(K)Ein Recht auf Vergessen – Zum Umgang in/mit Medien

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Eine zeitgemäße Form von „Verfolgung“?

„Sei vorsichtig, was du sagst oder schreibst!“
„Überleg‘ dir gut, mit wem du dich anfreundest!“
„Was du jetzt tust, kann in einigen Jahren ernste Konsequenzen für dich haben!“

Solche Aussagen gehören in Deutschland keineswegs der Vergangenheit an. In den letzten Jahren haben sie eine Wiedergeburt erlebt, die deutlich macht: Deine Vergangenheit kann dich jederzeit wieder einholen. Das hat nichts damit zu tun, dass die Nationalsozialisten oder die Stasi wiedergekehrt wären. Die Aussagen warnen aktuell auch nicht vor einem freiheitsraubenden System. Im Gegenteil: Sie warnen vor den möglicherweise negativen Konsequenzen nahezu grenzenloser Freiheit.

Die Rede ist vom Internet. Dessen stets verfügbare und schier unbegrenzte Möglichkeiten sind in den demokratischen Staaten bisher kaum reguliert. Das ist in gewisser Hinsicht ein Segen. Vor allem wir Unter-30-Jährige, die mit dem weltweiten Netz aufgewachsen sind, nutzen es selbstverständlich und mit schlafwandlerischer Sicherheit. Dabei schätzen wir seine großartigen Chancen: Alle sind gleich; alle haben die Möglichkeit, sich zu bilden, zu amüsieren und mit Leuten auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten oder zu bleiben. Wir können uns ein Leben ohne Internet nicht vorstellen. Und zugleich wissen wir, dass diese Freiheit nicht nur Vorteile birgt.

Denn das Internet vergisst nichts. Und manch ein.e Nutzer.in hat nur den eigenen Vorteil im Sinn. Wir haben schon früh gelernt: Alles, was wir im Internet oder mit dessen Hilfe tun, kann gegen uns verwendet werden. Damit müssen wir leben (lernen). Doch unsere Eltern und ältere Freunde fragen uns regelmäßig ungläubig:
Wie geht das?
Wie kann ich frei leben, wenn meine Vergangenheit jederzeit gegenwärtig ist?

Die Antwort: Es ist in erster Linie eine Frage von Wissen und ethischen Entscheidungen. Nur wenn ich weiß, was mein Tun für Konsequenzen haben kann, bin ich in der Lage zu entscheiden:
Will ich dieses Risiko in Kauf nehmen?
Und wenn nicht: Was kann ich ändern?

Aspekt 1: Personalisierte Werbung

Jeder sollte wissen: Alles, was man im Internet tut, hinterlässt eine Spur. Cookies und Tracker – kleine automatisierte Programme – verfolgen auf dem PC, dem Handy und dem Tablet, welche Webseite ich wann aufgerufen habe, wie lange ich dort war und was ich angeklickt habe. Diese Informationen helfen den Webseiten-Betreibern ihren Auftritt zu verbessern. Aber sie finden auch heraus, was ich im Internet suche. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf mein Leben zu. Wer einmal eine Regenjacke von Jack Wolfskin angeklickt hat, bekommt danach regelmäßig Werbung für Outdoorkleidung angezeigt. Am häufigsten von der Marke mit der Wolfs-tatze. Wer nach Ski-Ausrüstung sucht, erhält plötzlich vermehrt Werbung für Hotels in den Alpen. Und wer nach gesunden Rezepten sucht, sieht sich fortan häufiger mit Diät-Werbung konfrontiert.

Aspekt 2: Payback & Co

Die Möglichkeit, diverse Informationsschnipsel zu einem Datenbild zusammenzusetzen, beschränkt sich jedoch nicht auf das Internet. Mithilfe von digitalen Technologien findet diese Profilbildung auch im „ganz normalen“ Leben statt. Insbesondere die Sammelkarten, wie Payback, wurden nicht deshalb eingeführt, um den Nutzer.innen aus übergroßer Herzensgüte Gutscheine und Rabatte zukommen zu lassen. Deren Ziel besteht in erster Linie darin, möglichst viele Daten zu sammeln, diese auszuwerten und dann zu verkaufen. Und wir machen es den Datendealern leicht. Freiwillig geben wir preis, ob wir bio oder billig, gesund oder Fastfood, Luxus- oder Basisgüter einkaufen. Die Datendealer wissen, wieviel Alkohol wir trinken, was wir tanken und welche Zeitschriften wir lesen. Und schon kleine Änderungen im Kaufverhalten lassen Rückschlüsse auf unser Leben zu, die sich – ohne entsprechende Regeln – in Zukunft so auswirken könnten: Eine Frau kauft sich eine Immobilienzeitschrift (was sie sonst nicht tut) und etwas mehr Schokolade als im Durchschnitt. Daraus könnte man schlussfolgern, dass sie traurig ist und nach einer neuen Wohnung sucht. Vielleicht will sie sich scheiden lassen. Das könnte teuer werden. Die Konsequenz: Die Bank senkt ihre Kreditwürdigkeit.

Theologisch, ethisch oder geistlich gesehen sind diese ersten beiden Aspekte auf den ersten Blick nicht so ausschlaggebend. Sie machen deutlich, dass ein Mensch in seiner Personalität für andere nur unter einer Hinsicht von Bedeutung ist: er ist „potentieller Kunde“. Das mag für die, die plötzlich „Kaufempfehlungen“ oder „Gutscheine“ per Mail oder Post erhalten, ärgerlich sein. Dem Umstand, „potenzieller Kunde“ zu sein, geistlich begegnen kann heißen, auf die zu vertrauen, die in mir „mehr“ als nur einen Kunden/eine Kundin sehen. Mehr als ärgerlich ist aber die Flut an Papier und an Zeit, die mit diesem „Trash“ (= Müll) verbunden ist. – Ethisch verwerflich sind allerdings die Konsequenzen, die entstehen, wenn aus dem „Kundeverhalten“ auf die Persönlichkeit als Ganze geschlossen wird. Hier kommt zum ersten Mal die Macht in den Blick, die anderen durch unser Konsumverhalten mehr oder weniger freiwillig eingeräumt wird! Und genau hier ist zum ersten Mal Achtsamkeit und bewusste Entscheidung gefragt.

Aspekt 3: Die Verfolgung des Weges

Auch wer gar nichts aktiv tut, sondern „nur“ unterwegs ist, hinterlässt eine Datenspur. Zumindest dann, wenn ein Handy dabei ist. Denn dieses verbindet sich, um erreichbar zu sein, automatisch mit dem nächsten Funkmast. Somit lässt sich anhand der Einlogg-Daten zumindest grob nachvollziehen, wo man sich wie lange aufhält. Ganz genau erfährt Google, wo ich bin, wenn ich in meinem Android-Gerät nicht die Funktion „Standortverfolgung“ ausschalte. Solange ich mir von meinem Handy den Weg zeigen lasse, ist es ja absolut sinnvoll, dass es weiß, wo ich bin. Aber wenn man einfach nur einkaufen geht und das Handy dabei und eingeschaltet hat, falls jemand anruft, muss niemand so ganz genau wissen, wo ich bin. Denn auch aus diesen Daten lassen sich Schlüsse ziehen. Und mit ein bisschen krimineller Energie können diese gegen mich verwendet werden. Wenn man beispielsweise weiß, dass ich jeden Montagabend beim Chor und demnach nicht zu Hause bin, kann man zu dieser Zeit relativ risikofrei bei mir einbrechen. (Wenn man davon ausgeht, dass ich alleine wohne.)

Theologisch, ethisch oder geistlich gesehen wird deutlich, dass nicht nur Alfred Delps Wort „Gottes Kraft geht alle mit“ stimmt. Unbedarftheit im Umgang mit manch einer Funktion – etwa der Standortbestimmung – erlaubt auch „Ungeistern“, mich und meine Wege zu verfolgen. Und das nicht nur in „Real-Time“, also gegenwärtig. Das Speichern meiner Daten zeigt und speichert feste Gewohnheiten, zeigt und speichert Lieblingsorte und Knotenpunkte meines Lebens. Zunächst einmal ist die „Standortbestimmung“ indifferent, doch mangelnde Achtsamkeit „erlaubt“ manch einem Ungeist, sich die „Standorte“ und „Standpunkte“ meines Lebens zunutze zu machen.

Aspekt 4: Soziale Netzwerke

Aus besonders weit entfernter Vergangenheit kann ein Eintrag aus einem sozialen Netzwerk, wie Facebook, mich wieder einholen. Schon bevor man uns als Jugendlichen zugetraut hat, wählen zu gehen oder den PKW-Führerschein zu machen, wurde uns eine andere Form der Verantwortung eingebläut: Sei vorsichtig, was du im Internet veröffentlichst. Denn schon vor mehr als zehn Jahren haben sich Personaler in Unternehmen die Profile in sozialen Netzwerken von Bewerber.innen genau angesehen. Ob solche Recherchen dazu führen, dass manche gar nicht erst eingeladen werden, ist nicht belegt. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, denn Personaler ziehen aus Fotos oder kurzen Kommentaren häufig ihre eigenen Schlüsse. So ist es durchaus üblich, dass man im Bewerbungsgespräch Fragen gestellt bekommt, wie „Im Sommer 2007 haben Sie sehr viele Partybilder hochgeladen. Warum haben Sie in dieser Zeit nicht noch ein studienvorbereitendes Praktikum gemacht, so wie andere Mitbewerber?“

Theologisch, ethisch oder geistlich gesehen wird hier sicher am ehesten deutlich, welche Rolle die Achtsamkeit und die bewusste Entscheidung spielen. Wieder gilt: das Medium an sich ist indifferent, sein bewusster Gebrauch entscheidet über „gut“ und „böse“, über „Leben“ und „Tod“. Das Bild, das „Profil“, das ich z.B. in Facebook hinterlasse, liegt in meiner Verantwortung, auch, wen ich als „Freund“ oder „Freundin“ akzeptiere. Dass ich Verbindung halte, mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, mit Freundinnen und Freunden im Ausland, mit Arbeitskolleginnen und – kollegen, mit denen aus der Gemeinschaft, ist erst einmal ein Gewinn. Immer muss mitgewusst werden und in die Entscheidung mit hineinfließen, dass vieles „öffentlich“ ist und das alles aufgehoben, bewahrt bleibt, auch für diejenigen, denen meine Kontakte und mein Tun besser verschlossen bleiben sollten.

Aspekt 5: Alte Berichterstattung

Selbst die guten alten Medien, wie Zeitungen und Zeitschriften, können die Vergangenheit im digitalen Zeitalter zur ewigen Sündenfalle werden lassen. Denn die meisten Printprodukte haben mittlerweile ein digitales Archiv aufgebaut, das zum Teil bis in die 1960er Jahre zurück reicht. Das kann – gerade für junge Menschen – sehr interessant sein, weil man plötzlich Zugriff auf die Originalberichterstattung aus „historischer Zeit“ hat. Doch eine solche Archivierung sorgt auch dafür, dass kleine Jugendsünden ebenso wie falsche oder unvollständige Berichte noch Jahrzehnte später abrufbar sind. Somit entsteht ein doppeltes Problem: Das Internet vergisst nicht. Und es verzeiht auch nicht.

Theologisch, ethisch oder geistlich gesehen ist das sicher das schwerwiegendste Problem, da es sich meiner Verfügung entzieht. Jemanden „googlen“ heißt, alles zu finden, was die Medien über ihn berichten. Wenn Gott in seiner Barmherzigkeit alle meine Sünden hinter seinen Rücken geworfen hat (vgl. Jes 38,12) und mit mir gemeinsam nach vorn schaut, so setzt die Namensrecherche unbarmherzig meine Vergangenheit gegenwärtig. Jemandes Persönlichkeit wird von dem bestimmt, was das Netz über ihn berichtet. Es gibt kein Recht auf Vergessen im Netz, aber es gibt den theologischen, ethischen und geistlichen Aufruf für eine Hoffnung auf Vergebung und darauf, mit dieser Art von „Macht“ barmherzig umzugehen. Die Gegenwart eines Menschen ist keine bloße Verlängerung oder Verewigung/ Perpetuierung seiner im Netz ausgewiesenen Vergangenheit. Die geistig Wachen im Netz haben gelernt, damit umzugehen! Die „Opfer“ dieser Bloßstellungen müssen es oft neu lernen.

Marina Engler, Freie Journalistin
mit den Schwerpunkten
Wissenschaft + Verbraucherschutz, Köln
Harald Klein, Köln