Worte zum Leben: Hermann Hesse, Narziß und Goldmund

  • Aus der Reihe getanzt - Gedankensplitter
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Die Idee

Am 06.06.2020 war ich zusammen mit einigen Freunden im ersten Kinofilm nach den Corona-Regelungen; seit ca. drei Monaten waren alle Kinos geschlossen. Im Cinenova setzte man da an, wo man im März aufgehört hatte: Die Verfilmung von Narziß und Goldmund wurde gezeigt. Da wir alle diese Erzählung von Hermann Hesse schätzen, waren wir gespannt; der Film hat uns sehr in seinen Bann gezogen. Auf dem entstand die Idee, ein Skript mit Zitaten zu dieser Erzählung zu erstellen. An die Zitate können in Gruppen Gespräche zum Thema Freundschaft und Gefährtenschaft anknüpfen.

Das hole ich hier nach, die Erzählung noch einmal auf der Folie des Films lesend. Die Zitate, die ich hier aufgeführt habe, sind diejenigen der Erzählung, in der es um das Wesen der Freundschaft und der Gefährtenschaft der beiden Protagonisten geht. Sie mögen helfen, über die eigenen Freundschaften und Gefährtenschaften nachzudenken oder miteinander ins Gespräch zu kommen.

Entnommen sind die Zitate aus: Hesse, Hermann (1996): Narziß und Goldmund, Reihe „Die Romane und die großen Erzählungen“, Bd. 6, Frankfurt/Main.

Die zwölfseitige Sammlung kann hier  heruntergeladen werden.

Aus dem ersten Kapitel:

„In den Zellen und Sälen des Klosters, zwischen den runden schweren Fensterbogen und den strammen Doppelsäulen aus rotem Stein wurde gelebt, gelehrt, studiert, verwaltet, regiert; vielerlei Kunst und Wissenschaft wurde hier getrieben und von einer Generation der anderen vererbt, fromme und weltliche, helle und dunkle. Bücher wurden geschrieben und kommentiert, Systeme ersonnen, Schriften der Alten gesammelt, Bilderhandschriften gemalt, des Volkes Glaube gepflegt, des Volkes Glaube belächelt. Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, Einfalt und Verschlagenheit, Weisheit der Evangelien und Weisheit der Griechen, weiße und schwarze Magie, von allem gedieht hier etwas, für alles war Raum; es war Raum für Einsiedelei und Bußübung ebenso wie für Geselligkeit und Wohlleben; an der Person des jeweiligen Abtes und an der jeweils herrschenden Stimmung der Zeit lag es, ob das eine oder ob das andere überwog und vorherrschte.“ (8)

„‘Narziß‘, sagte der Abt nach einer Beichte zu ihm, ‚ich bekenne mich eins harten Urteils über dich schuldig. Ich habe dich oft für hochmütig gehalten, und vielleicht tat ich dir damit unrecht. Du bist sehr allein, junger Bruder, du bist einsam, du hast Bewunderer, aber keine Freunde.‘“ (10)

„‘Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, dass ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nah Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.‘ Lange schwiegen die beiden. ‚Warum hast du diesen Glauben?‘ fragte zögernd der Alte. ‚Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem glauben zu Wort kommt?‘ – „Es ist die Eigenschaft‘, sagte Narziß langsam, dass ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung des Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der anderen. Diese Eigenschaft zwingt mich, den anderen dadurch zu dienen, dass ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.‘“ (11f)

Goldmunds Ankunft im Kloster: „Der Knabe blickte an dem noch winterkahlen Baum empor. ‚Einen solchen Baum‘, sagte er, ‚habe ich noch nie gesehen. Ein schöner, merkwürdiger Baum! Ich möchte wohl wissen, wie er heißt.‘ Der Vater, ein ältlicher Herr, mit einem versorgten und etwas verkniffenen Gesicht, kümmerte ich nicht um die Worte des Jungen. Der Pförtner aber, dem der Knabe alsbald wohlgefiel, gab ihm Auskunft. Der Jüngling dankte ihm freundlich, gab ihm die Hand und sagte. ‚Ich heiße Goldmund und soll hier zur Schule gehen.‘ Freundlich lächelte der Mann ihn an und ging den Ankömmlingen voran durchs Portal und die breiten Steintreppen hinauf, und Goldmund betrat das Kloster ohne Zagen mit dem Gefühl, an diesem Ort schon zwei Wesen begegnet zu sein, denen er Freund sein konnte, dem Baum und dem Pförtner.“ (15)

Aus dem zweiten Kapitel:

Goldmunds erste Tage im Kloster: „Wenn er indessen mit allen gut Freund war, einen wirklichen Freund fand er doch nicht so bald; es war keiner unter den Mitschülern, dem er sich besonders verwandt oder gar zugeneigt fühlte. Sie aber waren verwundert, in dem schneidigen Faustkämpfer, den sie geneigt waren für einen liebenswerten Raufbold zu halten, einen sehr friedfertigen Kollegen zu finden, der eher nach dem Ruhm eines Musterschülers zu streben schien. Zwei Menschen im Kloster gab e, zu denen Goldmund sein Herz hingezogen fühlte, die ihm gefielen, die seine Gedanken beschäftigten, für die er Bewunderung, Liebe und Ehrfurcht fühlte: den Abt Daniel und den Lehrgehilfen Narziß.“ (19f)

„Und das Verwirrendste war dies, dass seine Liebe zu Narziß sich so schlecht mit seiner Liebe zum Abt Daniel vertragen wollte. Dabei glaubte er manchmal mit innerster Gewissheit zu spüren, dass auch Narziß ihn liebe, dass er an ihm teilnehme und auf ihn warte. Viel mehr, als der Knabe ahnte, waren Narzissens Gedanken mit ihm beschäftigt. Er wünsche sich diesen hübschen, hellen, lieben Jungen zum Freunde, er ahnte in ihm seinen Gegenpol und seine Ergänzung, er hätte ihn an sich nehmen mögen, ihn führen, aufklären, steigern und zur Blüte bringen. Aber er hielt sich zurück.“ (22)

Nach dem ersten empfangenen Kuss eines Mädchens, als Goldmund mit anderen Schülern ‚im Dorf‘ war:„‘Goldmund‘, flüsterte sie. Er blieb stehen. ‚Kommst du einmal wieder?‘ fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch. Goldmund schüttelte den Kopf. Sie streckte ihre beiden Hände aus, fasste seinen Kopf, warm fühlte er die kleinen Hände an seinen Schläfen. Sie beugte sich tief herab, bis ihre dunklen Augen dicht vor seinen waren. ‚Komm wieder!‘ flüsterte sie, und ihr Mund berührte den seinen in einem kindlichen Kuss. Schnell lief er den anderen nach durch den kleinen Garten, taumelte über die Beete, riss sich die Hand an einem Rosenstrauch wund, kletterte über den Zaun und trabte den anderen nach zum Dorf hinaus, dem Walde entgegen. ‚Niemals mehr!‘ sagte befehlend sein Wille. ‚Morgen wieder!‘ flehte schluchzend sein Herz.“ (28)

Aus dem dritten Kapitel:

„Eine wunderliche Freundschaft war es, welche zwischen Narziß und Goldmund begann; wenigen nur gefiel sie, und manchmal konnte es so scheinen, als missfiele sie den beiden selbst. Narziß, der Denker, hatte es damit zunächst am schwersten. Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewusst erkannte. Lange Zeit blieb er einsam mitten im Lieben und wusste, dass der Freund ihm erst dann wirklich angehören werde, wenn er ihn zur Erkenntnis würde geführt haben. Innig und glühend, spielend und rechenschaftslos gab Goldmund sich dem neuen Leben hin; wissend und verantwortlich nahm Narziß das hohe Schicksal an. Für Goldmund war es zuerst eine Erlösung und Genesung. Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuss eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden. Denn dies fühlte er im Innersten, dass all sein bisheriger Lebenstraum, alles, woran er glaubte, alles, wozu er sich bestimmt und berufen meinte, durch jenen Kuss im Fenster, durch den Blick jener dunklen Augen an der Wurzel gefährdet war. Vom Vater zum Mönchsleben bestimmt, mit ganzem Willen diese Bestimmung annehmend, mit der Glut erster Jugendinbrunst einem frommen und asketisch-heldischen Ideal zugewandt, hatte er bei der ersten flüchtigen Begegnung, beim ersten Anruf des Lebens an seine Sinne, beim ersten Gruß des Weiblichen unweigerlich gespürt, dass hier sein Feind und Dämon stehe, dass das Weib seine Gefahr sei. Und jetzt bot ihm das Schicksal eine Rettung, jetzt kam, in der dringendsten Not, diese Freundschaft ihm entgegen und bot seinem Verlangen einen blühenden Garten, seiner Ehrfurcht einen neuen Altar. Hier war ihm zu lieben erlaubt, war ihm erlaubt, ohne Sünde sich hinzugeben, sein Herz einem bewunderten, älteren, klügeren Freunde zu schenken, die gefährlichen Flammen der Sinne in edle Opferfeuer zu verwandeln, zu vergeistigen.“(31f)

„Narziß war wirklich zu einem solchen leben bestimmt. Ihm war Lieben nur in einer einzigen, der höchsten Form erlaubt. An Goldmunds Bestimmung zum Asketen aber glaubte Narziß nicht. Deutlicher als ein anderer verstand er in Menschen zu lesen, und hier, wo er liebte, las er mit gesteigerter Klarheit.“ (33)

Im Gespräch über die Begegnung Goldmunds mit dem Mädchen im Dorf: „‘Die Liebe zu Gott‘, sagte langsam, die Worte suchend, ‚ist nicht immer eins mit der Liebe zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, du, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.‘ – ‚Verstehst du mich den nicht!‘ klagte Goldmund – ‚Gewiss verstehe ich dich. Du fühlst im Weib, im Geschlecht, den Inbegriff all dessen, was du <Welt> und <Sünde> nennst. Aller anderen Sünden, so scheint es dir, bist du entweder gar nicht fähig, oder aber sie würden, wenn du sie begingest, dich doch nicht erdrücken, sie würden sich beichten und gutmachen lassen. Nur die eine Sünde nicht.‘ – ‚Jawohl, genauso fühle ich es.‘“ (36)

„‘Nein, Goldmund, ich bin nicht deinesgleichen, nicht so, wie du glaubst. Wohl halte auch ich ein unausgesprochenes Gelübde, darin hast du recht. Aber deinesgleichen bin ich keineswegs. Ich sage dir heute ein Wort, an das wirst du einmal denken: Ich sage dir: unsere Freundschaft hat überhaupt kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn, als dir zu zeigen, wie vollkommen ungleich du mir bist.“ (37)

Inzwischen war Goldmund von den Kameraden mehr und mehr gemieden und im Stich gelassen worden, vielmehr sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen und gewissermaßen verraten. Niemand sah seine Freundschaft mit Narziß gerne. Die Hämischen brachten sie als naturwidrig in Verruf, namentlich jene, welche selbst in einen der beiden Jünglinge verliebt gewesen waren. Aber auch die andren, denen es einleuchtete, dass hier kein Laster zu beargwöhnen sei, schüttelten die Köpfe. Niemand gönnte diese beiden Menschen einander; durch ihren Zusammenschluss hatten sie, so schien es, sich hochmütig als Aristokraten von den anderen abgesondert, die ihnen nicht gut genug waren; das war nicht kollegial, war nicht klösterlich, war nicht christlich.“ (38)

 

Aus dem vierten Kapitel:

„Narziß: ‚Es ist mein Ernst. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung.‘“ (46)

„Ernst blickt Narziß ihn an: ‚Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts andres, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seist mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.‘“ (47)

„‘Schau‘, sagte er, ‚es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewusstsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann.‘“ (47)

„‘Gewiss‘, sprach Narziß weiter. ‚Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistesmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenskönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an er Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben…“ (48)

Aus dem fünften Kapitel:

Goldmund, im Gespräch mit Narziß: „‘Aber wo wird das Ziel sein?‘ – Narziß lächelte schwach. ‚Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.‘ Goldmund: ‚Kein anderes Ziel für einen Mönch?‘ Narziß: O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?‘ Lange überlegt sich Goldmund die Antwort. ‚Du hast recht‘, sagte er. Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?‘ – ‚Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du.‘“ (69)

 

Aus dem sechsten Kapitel:

Nach der Nacht mit Lise: „Nun, er, Goldmund, war nicht Narziß. Ihm lag es nicht ob, diese schönen und schauerlichen Rätsel und Verwirrungen zu ergründen und Wichtiges darüber zu sagen. Ihm lag nichts ob, als seine ungewissen, törichten Goldmundwege weiterzugehen. Ihm lag nichts ob, als sich hineinzugeben und zu lieben, den betenden Freund in der nächtlichen Kirche nicht minder als die schöne warme junge Frau, die auf ihn wartete.“ (83)

Aus dem siebten Kapitel:

„Und vor ihm lag Feld und Heide, lag vertrocknetes Brachland und dunkler Wald, dahinter mochten Höfe liegen und Mühlen, ein Dorf, eine Stadt. Zum erstenmal lag die Welt offen vor ihm, offen und wartendem bereit, ihn aufzunehmen, ihm wohlzutun und wehzutun. Er war kein Schüler mehr, der die Welt durchs Fenster sieht, seine Wanderung war kein Spaziergang mehr, dessen Ende unweigerlich die Rückkehr war. Diese große Welt war jetzt wirklich geworden, er war ein Teil von ihr, in ihr ruhte sein Schicksal. Ihr Himmel war der seine, ihr Wetter das seine. Klein war er in dieser großen Welt, klein lief er wie ein Hase, wie ein Käfer durch ihre blaue und grüne Unendlichkeit. Da rief keine Glocke zum Aufstehen, zum Kirchgang, zur Lektion, zum Mittagstisch.“ (89f)

Goldmund variiert sich im Wald: „Immer und immer allein zu bleiben und zwischen den stillen schlafenden Baustämmen zu hausen und zwischen den Tieren zu leben, die vor einem davonliefen und mit denen man nicht sprechen konnte, das würde unendlich traurig sein. Keinen Menschen sehen, niemandem guten Tag und gute Nacht sagen, in keine Gesichter und Augen mehr blicken können, keine Mädchen und Frauen mehr ansehen, keinen Kuss mehr spüren, nicht mehr das heimliche holde Spiel der Lippen und Glieder spielen, o das wäre unausdenklich! Wenn ihm das beschieden wäre, dachte er, dann würde er versuchen, ein Tier zu werden ein Bär oder Hirsch, sei es auch unter Verzicht auf die ewige Seligkeit.“ (92f)

Goldmunds Gewissensbisse vor einer Nacht mit einer verheirateten Frau: „Er freute sich sehr auf den Abend, er war voll Neugierde, wie diese große blonde Frau sein möchte, was für Blicke und Töne, was für Bewegungen und Küsse sie haben würde – gewiss ganz andere als Lise. Wo mochte sie jetzt sein? Die Lise, mit ihrem schwarzen straffen Haar, ihrer braunen Haut, ihren kurzen Seufzern? Hatte ihr Mann sie geschlagen? Dachte sie noch an ihn? Hatte sie schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, so wie er heut eine neue Frau gefunden hatte? Wie schnell ging das, wie lag überall das Glück am Wege, wie schön und heiß war es und wie sonderbar vergänglich. Es war Sünde, es war Ehebruch, noch vor kurzem hätte er sich lieber töten lassen, als diese Sünde zu begehen. Und jetzt war es schon die zweite Frau, auf die er wartete, und sein Gewissen war still und ruhig. Das heißt, ruhig war es vielleicht doch nicht, aber es war nicht der Ehebruch und die Wollust, wegen der sein Gewissen manchmal unruhig war und Last trug. Es war etwas anderes, er konnte es nicht mit Namen nennen. Es war das Gefühl einer Schuld, die man nicht begangen, sondern schon mit sich zur Welt gebracht hat. Vielleicht war es dies, was in der Theologie Erbsünde genannt wurde? Es mochte wohl sein. Ja, das Lebens selbst trug etwas wie Schuld in sich – warum sonst hätte ein so reiner und so wissender Mensch wie Narziß sich Bußübungen unterzogen wie ein Verurteilter? Oder warum hatte er selbst, Goldmund, irgendwo in der Tiefe diese Schuld fühlen müssen? War er denn nicht glücklich? War er nicht jung und gesund, war er nicht frei wie ein Vogel in der Luft? Liebten ihn nicht die Frauen? War es nicht schön zu fühlen, wie er als Liebender dieselbe tiefe Lust, die er empfand, dem Weibe geben durfte? Warum also war er dennoch nicht ganz und gar glücklich? Warum konnte er in sein jungen Glück ebenso wie

Aus dem achten Kapitel:

Lydia, eine Schülerin, im Gespräch mit Goldmund: „‘Hast du denn wirklich keine Scham?‘ ‚Verzeih, sagte er demütig, ‚wir sprechen von Sachen, über die man nicht sprechen sollte. Es ist meine Schuld, verzeih mir! Du fragst, ob ich keine Scham habe. ‘Du fragst, ob ich keine Scham habe. Ja, Scham habe ich wohl. Aber ich habe dich doch lieb, du, und die Liebe weiß nichts von Scham. Sei nicht böse!‘“ (111)

„‘Hast du mich wirklich lieb, Goldmund?‘ – ‚O Ja.‘ – ‚Aber was soll daraus werden?‘ – ‚Ich weiß es nicht, Lydia. Es kümmert mich auch nicht. Es macht mich glücklich, dich zu lieben – was daraus werden wird, daran denke ich nicht. Ich bin froh, wenn ich dich reiten sehe, und wenn ich deine Stimme höre, und wenn deine Finger mir das Haar streicheln. Ich werde froh sein, wenn ich dich küssen darf.‘ – ‚Man darf nur seine Braut küssen, Goldmund. Hast du daran nie gedacht?‘ – ‚Nein, ich habe nie daran gedacht. Warum sollte ich? Du weißt so gut wie ich, dass du nicht meine Braut werden kannst.‘ – ‚So ist es. Und weil du nicht mein Mann werden und immer bei mir bleiben kannst, darum war es sehr unrecht von dir, mir von Liebe zu sprechen.‘“ (113)

„Manchmal wunderte sich Goldmund darüber, dass er nicht längst auf und davon gegangen war. Es war schwer, so zu leben, wie er jetzt lebte: geliebt, aber ohne Hoffnung, weder auf ein erlaubtes und dauerhaftes Glück noch auf die leichten Erfüllungen, an welche seine Liebeswünsche bisher gewohnt waren; mit ewig gereizten und hungrigen, nie gestillten Trieben, dabei in beständiger Gefahr. Warum blieb er hier und ertrug das alles, alle diese Verwicklungen und verwirrten Gefühle? Waren das nicht Erlebnisse, Gefühle und Gewissenszustände für Sesshafte, für Legitime, für Leute in geheizten Stuben? Hatte er nicht das Recht des Heimatlosen und Anspruchslosen, sich diesen Zartheiten und Kompliziertheiten zu entziehen und ihrer zu lachen? Ja, dieses Recht hatte er, und er war ein Narr, dass er hier etwas wie Heimat suchte und es mit so viel Schmerzen, so viel Verlegenheiten bezahlte.“ (122)

Aus dem neunten Kapitel:

Das Kapitel schildert den Weg mit Viktor, der Goldmund bestehlen will, und den Goldmund im Kampf tötet.

Aus dem zehnten Kapitel:

Im Gespräch mit Meister Niklaus: „Und warum meinst du, du müsstest Bilderschnitzer werden? Hast du schon dergleichen versucht? Hast du Zeichnungen?“ – „Ich habe viele Zeichnungen gemacht, aber ich habe sie nicht mehr. Aber, warum ich diese Kunst lernen möchte, das kann ich Euch wohl sagen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, und ich habe viele Gesichter und Gestalten gesehen und habe über sie nachgedacht, und einige von diesen Gestalten haben mich immer wieder geplagt und mir keine Ruhe gelassen. Es ist mir aufgefallen, wie in einer Gestalt überall eine gewisse Form, eine gewisse Linie wiederkehrt, wie eine Stirn dem Knie, eine Schulter der Hüfte entspricht, und wie das alles im Innersten gleich und eins ist mit dem Wesen und Gemüt des Menschen, der eben ein solches Knie, eine solche Schulter und Stirn hat. Und auch das ist mir aufgefallen, ich sah es in einer Nacht, wo ich bei einer Gebärenden helfen musste: dass der größte Schmerz und die höchste Wollust einen ganz ähnlichen Ausdruck hat.“ (153)

Goldmund schafft die Figur des Lieblingsjüngers Johannes mit den Zügen des Narziß: „Wie eine Opferhandlung vollzog er die Aufgabe, die ihm geworden war, die sein Herz ihm gestellt hatte: das Bild des Freundes emporzuheben und so aufzubewahren, wie es heut in seiner Seele lebte. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, empfand er sein Tun wie das Abtrage einer Schuld, eines Dankes.“ (156)

Aus dem elften Kapitel:

Goldmund sinniert nach über den Vorwurf von Meister Niklaus, er würde die Zeit vertrödeln und bummeln, er sei nicht zuverlässig: „Er wunderte sich selbst manchmal darüber. Hatten die paar Jahre Wanderschaft genügt, um ihn faul und unzuverlässig zu machen? War es die Erbschaft der Mutter, die in ihm wuchs und überhand nahm? Oder woran denn fehlte es? Er erinnerte sich sehr wohl an seine ersten Klosterjahre, wo er ein so eifriger und guter Lerner gewesen war. Warum denn hatte er damals so viel Geduld aufgebracht, die ihm jetzt fehlte, warum war es ihm gelungen, sich der lateinischen Syntax so unermüdlich hinzugeben und alle diese griechischen Aoriste zu erlernen, die ihm im Herzensgrund doch wirklich nicht wichtig waren? Er dachte manchmal daran herum: Es war die Liebe gewesen, die ihn damals gestählt und beflügelt hatte; sein Lernen war nichts anderes gewesen als ein inständiges Werben um Narziß, und dessen Liebe war nur auf dem Weg der Achtung und Anerkennung zu erwerben gewesen.“ (162f)

„Wie stand es nun? Wo ging sein Weg weiter? Woher kamen die Hemmnisse? Er konnte es vorerst nicht erkennen. Er konnte nur dies einsehen: dass er den Meister Niklaus zwar sehr bewundere, aber keineswegs in der Weise liebte, wie er einst Narziß geliebt hatte, ja dass es ihm zuweilen Freude machte, ihn zu enttäuschen und zu ärgern. Es hing, so schien es, mit dem Zwiespalt in des Meisters Wesen zusammen. Die Figuren von Niklaus‘ Hand, wenigstens die besten von ihnen, waren für Goldmund verehrte Vorbilder, der Meistere selbst aber war kein Vorbild für ihn.“ (163)

Goldmund naht sich im Empfinden der „großen Mutter“: „Er wusste, nicht mit Worten und Bewusstsein, aber mit dem tieferen Wissen des Blutes, dass sein Weg zur Mutter führte, zur Wollust und zum Tode. Die väterliche Seite des Lebens, der Geist, der Wille, war nicht seine Heimat. Dort war Narziß zu Hause, und jetzt erst durchdrang und verstand Goldmund seines Freundes Worte ganz und sah in ihm sein Gegenspiel, und dies bildete er auch in seiner Johannesfigur und machte es sichtbar. Man konnte sich nach Narziß bis zu Tränen sehnen, man konnte wunderbar von ihm träumen – ihn erreichen, werden wie er konnte man nicht.“ (172)

Meister Niklaus nimmt den Johannes, das Meisterstück des Goldmund in der Werkstatt ab: „Indem Niklaus nochmals langsam rund um die Figur des Johannes ging, sagte er mit einem Seufzer: ‚Diese Gestalt ist voll von Frömmigkeit und Klarheit, sie ist ernst, aber voll Glück und Frieden. Man sollte meinen, es habe sie ein Mensch gemacht, in dessen herzen es sehr hell und heiter ist.‘ Goldmund lächelte. ‚Ihr wisst, dass ich in dieser Figur nicht mich selber abgebildet habe, sondern meinen liebsten Freund. Er ist es, der die Klarheit und den Frieden in das Bild gebracht hat, nicht ich. Ich war es ja eigentlich nicht, der das Bild gemacht hat, sondern er hat es mir in die Seele gegeben.“ (176)

Aus dem zwölften Kapitel:

Goldmunds Entdeckung, dass die Menschen nichts sehen wollen: „Andern Tags konnte Goldmund sich nicht entschließen, in die Werkstatt zu gehen. Wie schon manchen unlustigen Tag trieb er sich in der Stadt herum. Er sah die Frauen und Mägde zu Markte gehen, hielt sich besonders beim Fischmarktbrunnen auf und sah den Fischhändlern und ihren derben Weibern zu, wie sie ihre Ware feilboten und anpriesen, wie sie die kühlen silbernen Fische aus ihren Bottichen rissen und darboten, wie die Fische mit schmerzlich geöffneten Mäulern und angstvoll starren Goldaugen sich still dem Tode ergaben oder sich wütend und verzweifelt gegen ihn wehrten. Wie schon manches Mal ergriff ihn ein Mitleid mit diesen Tieren und ein trauriger Unmut gegen die Menschen; warum waren sie so stumpf und roh und unausdenklich dumm und blöde, warum sahen sie alle nichts, weder die Fischer und Fischweiber, noch die feilschenden Käufer, warum sahen sie diese Mäuler, die zum Tode erschreckten Augen und wild um sich schlagenden Schwänze nicht, nicht diesen grausigen nutzlosen Verzweiflungskampf, nicht diese unerträgliche Verwandlung der geheimnisvollen, wunderschönen Tiere, wie ihnen das letzte Zittern über die sterbende Haut schauderte und sie dann tot und erloschen lagen, hingestreckt, klägliche Fleischstücke für den Tisch der vergnügten Fresser? Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wussten und merkten sie, nichts sprach zu ihnen. Einerlei, ob da ein armes, holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie!“ (179)

Aus dem dreizehnten Kapitel:

Erneute Wanderschaft – Goldmund ist wieder Vagabund: „Ein Vagabund kann zart oder roh sein, kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tag, vor Anfang aller Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm; er kann tief in sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bisschen warmes Blut durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Sesshaften, der ihn hasst, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit des Seins, an das beständige Hinwelken allen Lebens, an den unerbittlichen eisigen Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.“ (195)

Robert, ein neuer Reisegefährte, gesellt sich zu Goldmund: „Seit er gemerkt hatte, dass Goldmund eine Menge lateinischer Verse und Lieder auswendig wusste, seit er ihn vor dem Portal eines Domes die steinernen Gestalten hatte erklären hören, seit er ihn an eine leere Mauer, an der sie rasteten, mit Rötel in schnellen großen strichen lebensgroße Figuren hatte hinzeichnen sehen, hielt er seinen Kameraden für einen Liebling Gottes und beinahe für einen Zauberer. Dass er auch ein Liebling der Frauen war und manche mit einem Blick und Lächeln sich zu eigen machte, sah Robert ebenfalls; es gefiel ihm weniger, aber bewundern musste er es doch.“ (198)

Aus dem vierzehnten Kapitel:

Goldmund und Robert begegnen der Pest: „Die ganze Gegend, das ganze weite Land stand unter einer Wolke von Tod, unter einem Schleier von Grauen, Angst und Seelenverfinsterung, und das Schlimmste waren nicht die ausgestorbenen Häuser, die an der Kette verhungerten und verwesenden Hofhunde, die unbegraben liegenden Toten, die bettelnden Kinder, die Massengräber vor den Städten. Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen.“ (221)

„Er tat, was er unendlich lange nicht mehr getan hatte, er suchte einen Beichtstuhl auf, um zu bekennen und sich strafen zu lassen.“ (129)

Aus dem fünfzehnten Kapitel:

Goldmund kehrt zurück in die Stadt des Meister Niklaus: „Die Tränen waren ihm nahe, während er durch die Gassen ging, Haus um Haus wiedererkennend. Waren am Ende nicht die Sesshaften zu beneiden, in ihren hübschen, sicheren Häusern, in ihrem  befriedeten Bürgerleben, in ihrem beruhigenden und stärkenden Gefühl von Heimathaben, von Zuhausesein in Stube und Werkstatt, zwischen Weib und Kind, Gesinde und Nachbarschaft?“ (232)

Nach der Botschaft vom Tod es Meister Niklaus und dem Schließen der Werkstatt: „Wieder war die Welt voll von Tod. Eine Stunde verging, und die Dämmerung war Nacht geworden. Endlich konnte er weinen. Er saß und weinte, über die Hände und Knie fielen die warmen Tropfen. Er weinte um den toten Meister, er weinte um die verlorene Schönheit Lisbeths, er weinte um Lene, um Robert, um das Judenmädchen, um seine verwelkte, vergeudete Jugend.“

Aus dem sechzehnten Kapitel:

Goldmund bricht aus der Stadt seiner Lehre auf zum Kloster des Narziß: „Irgendwo in dieser Ferne, jenseits des Sichtbaren, lagen die verbrannte Knochen der guten Lene, dort irgendwo mochte sein Kamerad Robert noch immer auf Wanderung sein, wenn nicht die Pest ihn geholt hatte; da draußen irgendwo lag der tote Viktor, und irgendwo auch, weit und verzaubert, das Kloster seiner Jugendjahre, stand die Burg des Ritters mit den schönen Töchtern, lief arm und gehetzt die arme Rebekka oder war umgekommen. Alle diese vielen, weit zerstreuten Orte, diese Heiden und Wälder, diese Städte und Dörfer, Burgen und Klöster, alle diese Menschen, sie mochten leben oder tot sein, wusste er innen in sich vorhanden und miteinander verbunden, in seiner Erinnerung, in seiner Liebe, seiner Reue, seiner Sehnsucht. Und wenn morgen auch ihn der Tod holte, dann würde das alles wieder auseinanderfallen und auslöschen, dies ganze Bilderbuch, so voll von Frauen und Liebe, von Sommermorgen und Winternächten. Oh, es war an der Zeit, noch etwas zu schaffen und hinter sich zu lassen, das ihn überdaure.“ (248)

Als Vagabund im Gefängnis eingesperrt, auf den Tod am nächsten Morgen wartend: „Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vögel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte liegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Abschied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.“ (256)

Goldmund verabschiedet in der Kerkerzelle das Leben: „Und Abschied nehmen musste er von seinen eigenen Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lautenspielen, vom Schlafen und Erwachsen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen am Fenster, und er hörte es nicht mehr singen. Es lief der Strom und schwammen stumm die dunklen Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Sternenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dörfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen.“ (257)

Aus dem siebzehnten Kapitel:

Im Gespräch mit Narziß, jetzt Abt Johannes, der Goldmund aus dem Kerker freikauft: „Weil die Welt so voll von Tod und Grauen ist, darum suche ich immer wieder mein Herz zu trösten und die schönen Blumen zu pflücken, die es inmitten dieser Hölle gibt. Ich finde Lust, und ich vergesse für eine Stunde das Grauen. Darum ist es nicht minder dar.“ – „Du hast es sehr gut formuliert. Also du findest dich in der Welt von Tod und Grauen umgeben, und daraus entfliehst du in der Lust. Aber die Lust ist ohne Dauer, sie entlässt dich wieder in die Wüste.“ – „Ja, so ist es.“ – „Es geht den meisten Menschen so, nur empfinden es wenige mit solcher Stärke und Heftigkeit wie du, und wenige haben das Bedürfnis, dieser Empfindungen bewusst zu werden. Aber sage doch: außer diesem verzweifelten Hin und Her zwischen Lust und Grauen, außer dieser Schaukel zwischen Lebenslust und Todesgefühl – hast du nicht außerdem noch irgendeinen Weg probiert?“ – „O ja, natürlich, ich habe es mit der Kunst probiert. Ich sagte dir ja schon, dass ich unter anderem Künstler auch Künstler geworden bin. […]“ – „Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?“ – „Es war die Überwindung der Vergänglichkeit, Ich sah, dass aus dem Narrenspiel und dem Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauert: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.“ (272f)

Aus dem achtzehnten Kapitel:

Goldmund kehrt mit Narziß zurück in das Kloster seiner Kindheit und Jugend, er ringt mit Narziß um Begriffe, Bilder und Vorstellungen: „‘Verzeih, aber sind Begriffe und Abstraktionen, die du bevorzugst, nicht doch auch Vorstellungen, Bilder? Oder brauchst und liebst du wirklich zum Denken die Worte, bei welchen man sich nichts vorstellen kann? Kann man denn denken, ohne sich dabei etwas vorzustellen?‘ – ‚Gut, dass du fragst! Aber gewiss kann man ohne Vorstellungen denken! Das Denken hat mit Vorstellungen nicht das mindeste zu tun. Es vollzieht sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Formeln. Genau dort, wo die Bilder aufhören, fängt die Philosophie an. Dies war es ja, worüber wir einst als Jünglinge so oft gestritten haben: für dich bestand die Welt aus Bildern, für mich aus Begriffen. Ich sagte dir stets, du seiest zum Denker untauglich, und sagte dir auch, dass dies kein Mangel sei, da du dafür ein Herrscher im Gebiet der Bilder bist.‘“ (281)

„‘Denn indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er kann. Darum sagte ich früher so oft zu dir: versuche nicht den Denker oder den Asketen nachzuahmen, sondern sei du selbst, suche dich selbst zu verwirklichen!‘“ (282)

„‘Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen.‘“ (282)

“‘Während man singt, denkt man nicht darüber nach, ob das Singen etwa nützlich sei oder nicht, sondern man singt. Ebenso sollst du beten.‘“ (290)

Aus dem neunzehnten Kapitel:

Nach zwei Jahren Arbeit an Goldmunds Kunstwerk für das Kloster gesteht Narziß: „‘Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen. Ich dachte etwa so: da nun einmal der Mensch eine zweifelhafte Mischung aus Geist und Materie ist, da ihm der Geist die Erkenntnis des Ewigen öffnet, die Materie aber ihn hinabzieht und ans Vergängliche fesselt, sollte er von den Sinnen weg ins Geistige streben, um sein Leben zu erhöhen und ihm Sinn zu geben. Ich gab zwar vor, die Kunst hochzuachten, aus Gewohnheit, aber eigentlich war ich hochmütig und sah auf sie herab. Jetzt erst sehe ich, wie viele Wege zur Erkenntnis es gibt und dass der Weg des Geistes nicht der einzige und vielleiht nicht der beste ist. Es ist mein Weg, gewiss; ich werde auf ich bleiben. Aber ich sehe dich auf dem entgegengesetzten Weg durch die Sinne, das Geheimnis des Seins ebenso tief erfassen und viel lebendiger ausdrücken, als die meisten Denker es können.‘“ (294)

Narziß fährt fort: „‘Wir Denker suchen uns Gott zu nähern, indem wir die Welt von ihm abziehen. Du näherst dich ihm, indem du seine Schöpfung liebst und nochmals erschaffst. Beides ist Menschenwerk und unzulänglich, aber die Kunst ist unschuldiger.‘“ (295)

Narziß schaut auf seine Freundschaft zu Goldmund und auf die gemeinsame Geschichte: „Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und der Moral aus gesehen was sein eigenes Leben besser, es war ruhiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Verrichtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen, mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.“ (301f)

„Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, dass ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, dass er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne dass im Heiligtum seiner Seele das göttliche Licht und die Schöpferkraft erlosch. Tief hatte Narziß in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn waren kleiner geworden.“ (302f)

Narziß ringt mit seiner Liebe zu Goldmund: „Narziß kämpfte. Er wurde Herr darüber, er wurde seiner Bahn nicht untreu, er versäumte nichts an seinem strengen Dienst. Aber er litt unter dem Verlust und litt unter der Erkenntnis, wie sehr sein Herz, das doch nur Gott und seinem Amt gehören sollte, an diesem Freunde hing.“ (305)

Aus dem zwanzigsten Kapitel:

In der Phase des Sterbens von Goldmund: „Narziß sagt zu ihm: ‚Ich bin so froh, dass du wiedergekommen bist. Du hast mir so sehr gefehlt, ich habe jeden Tag an dich gedacht, und oft hatte ich Angst, du würdest nie mehr wiederkommen wollen.‘ Goldmund schüttelte den Kopf: ‚Nun, der Verlust wäre nicht groß gewesen.‘ Narziß, das Herz von Weh und Liebe brennend, bückte sich langsam zu ihm hinab, und nun tat er, was er in den vielen Jahren der Freundschaft niemals getan hatte, er berührte Goldmunds Haar und Stirn mit seinen Lippen. Verwundert zuerst, dann ergriffen, merkte Goldmund, was geschehen sei. ‚Goldmund‘, flüsterte ihm der Freund ins Ohr, ‚verzeih, dass ich es dir nicht früher habe sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen, als ich dich damals in deinem Gefängnis aufsuchte, in der Bischofsresidenz, oder als ich deine ersten Figuren zu sehen bekam, oder irgendeinmal. Lass es mich dir heute sagen, wie sehr ich dich liebe, wieviel du mir immer gewesen bist, wie reich du mein Leben gemacht hast. Es wird dir nicht sehr viel bedeuten. Du bist an Liebe gewöhnt, sie ist für dich nichts Seltenes, du bist von so vielen Frauen geliebt und verwöhnt worden. Für mich ist es anders. Mein Leben ist arm an Liebe gewesen, es hat mir am Besten gefehlt. Unser Abt Daniel sagte mir einst, dass er mich für hochmütig halte, wahrscheinlich hat er recht gehabt. Ich bin nicht ungerecht gegen die Menschen, ich gebe mir Mühe, gerecht und geduldig mit ihnen zu sein, aber geliebt habe ich sie nie. Von zwei Gelehrten im Kloster ist der Gelehrteste mir lieber; nie habe ich etwa einen schwachen Gelehrten trotz seiner Schwächen liebgehabt. Wenn ich trotzdem weiß, was Liebe ist, so ist es deinetwegen. Dich habe ich lieben können, dich allein unter den Menschen. Du kannst nicht ermessen, was das bedeutet. Es bedeutet den Quell in einer Wüste, den blühenden Baum in einer Wildnis. Dir allein danke ich es, dass mein Herz nicht verdorrt ist, dass eine Stelle in mir blieb, die von der Gnade erreicht werden kann.‘“ (310f)

Köln, 24.06.2020
Harald Klein