Der Grund-Satz des Paulus in Athen
Das eine oder andere Wort aus der sog „Areopag-Rede“ des Paulus in Athen wird Ihnen bekannt vorkommen. Auf dem 115 m hohen Hügel mitten in Athen tagte der Rat der Stadt; hier endete auch der erste Marathon-Lauf der Geschichte, weil ein Bote dem Rat der Stadt vom Sieg bei Marathon berichtete, so erzählt es zumindest die Legende. Schließlich ist der Areopag der Gerichtsort im alten Athen. Das ist auch der Grund, warum Bürger aus Athen den Paulus auf diesen Berg trugen – es ging um ein weniger rechtliches, eher bewertendes Urteil über die „befremdlichen Dinge“, die Paulus ihnen zu Gehör brachte.
Und genau diese Haltung können Sie annehmen, wenn Sie den „Grund-Satz“ des Paulus in dieser Rede hören, quasi mit den Ohren der Athener. Nur der eine Satz mag genügen, auf dem alles Weitere aufbaut: „In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Hören, lesen Sie den Satz, ruhige wiederholt und einige Male. Wie klingt der Satz, was empfinden Sie, den Satz hörend, lesend?
Ich möchte den Paulus-Text gerne noch einmal reduzieren, nicht nur auf diesen Satz, sondern auf die vier Worte „In Gott leben wir“. Und diese vier Worte möchte ich dann zum Gegenstand der Betrachtung machen.
In Gott leben wir – eine Ortsbeschreibung
Die kleine Präposition in „in“ steht in Zusammenhang mit dem Fragewörtchen „wo“. Das griechische Original der Apostelgeschichte hängt sogar noch an: In genau ihm, in ihm selbst leben wir. Ich lebe in Köln, Sie vielleicht irgendwo in Süd-, Ost- oder Norddeutschland. Würde ich fragen, wo genau Sie leben, Sie würden vielleicht mit Regionen, größeren Nachbarstädten oder mit dem antworten, was Ihre Stadt auszeichnet: „Da, wo …“
Ich finde es lohnend, vom Pauluswort „In Gott leben wir“ auszugehen und Gott als den Ort anzuschauen, an dem ich lebe. Ein paar kleine Impulse wolle Ihnen an dieser Sichtweise Freude machen.
Zuerst: Große Orte haben ihre Sehenswürdigkeiten. Hamburg zeigt sich mit dem Hafen von seiner bekanntesten Seite, Köln mit seinem Dom. Wenn ich in Gott lebe, anders ausgedrückt: wenn in Gott wohnen, wenn ich in Gott zu Hause bin, auf was kann ich dan
andere verweisen, wenn sie mich nach den „Sehenswürdigkeiten“ meines Wohnortes fragen? Das ist spannendes Wort: „Sehenswürdigkeit“. Es fragt danach, was des Anschauens, mehr noch: meines Ansehens würdig ist in dem Ort, in dem ich wohne und in dem ich lebe. Wohin führe ich meine Gäste und Besucherinnen und Besucher, um ihnen die Schönheit meines Wohnortes nachzubringen? Und was von der Lebenskultur meines Ortes finden sie bei mir?
Das Stichwort „Lebenskultur“ führt zu einem Zweiten: Was zeichnet Gott als „Ort“ aus, an und in dem ich zuhause bin? Der Frage können Sie mit allen Sinnen nachgehen. Was hören Sie an diesem Ort? Wie klingen die Stimmen, welche Wortwahl finden Sie vor – an dem Ort, wo Sie in Gott leben?
Wen sehen Sie an diesem Ort, wo Sie in Gott leben? Wer lebt da mit Ihnen, glücklicherweise – aber auch: wer ist auch da, den Sie lieber nicht sehen wollen? Oder schaffen Sie sich Ihren Ort „Gott“ selbst und bestimmen eigenmächtig, wer da mit Ihnen leben darf? Die Versuchung ist groß. Gut, dass Sie nur Mieter sind, eingeladen zum Mitleben, aber nicht Hausherr!
Was ertasten Sie, was können Sie greifen oder begreifen an diesem Ort, wo Sie wohnen? Mit wem gehen Sie Hand in Hand, wem oder was halten Sie abwehrend die Hände entgegen?
Wie riecht es an diesem Ort? Ahnen Sie etwas vom „Wohlgeruch Christi“, von dem Paulus in 2 Kor 2,15 schreibt? Liegt der Wohlgeruch Christi in der Luft an dem Ort, an dem Sie leben? Und was assoziiert dieser Wohlgeruch bei Ihnen?
Und schließlich das Schmecken. Wenn Sie in Gott leben, welchen Geschmack hat Ihr Leben dann? Vielleicht den Geschmack der Freiheit, der Hoffnung und der Zuversicht? Oder – nochmal Paulus in Gal 5,22f – den Geschmack der Liebe, der Freude, der Langmut, der Freundlichkeit, der Güte, der Treue, der Sanftmut und der Selbstbeherrschung? Welchen Beigeschmack nehmen Sie wahr, vielleicht verstörend oder wirklich störend? Und was machen Sie mit diesem Bei-Geschmack, was macht er mit Ihnen?
Ein Drittes: Jeder Ort, jede Stadt hat Wohlfühlorte und Meideorte. Das sind selten objektive Zuschreibungen; wo der eine sich wohlfühlt, das meiden andere. Auch diese Begriffe haben ihre Geltung, wenn Sie in Gott leben – örtlich verstanden. Da gibt es mit großer
Wahrscheinlichkeit Wohlfühlorte, an die es Sie immer wieder zieht, weil Sie sich da ganz zu Hause fühlen. Die Lebensqualität geht verloren, wenn Ihnen diese Orte genommen werden. Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie seien hier genannt. Und im gleichen Zusammenhang können auch die Meideorte bedacht werden. Nur: auch sie gab es schon lange in Gott, in dem wir leben, lange vor der Pandemie. Da mal alleine in der Betrachtung oder in der Gruppe einen Blick hinwagen: Welche Orte in Gott meide ich, weil mir, weil mir unwohl ist dabei? Und dann ins Gespräch gehen, was da wohl dahinterstecken mag. Diese Antworten finden heißt, seinen Lebensraum weiter machen, und das entspricht dem Gebet des Jabez in 1 Chr 4,10: „Möchtest du mich segnen und mein Gebiet erweitern.“
In Gott leben – und die „Nachbarländer“?
Nun geht manchmal der Blick auf die eigene Familie, auf die Menschen um uns herum – und Sie stellen fest: Da gibt es Auszüge, Umzüge, Wegzüge – die, die einmal mit Ihnen in Gott lebten, die gehen. Da gibt es Nachbarstädte, Nachbarländer, die für die anderen gute Orte zum Leben zu sein scheinen oder auch sind, auch wenn Sie da persönlich nicht hinwollen.
Sie leben in Gott – und andere, auch die, die Ihnen lieb sind, leben woanders. Schnell kommt man ins Vergleichen. „Was unterscheidet Deinen Ort von meinem Ort?“ Oder: „Was fehlt Dir – aus meiner Sicht?“ Das Sprechen geht dann ganz schnell. „Was fehlt mir – aus Deiner Sicht?“ Fragen und Hören fällen dann schon eher schwer. Von dem, der in Gott lebt, darf man erwarten, dass er erst verstehen will, bevor er ein Urteil fällt: „Magst Du mir erklären, warum Du gehst?“ oder: „Kann ich etwas tun, um Dich in der Entscheidung zu begleiten?“ Es gehört zu den wirklich schmerzhaften Prozessen des Lebens, jemanden gehen zu lassen, weg von dem Ort, an dem man lebt, wenn er, wenn sie einen Platz im Herzen hat.
Wenn Ich in Gott lebe und Sie nicht, bleibt immer noch die Möglichkeit und die große Chance, zu fragen, was uns verbindet. Im staatlichen Recht kann ich meinen Personalausweis zeigen und belegen, wo ich lebe. Beim Leben in Gott fehlt Ihnen dieser Ausweis – da ist ein Aufweis wichtiger. Ihr Taufschein entscheidet über die Zugehörigkeit zu Gott; ob Sie in ihm leben, zeigt sich in Ihren Haltungen, in Ihren Werten und in Ihrem Tun und Unterlassen.
Dafür gibt es absolut keinen Ausweis, das geschieht eben nur über den nach außen sichtbaren Aufweis Ihres Tuns und Unterlassens. Hier werden Ihre Haltungen und Werte sichtbar. Hier drückt sich Ihre Beziehung zu Jesus Christus aus. Und hier wird Ihre Herkunft deutlich. Wieviel Ihres Tuns und Unterlassens, Ihrer Haltungen und Werte deckt sich mit denen, die nicht in Gott, sonders woanders wohnen? Der Frage nachzugehen wird Sie wundern lassen!
Und was, wenn Sie einmal eingeladen sind, zu Gast sind bei denen, die nicht in Gott wohnen? Was bringen Sie da als Gastgeschenk mit? Für die, die in Gott leben, wäre es doch angebracht, wenn deren Geschenk etwas mit Leben zu tun hätte; das kann gegenständlich sein, aber auch persönlich, in der Zeit, die Sie schenken, im Zuhören, im Trost. Das, was Sie geben, sollte im besten Sinne des Wortes ein Souvenir aus Gott, ein Souvenir Gottes ein – das französische Wort wird substantivisch übersetzt mit „Erinnerung“ und verbal als „sich erinnern“. Das, was Sie denen schenken, die entweder mit Ihnen in Gott leben oder die woanders zu Hause sind, soll an Gott erinnern, sei es im Sinne eines „auf die Spur Bringens“ oder im Sinne eines „Rückerinnerns an Gewohntes von früher.“ Sie dürfen selbst ein Souvenir Gottes sein!
Kirche in Gott – nicht: Gott in Kirche
Und ein letzter Gedanke ist mir wichtig: Im besten Sinne kann man sagen, dass die Kirche in Gott lebt und Gott in der Kirche. Aber: Gott hat die Kirche, nicht umgekehrt! Und von daher ist es ein überaus spannendes Unterfangen, dem nachzugehen, wie und wo die Kirche in Gott lebt und wo nicht, aber auch, wie und wo denn andere auch in Gott leben! Da gilt dann eben nicht mehr „Wir“ und „die anderen“. „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ – das dreimalige „Wir“ gilt den Athenern, und Paulus sagt es in einer ihm fremden Stadt. Und das ist der „Grund-Satz“ des Paulus, zumindest in seiner Rede auf dem Areopag!
Harald Klein, Köln
* 1961, Priester und Sozialpädagoge
mit Schwerpunkt
„Spiritualität für Soziale Berufe“,
gebundenes Mitglied in der GCL