Karfreitag: Ulla Hahn – Wort halten / Karfreitag

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Der Grundton: Zitat aus dem Tagesevangelium

Sie nahmen den Leichnam Jesu
und umwickelten ihn mit Leinenbinden,
zusammen mit den wohlriechenden Salben;
wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.
An dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten
und in dem Garten war ein neues Grab,
in dem noch niemand bestattet worden war.
Wegen des Rüsttages der Juden
und weil das Grab in der Nähe lag,
setzten sie Jesus dort bei.

Joh 19,40-42

Die Terz: Ein lyrischer Konnex

Wort halten (1985)[1]

Ich kam zu spät. Das warme Bett
war leer. Sperrangel
weit standen beide Fenster offen.

Händedrücken mit vielen Leuten.
Fremde. Für persönliche Dinge
war der Plastiksack da.

Den Gang entlang rollten rosige Arme
die Wagen mit Schonkost. Wir stiegen
zum Keller hinab. Das letzte Fach unten rechts.

In diesem weißen Tuch
das ihr der Sohn um Kopf und Kinn gebunden
sah sie fast wie auf ihrem Hochzeitsfoto aus.

Ich roch den Fliederstrauß
auf ihrer starren Brust.

Aus: Hahn, Ulla (2013): Gesammelte Gedichte, München, 272.

Karfreitag (2011)

Karfreitag nach dem Deutschen Requiem von Brahms
In langen Zeilen geht der Tag voran in langen Stunden
durch dürres Gras in das der Wind der Wunsch hineinfährt
tonlos hineinfährt in die gelben Glocken auf den hohen Stengeln
der Wind der Wunsch
nach einem Wiedersehen mit den geliebten Toten
und wenn nicht Wunsch so doch die
Sehnsucht diesen Wunsch zu wünschen
als könne einer da sein der ihn hört
und zu erfüllen in Erwägung zieht.

Aus: Hahn, Ulla (2013): Gesammelte Gedichte, München, 749.

Die Quint: Was ins Klingen kommt

für die persönlichen dinge
der plastiksack der gelbe wohl
und für die person
auch

tot sei heißt
entsorgt sein aber auch
entsorgt werden

wenn der todessturm mir
durch mark und bein geht
habe ich dann
den wunsch nach dem wiedersehen
oder wenigstens den wunsch nach dem wunsch

oder auch nur die hoffnung
einer könnte da sein der ihn hört
und zu erfüllen in erwägung zieht

das bild vom plastiksack
vom letzten fach unten rechts

mich lässt der tod der anderen oft gleichgültig
er ist gleich gültig
und zum eigenen sterben
finde ich weder wunsch noch verhältnis

Köln, 07.04.2023
Harald Klein

[1] Die Gedichte im Band Widerworte (2011) entstanden in einem poetischen Dialog mit Gedichten aus den ersten vier Banden der achtziger Jahre. „Karfreitag“ (2011) steht in Bezug und im Dialog zu „Wort halten“ (1985)