Ein Dreieck – oder eine Strecke?
Ein wenig gewagt für einen Sonntagmorgen: ich möchte mit einer mathematischen Frage beginnen. Ich verspreche, Sie nicht zu überfordern – denn ich frage Sie nur nach einer bildlichen Vorstellung: stellen Sie sich mal ein Dreieck vor – und dann stellen Sie sich mal eine Strecke vor, die nicht zwei Punkte, sondern die zwei Menschen verbindet. Das sollte eben gerade so gehen, oder?
Und jetzt hören Sie nochmal die Lesung aus dem Korintherbrief. Ich lese sie langsam, und Sie überlegen Satz für Satz, ob da eher die Gerade passt, oder eher das Dreieck.
„Schwestern und Brüder!
Ich wünschte, ihr wäret ohne Sorgen. Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. So ist er geteilt. Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Das sage ich zu eurem Nutzen: nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr in rechter Weise und ungestört immer dem Herrn dienen könnt.“
Hören Sie die „Strecken“? Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Die Unverheiratete, die Jungfrau sorgt sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist.
Und hören Sie die „Dreiecke“? Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. So ist er geteilt. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Gott könnte gerade mal Schillers Bürgschaft zitieren: „ich sei, gewähret mir die Bitte, in Eurem Bund der Dritte.“
Und Paulus mahnt am Ende: Das sage ich zu Eurem Nutzen, nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr in rechter Weise – „geradezu“ könnte man sagen – dem Herrn dienen könnte.
Menschenliebe und Gottesliebe – ein Beziehungsdreieck!
Im ganzen siebten Kapitel in 1 Kor behandelt Paulus Fragen der Ehe – und er fragt nach der Ehe angesichts einer Erwartung des nahen Endes der Weltzeit. Aber das braucht hier gar nicht berücksichtigt zu werden. Ich möchte gerne mit Ihnen danach fragen, wie die Liebe zu den Menschen und die Liebe zu Gott – in der „Geraden“ zusammenhängt, oder wie sie in Konkurrenz – in einem „Dreiecksverhältnis“ – steht.Zwei andere Bilder – neben „Gerade“ und „Dreieck“. sind dafür wichtig: das Menschenbild und das Gottesbild.
Lassen Sie uns mit der Frage nach dem Gottesbild beginnen. Wenn Gott einer wäre, für den ich Zeit opfern muss, Geld, Widder und Lämmer, dann gilt das Dreieck – dann hält mich jede andere Tätigkeit davon ab, dem Herrn zu dienen. „Sonntagspflicht“ ist ein Begriff, der da passt; „Fasten“, zumindest in moderner Form, um in der Zeit, die sonst dem Fernsehen galt, jetzt beten zu können. Wenn Gott aber einer ist, der seinen Geist schenkt, damit jeder mit diesem Geschenk mehr Gottes Kind und damit mehr Mensch wird, dann gilt die Gerade! Das passt für Jesus und dem, der von einem unreinen Geist besessen war. „Vollmacht“ nennt das das Evangelium. Er lehrte, er lebte wie einer, der göttliche Vollmacht hat.
Lassen Sie uns mit der Frage nach dem Menschenbild weitermachen. In der Schule haben wir oft gesagt: „Schule könnte so schön sein, wenn die blöden Schüler nicht wären!“ – die Schüler mögen es andersherum formuliert haben. Das Beten, der Gottesdienst, die Liturgie, die Prozessionen und Andachtsformen könnten so schön sein, wenn die blöden Menschen nicht wären. Ich wäre so gerne fromm, aber ständig werde ich irgendwie gestört oder abgelenkt. Wenn das so ist, dann gilt das Dreieck. Wenn Gott aber einer ist, der seinen Geist schenkt, damit jeder mit diesem Geschenk mehr Gottes Kind und damit mehr Mensch wird, dann gilt die Gerade! Dann kann jede Begegnung von Menschen untereinander zu einer Gottesbegegnung werden – und am tiefsten geschieht das dann, wenn sich beide so begegnen, dass sie im anderen das Ebenbild Gottes wenigstens sehen wollen, und erst recht, wenn sie sich so sehen, so ansehen.
Die Liebe zu Gott ist an der Liebe zu den Menschen ablesbar
Franz Jalics, ungarischer Jesuit und Lehrer des kontemplativen Betens schreibt: „Die einzige Weise, mit Sicherheit zu erkennen, wie wir zu Gott stehen, liegt darin, alle unsere menschlichen Beziehungen zusammenzunehmen und anzuschauen. Was in diesen Beziehungen vorhanden ist, das ist auch in unserer Beziehung zu Gott vorhanden.“[1]
Warum dann Sonntagspflicht, oder besser: Sonntagsgebot? Um auf Gott zu schauen, um mir im Wort und im Sakrament diese Vollmacht immer neu schenken und mich in ihr stärken zu lassen. Und um auf die Menschen, auf meine Beziehungen zu Mensch und Welt zu schauen, damit ich ihr als Ebenbild Gottes begegnen kann – und damit ich in den Menschen um mich herum Gottes Ebenbild und in der Welt Gottes gute Schöpfung wahrnehmen kann.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen – in Anlehnung an das Bild von oben – nicht nur streckenweise, sondern vielmehr geradezu einen wirklich schönen Sonntag.
Amen.
Harald Klein, Köln
[1] Jalics, Franz (1994): Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, Würzburg, 62.