Heimat haben – in sich, bei anderen, in Gott

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„Wo bist Du zu Hause?“…

Diese Frage müssen sich ab und an Menschen stellen (lassen), die viel unterwegs sind. „Wo bist Du eigentlich zu Hause, Harald?“ Menschen, die nach einer Flucht hier in Köln gelandet sind, kennen die Frage, sei es als eigene Frage, sei es als Frage, die an sie gerichtet wird. Menschen, die vielleicht schon in zweiter oder dritter Generation mit einer Migrationsgeschichte leben, deren Namen aber deutlich einen türkischen, syrischen, afrikanischen Klang haben. „Wo bist Du zu Hause?“ Man kommt leicht in Argumentationsschwierigkeiten, wenn man dann sagt: „In Köln!“, oder „In Deutschland!“ Vielleicht nicht nur vor den anderen, manchmal auch vor sich selbst. Die Kategorie „Ort“ eignet sich nicht mehr so einfach, um das „Zuhause“ zu beschreiben.

… oder: „Bei wem bist Du zu Hause?“

Mir dient die Kategorie „Person“ mehr. Statt „Wo bist Du zu Hause“ frage ich lieber (mich und andere): „Bei wem bist du zu Hause?“ Zugegeben, die Frage nach dem „bei wem“ ist deutlich intimer und persönlicher als die Frage nach dem „Wo bist Du zu Hause?“. Aber dafür trifft sie den Kern! Der Ort, der ein Zuhause bezeichnet, ist primär extern, äußerlich, bezeichnet Herkunft und erklärt vielleicht mitgebrachte Gewohnheit(en). Die Personen, die ein Zuhause beschreiben, sind primär intern, innerlich, bezeichnen Gegenwart und lassen auf Zukunft hoffen und erklären gegenwärtige Lebensumstände. Das „Bei wem“ ist mehr am Leben dran als das „Wo“.

Die Versuchungsgeschichte: Jesus ist bei seinem Vater zu Hause

Der erste Sonntag der österlichen Bußzeit erzählt uns von den vierzig Tage Jesu in der Wüste. Er sei dabei erfüllt vom Heiligen Geist gewesen, schreibt Lukas. Der Heilige Geist ist bei Jesus in dieser Zeit – innerlich – „zu Hause“. Und das – äußerliche – Gegenbild der Wüste, in die Jesus geht, der Ort, den er aufsucht, ist wirklich ein Gegenbild. Die Wüste ist nicht das „Zuhause Jesu.“

Dreimal wird er in Versuchung geführt, so nennt es die Theologie. Es geht darum, dass Jesus sich sein Zuhause einrichten könnte, zuerst mit der Versuchung des Stillens des Hungers nach Leben mit Brot, dass er aus Steinen verwandeln solle, dann mit der Versuchung zur Macht über andere und andres, und schließlich mit der Versuchung, sein Leben und dessen Verantwortung ganz in die Hände eines anderen zu geben, der ihm ein falsches Selbstvertrauen als Lohn zuspricht. Dreimal verweist Gott den Versucher auf Gott, schlägt ihn mit Worten aus der Schrift zurück. Erfüllt vom Heiligen Geist, ist Jesus ganz bei Gott zu Hause, der für ihn „sein Gott“ ist. Unglaublich, welche Kraft und welche Entscheidungsstärke Gott gibt, wenn jemand bei ihm „zu Hause“ ist, bzw. umgekehrt: wenn jemand Gott erlaubt und bittet, ganz bei ihm bzw. ihr zu Hause zu sein.

Ein Dreiklang – Heimat haben in sich, bei anderen, in Gott

Wie in der Musik, so scheint es mir einen innerlichen Dreiklang zu geben in Sachen „zu Hause“. Ein realistischer Blick auf mich selbst lässt mich mein Personsein erkennen, aber damit auch mein Alleinsein (das nicht notwendig Einsamkeit meinen muss). Ein realistischer Blick auf mich selbst lässt mich „Ich“ sagen und hört die Singularität darin. Da ist niemand sonst, und es gibt realistischer Weise nichts und niemanden, der diese Leere durch mein Tun füllen könnte. Ich kann andere nur einladen, mich ihnen öffnen und sie wieder ziehen lassen. Bei sich zu Hause sein – der Grundton des Dreiklangs – meint, zur eigenen inneren Leere zu stehen, sie auszuhalten und Vertrauen zu haben, dass Gott sie füllen wird, anstatt sich vorschnell in Versuchung führen zu lassen und sie mit dem zu füllen, was letztlich nicht „satt macht“.

Dann die zweite Stufe des Dreiklangs: Die Erfahrung des Paulus tut gut, die er allen, die sich zu Gott bekennen, zusagt: „Alle haben denselben Herrn, aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen.“ Das wäre eine Überlegung wert an diesem Sonntag: Ich bin beschenkt aus Gottes Reichtum mit Menschen, bei denen ich zu Hause bin und die bei mir zu Hause sind. Und wenn es auch ein Kommen und Gehen gibt – diese Bewegung endet nicht. Da kommt meine eigene Leere ins Schwingen, das „klingt“ gut.

Aber es fehlt noch der volle Dreiklang, es fehlt die dritte Stufe. Hier schließt sich der Kreis zum Evangelium. Es geht um das „In-Gott-zu-Hause-sein“ Jesu, und um meines. Es geht umgekehrt auch um das Ringen im Glauben daran, dass Gott in mir Wohnung genommen hat und meine gefühlte Leere durch ihn schon lange gefüllt ist. Dass in der Bewegung des Kommens und Gehens derer, bei denen ich und die bei mir zu Hause sind, ich niemals ganz verlasen bin. Dass gerade in der Wüste – wie bei Jesus – es das Vertrauen auf den mir innwohnenden Gott ist, das den Versucher bezwingt. Zugegeben, das ist die Moll-Variante des Dreiklangs. Die Dur-Variante erklingt, wenn ich das Zuhause-Sein beim anderen oder dessen/deren Zuhause-Sein bei mir als Geschenk Gottes, der mit dabei ist, dankbar annehme. Schöner als der Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx (1110-1167) in seinem fiktiven Dialog mit einem Novizen (De spirituali amicitia <Über die geistliche Freundschaft>) kann man das nicht ausdrücken: „Ecce ego et tu, et spero quod tertius inter nos Christus sit“[1]–  Hier sind wir beide, ich und Du, und ich hoffe, als Dritter ist Christus bei uns.Gott helfen, bei uns zu wohnen.

Gott helfen, bei uns zu wohnen

Das mag einen guten (Drei-) Klang haben dann, wenn es „stimmt“ um mich herum. Schwierig wird es, wenn es schwer wird. In den Tagebuchaufzeichnungen von Etty Hillesum schreibt sie über die Not, die sie im Ghetto und dann im Lager erlebt. Und sie schreibt davon, dass sie Gott helfen müsse, sie nicht zu verlassen und in ihr wohnen zu bleiben.

Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche Dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will Dir helfen, Gott, dass Du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass Du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir Dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von Dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir helfen, Dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“[2]

Das macht die Größe, die Stärke, die Kraft eines an glaubenden Menschen aus. Im Dur-Dreiklang des „Ich und Du und Christus als dem Dritten“ einen Ort des Dankes in sich selbst zu spüren, als dem Ort, an dem Gott in mir wohnt. Und im Moll-Dreiklang des scheinbaren „ich und Ich und nochmal Ich allein“ Gott zu helfen, in mir wohnen zu bleiben, ein Stück von ihm in uns selbst zu retten. Wem das gelingt, wie es Jesus in der Versuchungsgeschichte in „seiner“ Wüste gelungen ist, dem wird es auch gelingen, Gott im eigenen gequälten Herzen und in den gequälten Herzen anderer Menschen auferstehen zu lassen.

Was wäre das für ein Zuhause, wenn ich diese Heimat hätte, in mir, bei anderen, in Gott!

Amen.

Köln, 09.03.2019
Harald Klein

[1]Aelredus Rivalleinsis (1978): Über die geistliche Freundschaft, lat.-dt., ins Dt. übertragen von Rhaban Haacke, Trier, 6.

[2] J.G. Gaarlandt (Hg.)(282018): Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Reinbek bei Hamburg, 149.