Tod zu erkennen gibt, ständig rülpsend, weil er so überfressen an Leichen ist, und der alte, traurige Mann, Gott selbst, „der Gott, an den keiner mehr glaubt“[2], der über „seine Kinder“ weint, die sich erschießen, erhängen, ersaufen, sich zu Hunderten und Tausenden umbringen, und er kann es nicht ändern. „Na, dann gute Nacht, Alter. Geh schlafen. Pass auf, dass du nicht auch noch ins Wasser fällst. […] Du änderst ja doch nichts“[3], so verabschiedet der Tod den alten, traurigen Gott. Und Gott geht.

Anschließend schildert Borchert einen Traum, in dem Beckmann sich in diesem leeren, abweisenden, heimatlosen Deutschland, in das er gekommen ist, den Freitod in der Elbe sucht. Des Lebens müde, geht er in die Fluten. Die personifizierte Elbe geht hart mit ihm ins Gericht. Ob er auskneifen wolle, ob er wirklich meine, er könne es nicht mehr aushalten, er sei eine Rotznase von einem Selbstmörder – und sie speit ihn in Blankenese wieder an Land, gibt ihm den Rat mit: „Auch wenn du sechs Jahre Soldat warst. Alle waren das. Und die hinken alle irgendwo. Such dir ein anderes Bett, wenn deins besetzt ist. Ich will dein armseliges bisschen Leben nicht. Du bist mir zu wenig, mein Junge. Lass dir das von einer alten Frau sagen: Lebe erst mal. Lass dich treten. Tritt wieder! Wenn du den Kanal voll hast, bis oben, wenn du lahmgestrampelt bist und wenn dein Herz auf allen vieren angekrochen kommt, dann können wir mal wieder über die Sache reden. Aber jetzt machst du keinen Unsinn, klar? Und jetzt verschwindest du hier, mein Goldjunge. Deine kleine Handvoll Leben ist mir verdammt zu wenig. Behalt sie, ich will sie nicht.“[4]

» Sich selbst in seiner Eigenart zu tragen und zu ertragen, sich selbst in seinen mühsamen Seiten auszuhalten, das wird hier als Sisyphosarbeit bezeichnet. «
Kast, Verena (2019): Sisyphos. Altes loslassen und neue Wege gehen. Ostfildern, 24.

Beckmanns Suche nach einer Bleibe

Mit dem Liegen am Elbstrand beginnt die erste Szene, die erste Suche nach einer Bleibe – bei einem Mädchen, das Beckmann wegen seiner nassen Kleidung nur mit „Fisch“ anredet. Ihre Sehnsucht wird in der zweiten Szene deutlich – sie sehnt sich nach Liebe, nach Geliebtwerden, und der „Fisch“ mit der Gasmaskenbrille und der Bürstenfrisur in seiner nassen Kleidung ist austauschbar, namenslos, wesenlos, dient dem Zweck, mehr nicht. Als dann der Einbeinige, ihr Mann, der tausend Nächte von ihr träumte, aus russischer Gefangenschaft just jetzt nach Hause kommt und Beckmann in seinem Zeug, in seinem Bett, bei seiner Frau findet, ist es die Fortsetzung dessen, was Beckmann abends zuvor erlebt hat – beim Gang in seine Wohnung, wo seine Frau mit einem anderen Mann lag. Und noch eines drauf: der einbeinige Rückkehrer kennt Beckmann aus der gemeinsamen Armeezeit. Er nennt ihn vorwurfsvoll einige Male beim Namen, und Beckmann schreit auf: „Das bin ich nicht! Das will ich nicht mehr sein! Ich will nicht mehr Beckmann sein.“[5]

» Der Mensch ist dort zu Hause, wo sein Herz ist, nicht dort, wo sein Körper ist. «
Gandhi, Arun (2019): Sanftmut kann die Welt erschüttern, Köln 111.

Das ist nur der Anfang, das ist Beckmann auf der Suche nach einer Bleibe, nach einem Bleiben. Die Elbe hat ihn ausgespien, seine Frau teilt nach sechs Jahren Krieg die Wohnung mit einem anderen, beim Mädchen kann er nicht bleiben, du in sich selbst ist er auch nicht mehr zu Hause. Man könnte, ein wenig „Moralin“ verspritzend, auf die Lage vieler Menschen mit Migrationshintergrund hinweisen. Muss man gar nicht. Es genügt, mit Blick auf vielerlei postmoderner Lebensentwürfe festzustellen, dass es eine der Grundübel der Menschen von heute und in unseren Breiten ist, sich schlicht austauschbar, heimatlos, namenlos, nicht gesehen zu fühlen. Wie ist das bei Ihnen: die Suche nach einer Bleibe, und die Suche nach einem Bleiben? Können Sie sich Orte vor Augenführen, Namen nennen, Menschen nahe um sich spüren?

Der Zusammenhang von Bleiben und Frucht bringen

Auf diesem Hintergrund höre ich Jesu Wort: „Bleibt in mir, dann bleibe ich in Euch.“ Wer mag, kann dieses Evangelium missionarisch hören – es geht darum, an Jesus dran zu bleiben, in Jesus zu sein, sich geborgen zu fühlen bei ihm und bei Gott. Ich ziehe es vor, es menschlich zu hören – zu bleiben, ich bei Dir, Du bei mir, wir im Kreis der Gefährtinnen und Gefährten, der Familie. Das Schicksal des Heimkehrers Beckmann öffnet mir tief dankbar den Zugang zum großen Geschenk des „Bleibens“, des Wissens wohin und vor allem zu wem ich gehöre, und wer zu mir gehört. Daran hängt auch das Bild vom Wachstum und von der Fruchtbarkeit. Nur wer eine „Bleibe“ hat, in sich, in anderen, vielleicht auch in Gott, kann letztlich reiche Frucht tragen.

» Wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. «
Papst Franziskus (2020): Enzyklika "Fratelli tutti", Nr. 27.

Wo ist Ihr „Deutschland“?

Noch einmal Borchert, das Ende der „Auftretenden Personen“: „Ein Mann kommt nach Deutschland. Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muss sich während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Aber dann sieht er, dass es rechts und links neben ihm noch mehr Leute gibt, die alle dasselbe erleben. Und er denkt, dass es dann doch wohl die Wahrheit sein muss. Ja, und als er dann am Schluss mit leerem Magen und kalten Füßen auf der Straße steht, merkt er, dass es eigentlich nur ein ganz alltäglicher Film war, ein ganz alltäglicher Film. Von einem Mann, der nach Deutschland kommt, einer von denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße. Das ist ihr Deutschland.“[6]

Was bietet dieser Sonntag in der Osterzeit an? Vielleicht das Gefühl von Dankbarkeit für die, die Ihnen eine Bleibe anbieten, bei denen Sie bleiben dürfen, eine Dankbarkeit für die, die bei Ihnen bleiben, die mit Ihnen und für die Sie fruchtbar leben dürfen. Genießen Sie dieses gemeinsame „Bleiben“, und teilen Sie diese „Orte der Fruchtbarkeit“ – gerade mit denen draußen vor der Tür.

Amen.

Köln, 01.05.2021
Harald Klein

[1] Borchert, Wolfgang (2018): Draußen vor der Tür, als E-Book hrsg. von Gerald Hermann Monnheim, veröffentlich bei Epubli, 3f.

[2] a.a.O., 7.

[3] a.a.O., 8.

[4] a.a.O., 10f.

[5] a.a.O., 19.

[6] a.a.O., 4f.