Die eigene Dunkelheit verbrennen lassen
Erinnern Sie sich an das „Ich bin doch noch so jung“ des Jeremia am vergangenen Sonntag? Für seine Berufung zum Propheten war das Alter für Gott kein Hindernis. Ganz anders reagiert Jesaja, als ihm dasselbe Schicksal blüht. Er beruft sich nicht auf sein Alter. Sein Einwand ist: „Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen.“ Gott endet darauf einen Engel, der mit einem Stück glühender Kohle vom Altar Jesajas Lippen berührt: „Das hier hat Deine Lippen berührt: Deine Schuld ist getilgt, Deine Sünde gesühnt.“ Und als Jesaja jetzt die Stimme Gottes fragen hört: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“, antwortet er: „Hier bin ich, sende mich!“ Wenn der Mensch eine Ahnung, eine freie Sicht auf Gott bekommt, bleibt zunächst nur das „Weh mir!“ Aber gerade der mit den unreinen Lippen antwortet freimütig auf Gottes Frage „Wen soll ich senden, wer wird für uns gehen?“ mit dem „Hier bin ich, sende mich.“ Wer sich von Gott berühren lässt, spürt schmerzhaft sein eigenes Ungenügen – und kann es von Gott (wenn auch schmerzhaft) in Wärme und Licht verwandeln lassen. Mit Paulus kann er sagen: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben.“
Mit Jesus in einem Boot
Ganz ähnlich verhält sich Simon, der dann Petrus genannt wird. Anders als bei Markus oder Matthäus ist die Szene des Evangeliums nicht die erste Begegnung zwischen Jesus und Simon. Im Lukasevangelium steht kurz vorher der Besuch Jesu in seinem Haus und die Heilung der Schwiegermutter des Simon. Er hat ihn schon wirkend und wirkmächtig erlebt. Dann die vielen Menschen am See, die ihn hören wollen. Jesus bittet Simon, ihn mit seinem Boot ein wenig vom Ufer wegzufahren. Und dann redet der eine, der andere hört einfach zu, ihm nahe, im gleichen Boot wie er. Stellen Sie sich diese Szene einmal bildlich vor, und stellen Sie sich vor, Sie säßen mit Jesus in einem Boot, schauten ihm zu, hörten ihn an. Vorher die Heilung der Schwiegermutter – hier redet nicht einer irgendwelche Worte über Gott, hier spricht das menschgewordene Wort Gottes selbst. Sie erleben wie Simon diese Faszination, diese Nähe; Sie sind wie Simon angesprochen, gebeten, diesem menschgewordenen Wort Gottes einen Dienst zu tun. Wenn das so ist, kommen Sie wie Simon der Gefühlslage des Jesaja gefährlich nahe: „Weh mir, ich bin verloren!“ Und nicht nur Worte, mit denen Sie sich den Mund verbrannt haben, werden in dieser Nähe präsent, sondern auch Ihr Handeln, Ihr Unterlassen, das letztlich in Verlorenheit mündet. Mit Jesus in einem Boot – das kann auf den ersten Blick ganz schön brenzlig werden, da kann es einem heiß und kalt zugleich über den Rücken laufen. „Herr, geh weg von mir, ich bin ein Sünder!“
Fahr hinaus auf den See, oder: Steig hinab in Deine Tiefe
Jesus lässt es nicht dabei bewenden. Der reiche Fischfang dient als neues, wirkmächtiges Zeichen. Es ist eine der ärgerlichsten Übersetzungsfehler, die Aufforderung Jesu „επαναγαγεειςτωβυθος“, das lateinische „duc in altum“ mit „Fahr hinaus auf den See!“ zu übersetzen. Beide Worte stehe für Tiefe oder Weite. Es ist, als würde Jesus auf den Ort verweisen, in dem Gott selbst im Menschen wohnt. Hier findet Berufung statt, hier ist der Mensch Gott am Nächsten, und weder Worte noch Handlungen oder Haltungen stehe zwischen ihm und dem Schöpfer seines Lebens. „Steig hinab in Deine Tiefe, und erkenne, wer Du für mich bist, und dann gerne auch „Wirf Dein Netz noch einmal aus!“, von diesem Ort aus. Hier, nur hier geschieht Berufung. Und nur so wird verständlich, was Jesus dem Simon sagt: „Fürchte Dich nicht! Von jetzt an wirst Du Menschen fangen!“
Menschen auffangen – nicht: Menschen fangen!
Das Bild vom Menschenfischer, dass uns überliefert ist, hat etwas von Gewalt den andern gegenüber. Ich möchte nicht, dass mir Menschen „ins Netz“ gehen, selbst dann, wenn ich es für Christus auswerfe. Die Deutung, die Eugen Drewermann dem Geschehen gibt, ist hilfreicher. Er legt dem Jesus deutende Worte in den Mund und schreibt:
„‚Fürchte Dich nicht‘ – das heißt hier soviel wie ‚Ich verlasse Dich nicht, was auch immer noch kommen mag. Und dass Du jetzt (ein wenig) besser weißt, wer Du bist, ist kein Hinderungsgrund Deiner Beauftragung. Ich möchte Dich so, wie Du bist. […] Ich möchte ganz einfach Dich als den Menschen, den ich in Dir finde, in seinen Stärken und in seinen Schwächen. Eben weil Du um Deine ‚Sündhaftigkeit‘ weißt, wirst Du auch andere Menschen in ihren Gefährdungen und Fehlern besser begreifen, und Du wirst ihnen fortan das Gefühl schenken können, das du gerade jetzt erfährst und aus dem wir alle wesentlich leben: dass da eine Hand ist, die uns niemals mehr loslässt. Ein Fischer bist Du und wirst Du bleiben, nur dass Du das, was Du bist, jetzt einsetzen kannst und einsetzen wirst, um Menschen dem Abgrund ihres Lebens zu entreißen und ans sichere Ufer zu bringen.'“[1]
Für einen Menschen, der so zu mir redet, der sich mir als Hand erweist, die mich niemals mehr loslässt, kann ich Feuer fangen, kann ich brennen. Für Menschen, die mir so begegnen, kann ich vieles, vielleicht alles zurücklassen, und mit ihnen gehen. Das geht nicht von heute auf morgen, das ist ein ganzer Berufungsweg. Und ich gehe ihn mit anderen zusammen, nehme andere auf diesem Weg mit.
Das wäre es für diesen Sonntag: Im Schauen auf Gott, im Sitzen mit ihm im selben Boot, mir meiner Dunkelheiten bewusst sein, sie Christus hinhalten und mir dann sagen lassen: „Sie sind kein Hinderungsgrund für Deine Beauftragung. Ich möchte ganz einfach Dich als den Menschen, den ich in Dir finde, in Deinen Stärken und in Deinen Schwächen.“
Vielleicht ist Nachfolge Jesu nichts anderes als das Leben aus diesem Geist, das Weitergeben dieses Geistes in meinen Begegnungen und Beziehungen und das Leben und Wirken miteinander in dieser Haltung, die die Haltung Jesu ist. Das wäre ein sehr menschliches Bild für und von „Kirche“.
Köln, 09.02.1019
Harald Klein
[1]Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium, Band 1, Düsseldorf, 281.