Gebetshilfen aus der Schrift – Dem maßlosen Jesus begegnen

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Am Leben bleiben

Das Jahresthema unseres Werkheftes folgt dem des vergangenen Jahres: Klimawandel. Angesichts des Klimawandels – in der Gesellschaft, in der Kirche, in den Lebenswelten – gilt es, sich neu zu positionieren, um am Leben zu bleiben. Das wird dann auch für unser Beten, für die persönliche Begegnung mit Jesus Christus, gelten. Ich kann betend nur am Leben, lebendig bleiben, wenn ich immer neu ihm, dem Lebendigen begegne.

Welchem Jesus begegnen Sie?

Sie dürfen diese Frage auf zweifache Weise verstehen. Zum einen: Zu welchem Jesus kehren Sie im Gebet, in der Betrachtung immer wieder gerne zurück? Gibt es so etwas wie eine oder mehrere Lieblingserzählungen, in denen „Ihr“ Jesus sich zeigt? Und zum anderen: Welchen Jesus muten Ihnen die Evangelien auch schon mal zu? Wo schmerzt es schon beinahe – nicht nur Sie?

Ich will meine eigene Erfahrung nicht vorschnell verallgemeinern, aber ich vermute, die zur ersten Gruppe gehörenden Begegnungen, zu denen ich – und nicht nur ich – betend immer wieder gerne zurückkehre, gehören die Erzählungen, in denen Jesus geradezu „maßlos“ ist.

Dass das so ist, hat vermutlich damit zu tun, sich Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung nicht verdienen zu können. Würde Jesus den Menschen – und damit auch Ihnen und mir – in dem Maß begegnen, das uns aufgrund unserer Leistung, unseres Verhaltens zustünde, so hätten wir verloren, uns selbst, unser Leben, ihn als unseren Gott.

Einige Impulse aus der Heiligen Schrift mögen Ihnen die „Maßlosigkeit“ Jesu vor Augen stellen. Es mag hilfreich sein, diesen Impulsen mehr betend, nachspürend als nachdenkend und reflektierend nachzugehen

Die Speisewunder Jesu

Die Speisewunder Jesu sind vielleicht der schönste Beleg dafür, dass Jesus über alles Maß hinaus gibt. Sei es der Wein bei der Hochzeit von Kana (Joh 1-12), seien es Brot und Fische bei der Speisung der Fünftausend (Mk 6,30-43 par), sei es die Hingabe seiner selbst in Brot und Wein (Lk 22,19f par).

Ignatius rät in den Betrachtungen im Exerzitienbuch zum Ende der Betrachtung hin: „Und sich zurückzubesinnen, um aus dieser Sicht Nutzen zu ziehen“ (vgl. EB 106 u.ö.). Es stimmt, was Sören Kierkegaard sagt: „Das Leben wird nach vorn gelebt und nach hinten verstanden.“ Die Rückbesinnung auf den eigenen Mangel, den eigenen Hunger und die eigene Bedürftigkeit erst kann zu dem Moment werden, in dem Sie die Maßlosigkeit Jesu (hoffentlich) erkennen können, die Art und Weise, wie er Ihnen in diesen Situationen zu Hilfe kam. Dazu braucht es das Erkennen der Diener bei der Hochzeit von Kana: Der für das Festmahl Verantwortliche „wusste nicht, woher der Wein kam; die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es“ (Joh 2,9).

Die Heilungswunder Jesu

In den Heilungswundern Jesu fällt auf, dass Maßloses von Jesus verlangt, besser: erbeten wird. Denken Sie an den Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5-13): „Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen.“ – „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ Oder an die Heilung eines Taubstummen (Mk 7,31-37): „Da brachten sie zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata, das heißt: Öffne Dich. Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.“ Und schließlich die Erweckung des Lazarus in Joh 11,1-44. „Als Jesus sah, wie Maria weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt Ihr ihn begraben? Sie sagten: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte!“ (11,33-37) Und dann folgt das „Lazarus, komm heraus!“

Die Maßlosigkeit Jesu in den Heilungwundern liegt darin, dass Jesus keine „Statuten“ “ oder religiösen „Normen“ beachtet. Stattdessen gibt er beinahe immer sich selbst mit in den Heilungsprozess hineingibt, und das geschieht immer anders. Er geht mit zu Haus des Hauptmanns, er seufzt und streicht dem Taubstummen Speichel auf die Zunge, er ist erschüttert und weint vor und mit Maria und den Juden.

Um der Maßlosigkeit Jesu in Ihrem eigenen Leben auf die Spur zu kommen, empfiehlt sich das Gespräch der Barmherzigkeit im Exerzitienbuch (EB 53): „Indem man sich Christus, unseren Herrn, vorstellt, vor einem und ans Kreuz geheftet, ein Gespräch halten: Wie er als Schöpfer gekommen ist, Mensch zu werden, und vom ewigen Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben.. Wiederum, indem ich mich selbst anschaue: das, was ich für Christus getan habe; das, was ich für Christus tue; das, was ich für Christus tun soll. Und indem ich ihn so derartig sehe und so am Kreuz hängend, über das nachdenken, was sich anbietet.“

Die Tempelreinigung Jesu

Ein letzter Impuls soll die Tempelreinigung Jesu sein. Sie findet sich in Joh sicher nicht zufällig gleich nach der Hochzeit von Kana, zeigt sie doch, dass Jesus nicht nur in der Großzügigkeit, sondern auch in der Wut maßlos sein kann. „Im Tempel fand er Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern, das Geld der Wechsler schütte er aus, ihre Tische stieß er um, und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle“ (Joh 2,14-16). Erklären kann ich mir diese Wut Jesu nur um des Reiches Gottes Willen, um eines höheren, besseren Zieles, um seiner Sendung willen.

Eine geforderte Maßlosigkeit in der eigenen Sendung

Welche Verheißung, welche Sendung liegt in diesem Blick auf den maßlosen Jesus? Wie folge ich dem maßlosen Jesus nach? Für mich ist zum einen ein Vers aus der Bergpredigt wegweisend – maßlos schon allein deswegen, weil er im Zusammenhang mit der Feindesliebe steht: „Gebt, dann wird Euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man Euch in den Schoß legen, denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch Euch zugemessen werden!“ (Lk 6,38) Und ein zweiter Vers: „Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt“ (Röm13,8).

Das ist die Maßlosigkeit bei allem Maßhalten: Im Maß und in der Maßlosigkeit Jesu geben, heilen, streiten, und einander in allem die Liebe nicht schuldig bleiben – allein deswegen, weil wir von ihm maßlos empfangen haben und empfangen.

Harald Klein, Köln
*1961, Priester und Sozialpädagoge
mit Schwerpunkt „“Spiritualität für Soziale Berufe“
gebundenes Mitglied in der GCL