Heilige Familie: Familie einatmen – Familie ausatmen – als Familie weitermachen

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Eine Auswahl von Texten?

Die Lektor*innen haben es heute schwer. Das Fest der Heiligen Familie sieht sowohl für die erste als auch für die zweite Lesung Alternativen vor. In der Eucharistiefeier wird wohl der Prediger die Lesungen aussuchen, aber womit wollen Sie denn in Ihr Gebet gehen an diesem Tag, wie entscheiden Sie, ob Sie sich betend der Heiligen Familie nähern wollen mit Jesus Sirach oder mit Samuel, mit Paulus oder mit Johannes?

Die hl. Familie – ein leuchtendes Vorbild?

Die Wissenschaftstheorie unterscheidet in der Bildung von Gesetzen im sozialen Bereich zwei Möglichkeiten, Induktion und Deduktion. Induktion meint: ich betrachte und vergleiche eine Vielfalt spezieller Ereignisse und Phänomene und schließe daraus vom Besonderen auf das Allgemeine, auf ein „Gesetz“. Deduktion geht den umgekehrten Weg: ich beginne mit dem „Gesetz“, mit der „Theorie“, mit dem „Allgemeinen“ und schließe dann vom Allgemeinen auf das Besondere.

Jahrhundertelang war die – zumindest kirchliche – Rede von „Familie“ deduktiv geprägt, und die gegenwärtige Diskussion zeigt, wie sehr Kirchliche Verlautbarungen noch diesem Reden von Familie verhaftet sind. Aus den Schriften des AT und des NT wird eine „Theorie“ von „Familie“ herausgelesen und anschließend in der Feldforschung, dem möglichst neutralen Blick auf die Wirklichkeit, zugrunde gelegt. Nehmen Sie den ersten Satz aus Sirach: „Denn der Herr hat den Kindern befohlen, ihren Vater zu ehren, und die Söhne verpflichtet, das Recht ihrer Mutter zu achten.“ Oder die Sätze aus dem Kolosserbrief des Paulus: „Ihr Frauen, ordnet Euch Euren Männern unter, wie es sich im Herrn geziemt.“ (Die Fortsetzung „Ihr Männer, liebt Eure Frauen, und seid nicht aufgebracht gegen sie!“ wird dann leider oft verschwiegen.) Die Erzählung vom 12jährigen Jesus, der im Tempel lehrt, und den Sorgen der Eltern, die das verschwundene Kind suchen, ihm Vorwürfe machen („Kind, wie konntest Du uns das antun?“) illustrieren dann den Evangelien gemäß (?) dieses Gesetz der Familie, vor allem durch den Nachsatz: „Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam.“ Im 19. Und frühen 20. Jahrhundert, in der Zeit des Bildungsbürgertums, treibt dieses Gesetz der Familien Blüten. Denken Sie an Friedrich Hoffmanns „Struwwelpeter“. Ich erinnere mich gerne an das Mespelbrunner Wallfahrtslied, dass die Geschichte der Wallfahrtskirche auf die Melodie des „Lourdes“-Marienliedes erzählt: Geschichte wird erzählt mit „Vor 300 Jahren, mit Feuer und Brand, die Schweden vernichten katholisches Land“, gefolgt vom wiederholt gesungenen „Ave, Ave, Ave Maria“. Und abschließend werden die verschiedenen Stände besungen, und darin heißt es: „Ihr Kinder, seid artig, fromm, fröhlich und fein, erfreut Eure Eltern wie’s Jesuskindlein“, ebenfalls gefolgt vom wiederholt gesungenen „Ave, Ave, Ave Maria“

Ein deduktives Bild von Familie macht es auf den ersten Blick einfach. Es stellt eine „Theorie der Familie“ auf, nach der „man“ sich einfach richten muss, und der Weg, familiär zu leben, ist klar. Erst der zweite, tiefer gehende Blick wirft Fragen auf: Was ist, wenn dieser Weg aus welchen Gründen auch immer nicht funktioniert? Wann beginnt, wann endet Familie – in der Frage nach Kinderlosigkeit, nach der Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Was ist mit den Alleinlebenden oder Alleinerziehenden? Was ist mit den Menschen, die alleine leben oder leben wollen? Hier wird deutlich: ein deduktiv hergeleitetes Reden über Familie produziert Opfer, und der Blick in die Lebenswelten der Menschen lässt fragen, ob die Zahl der Opfer letztlich nicht größer ist als die Frage der Gewinner. Ein deduktiv hergeleitetes Reden über Familie lässt vielleicht mehr lebenswichtige Fragen offen als es lebensfördernde Antworten gibt.

Anders ein induktives Fragen nach einer Theorie von „Familie“. Hier gehen die Forschenden erst ins „Feld“, in die Lebenswelten der Menschen. Und erst danach stellen sie dann anhand der gefundenen Daten eine Theorie auf. Die deduktive Methode sagt: „Von Familie reden wir immerdann, wenn…“ Die induktive Methode hält dagegen und sagt: „Dann, wenndiese, jenes und das vorliegt, können wir von Familie reden. Man könnte von einem Denken und Reden über Familie von „oben“ (deduktiv) im Gegensatz zum Denken und Reden über Familie von „unten“ (induktiv) reden.

Wer oder was ist für Sie „Familie“?

In advent-weihnachtlichen Dreischritt von „Einatmen. Ausatmen. Weitermachen.“ Lädt die Rede von der Heiligen Familie zu einem induktiven Weg ein. Atmen Sie einmal ein mit „Familie“ – und nehmen Sie einfach wahr, was sich Ihnen zeigt. In einer ignatianischen Unterscheidung der Geister dürfen Sie all dem trauen, was einen tief tröstlichen „Beigeschmack“ hat, was Ihr Herz aufleben lässt. Und daran, darauf dürfen Sie „Familie“ bauen. Die Soziale Arbeit kennt den „Doing-Family-Ansatz“. Damit ist der Versuch gemeint, all das zu suchen, an all dem festzuhalten, was Sie mit „Familie“ verbinden. In der Soziologie wäre das einmal die Übernahme von gesellschaftlichen Funktionen, vor allem die Reproduktions- und die Sozialisationsfunktion; in einer spirituellen Redeweise ist damit die Frage gemeint, wer oder was Ihnen hilft, wirklich fruchtbar zu leben, Leben in einem weiten Sinne weiterzugeben und alles dafür zu tun, dass Ihr Leben und das Leben derer um Sie herum gelingt. In der Soziologie spricht man vom Kooperations- und Solidaritätsverhältnis zwischen den Mitgliedern der Familie – auch hier dürfen Sie „Familie“ weit denken. In einer spirituellen Redeweise kann „familiär“ dann heißen, dass Sie mit Menschen aus Ihrem Umfeld auf ein gelingendes Leben hin kooperierend und solidarisch, fürsorgend und mittragend leben, und dasselbe auch durch diese Menschen für sich erfahren. Und schließlich kennt die Soziologie der Familie das Kennzeichen der Generationendifferenzierung. Ein Doing-Family-Ansatz meint mehr als ein Zusammenschluss von Gleichaltrigen und schließt jung und alt ein.

„Ausatmen“ meint dann, den Kopf, Herz und Hand darauf ausrichten, was Ihnen all das gibt, und „Weitermachen“ gibt die Richtung an, in der Sie dann „Familie“ weiterleben und weiterentwickeln, groß werden lassen können.

Heilige Familie: „Familie“ weit denken

Dieses deutlich induktive Vorgehen in der Frage nach dem, was und wer für sie „Familie“ ist, steht sicher in einem Widerspruch zu dem eher deduktiv und lange Zeit überlieferten Bild von Familie. Da, wo all das, was Ihnen einatmend und befreiend, Luft zum Leben lassend in der Herkunftsfamilie der Blutverwandten sowieso gegeben und geschenkt ist, dürfen Sie sich schlicht freuen. Da, wo es fehlt, können Sie „Familie“ weit denken. Hier kommen die „Walverwandtschaften“ ins Spiel.

Das ist der Moment, wo ich mich freue, im Gottesdienst die, mit denen ich ihn feiere, mit “Brüder und Schwestern“ ansprechen zu können. Das wäre ein Bild von Kirche, von christlicher Gemeinschaft, mit dem ich gut leben kann: in einer Gemeinsamkeit im Wollen sich in dieser Weise familiär begegnen zu können. Das hat was vom Geschmack der Heiligen Familie.

Amen.

Köln 30.12.2018
Harald Klein