„Krumme Stufen“ – Die größere Wirklichkeit im Gedicht

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Im Gespräch mit Madeleine Delbrel und Hermann Hesse

An einem Sonntagvormittag habe ich mir zwei „Weggefährten“ eingeladen, um über die „größere Wirklichkeit“ nachzudenken: Madeleine Delbrel und Hermann Hesse.

Wie der Abraham in den „Gebetshilfen“ kennen beide den Reichtum des Lebens, sehen die konfliktträchtigen Veränderungen um sich herum und in sich selbst, sind sie bereit zu „Aufbruch und Neubeginn“, wie es Hesse in seinen „Stufen“ beschreibt. Und das Wichtige: sie vertrauen auf je ihre Weise dem Geführt werden im Aufbruch.

Madeleine Delbrel – Der „Ball des Gehorsams“

Madeleine Delbrel spricht im „Ball des Gehorsams“ vom „Tanz der Welt“. Unweigerlich denke ich an den Tanz um das Goldene Kalb beim Wüstenzug Israels. Eingerichtet in mein „kleines Land“, versuche ich, zu halten, was ist, zu bewahren, was ich mir erworben habe und was mich – scheinbar zumindest – ausmacht. Das kostet Kraft, und es führt in eine ständige und bedrohliche Angst. Was für ein „Tanz“! Ich höre Hesses Zwischenruf: „… zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern!“. Festhalten wollen führt unweigerlich zu Konflikt und Gewalt. Wirklichkeit ist größer.

Hermann Hesse – Die Notwendigkeit des „Aufbruchs“

Und Hesse wie auch Madeleine Delbrel erinnern an die Notwendigkeit des „Aufbruchs“ in Freude und Vertrauen. Hesse spricht vom Herz, dass bereit ist zum Aufbruch und zum Neubeginn dann, wenn das Leben ruft. Madeleine Delbrel spricht vom Bedürfnis zum Tanz, das in der wirklichen Freude am Herrn gründet. Sie hält diese Freude am Tanz im „Ball des Gehorsams“ denen entgegen, die behaupten, Gott zu dienen mit den Minen von Feldwebeln, Gott zu kennen mit dem Gehabe der Professoren und zu ihm gelangen zu können nach den „Regeln des Sports“. Es ist in der Tat leicht, mein „Gebetspensum“ abzuleisten, die „Lebensmittel“ unserer Gemeinschaft zu absolvieren, die Sprache unserer Gemeinschaft zu sprechen, ihre Rituale und Werte mir „einzuverleiben“. Ich kenne die Schritte des Tanzes, den meine Gemeinschaft will, aber das macht aus mir noch keinen guten Tänzer im Ball des Gehorsams! Mein Leben, so sagt mir Madeleine Delbrel, ist dann eher eine „Turnübung“ vor Gott, weil ich mich nicht von der Musik des Geistes Gottes leiten lasse. Und Hesse fügt an: „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen. Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“

„Na gut, ich will ja keinen Tanz ums goldene Kalb, aber könnt Ihr beide mir verraten, wie ich denn den Tanz im ‚Ball des Gehorsams‘ lernen kann?“ – „Um gut tanzen zu können …“, erklärt Madeleine Delbrel. Und ich schrecke zurück. Heißt das Ziellosigkeit? Heißt das „Heute so, und morgen anders“? Mit Abraham und Lot kann ich doch mein Leben als Pilger sehen, als einer, der unterwegs ist auf ein Ziel. Das unterscheidet den Pilger und die pilgernde Kirche vom Vagabunden der Postmoderne, der heute dieses Ziel und morgen ein anderes hat. „Nein“, antwortet Madeleine, „es geht um das Pilgern, aber nicht auf einen Ort, einen Zustand, eine festzuhaltende Weise des Lebens hin – sondern Pilgern auf den, aus dem, im Gehorsam auf Gott hin!“ Und Hesse fügt hinzu: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen…“ Und er fährt fort: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

Ich stimme beiden innerlich zu, wissend, wie schwer das ist – auf den ersten Blick zumindest. Ich sehe die Stationen meines Lebens,  sehe meine alten Eltern, deren Leben sich dem Ende neigt. Ich denke an Menschen in unserer Gemeinschaft, die selbst oder deren Angehörige von schwerer Krankheit gezeichnet sind. Ich sehe die Gewalt und die Not im „Tanz der Welt“, Konflikte, bei denen ich nicht nur den Fernseher, sondern auch mein Hinsehen abschalten will.

Und Madeleine bohrt sogar noch nach: „Wir könnten sogar erraten, welchen Tanz Gott getanzt haben will…“ Und Hesse besänftigt: „Und jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt, und der uns hilft zu leben.“

„Stufen“ sind etwas anderes als „Karriereleitern“

Jetzt wird mir deutlich, dass ich sein Gedicht wohl missverstanden habe. „Stufen“ – damit verbinde ich so etwas wie „Karriereleitern“ meines inneren und äußeren Lebens, verbinde ich das Erlernen eines Gebetsweges, der mich mehr und mehr zu Gott führt. Es gibt die „Stufen der Vollkommenheit“ des Kartäusermönches Guido aus dem 12. Jahrhundert: lectio – meditatio – oratio – contemplatio. Ich habe die Jakobs Traum von der Himmelsleiter vor Augen. Aber das ist falsch. Das Leben, die „je größere Wirklichkeit“ hat „krumme Stufen“, zum Leben gehören auch „krumme Zeilen“ – auf denen Gott gerade schreiben will. Die „Melodien in Moll“, sagt Made-leine, bringen uns nicht aus dem Takt, wenn wir nicht vergessen, dass das Leben in Gottes Armen getanzt sein will.

„Krumme Stufen“ – Hesse lacht! Davon, dass seine „Stufen“ geradeaus und nach oben gehen, habe er nichts geschrieben. Da sei wohl eher der Wunsch bei mir der Vater des Gedankens gewesen. Im Gegenteil: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben.“ Die Bindung, die bei allem und in allem bleibe, sagt Madeleine, ist die Bindung an die haltenden Arme Gottes. Das Leben will in Gottes Armen getanzt sein, und Gott habe unerschöpfliche Phantasie, mahnt sie an.

Irgendwann in der Geistlichen Begleitung gerade in schweren Zeiten, erinnere ich mich, kommt die Frage nach dem „Segen“ der auch im Schweren, im Unbegreiflichen liegt. Das geht nicht „mittendrin“. Das geht aber oft „danach“. “Sag, was hast du vor mit mir“, hat schon Teresa von Avila gefragt. Ich kann in meiner gegenwärtigen „Lebensstufe“ – Hesse lächelt – meine Tanzschritte perfektioniert haben. Und wenn dann der Takt, der Rhythmus sich ändert? Auf den „Stufen“ weiter nach „oben“ zu gehen kann dann heißen, nach links, nach rechts, sogar zurück, nach hinten oder unten zu gehen. Sich im Tanz der Führung eines anderen zu überlassen meint, Teresas Frage zu stellen, besser: zu leben: „Sag, was hast du vor mit mir?“

In meinem „Tanz“ auf dem „Ball des Gehorsams“ mag es Konflikte geben – gelöst werden sie nur im Einschwingen in die Lebensmelodie, die Gott vorgibt – auch wenn sie meinen gelebten, gewohnten und gekonnten Tanzschritten (noch) nicht entsprechen.  Nicht dem von mir gelernten Tanzmuster zu folgen, sondern neue Schritte, mich selbst, von Gott her „erfinden zu lassen“, so sagt es Madeleine. Es mag Tabus geben, Dinge, Sachverhalte, Begegnungen, über die ich nicht reden mag – sie lösen sich auf, wenn ich sie, gehalten von Gottes Arm, wenigstens im Gebet, eher noch im Gespräch an-und ausspreche, damit der gemeinsam Tanz des Lebens weitergehen kann. Und Hesse fügt an: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…“  – und das „niemals“ nimmt mir die Angst. – Der Vormittag neigt sich dem Ende zu. Ich bedanke mich bei den beiden für ihren Besuch, für das Gespräch, und Hesse ruft mir zu: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Madeleine Delbrel: Der Ball des Gehorsams

Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr,
könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen
Um gut tanzen zu können,
braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt.
Man muss ihm nur folgen,
darauf gestimmt sein, schwerelos sein.
Und vor allem: man darf sich nicht versteifen,
sondern ganz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend
einschwingen in den Takt des Orchesters,
den du auf uns überträgst.

Wir haben so oft die Musik deines Geistes vergessen,
wir vergessen, dass es monoton und langweilig
nur für grämliche Seelen zugeht,
die als Mauerblümchen sitzen am Rand
des fröhlichen Balls deiner Liebe.

Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres
Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid.
Gib, dass wir unser Dasein leben
nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist,
nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen,
sondern wie ein Fest ohne Ende,
bei dem man dir immer wieder begegnet,
wie einen Ball, wie einen Tanz,
in den Armen deiner Gnade,
zu der Musik allumfassender Liebe.

Hermann Hesse: Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

Für die Gruppe:

Einige der Zitate aus Madeleine Delbrels „Ball des Gehorsams“ können kopiert, vergrößert und auf Kärtchen auf dem Tisch ausgelegt werden.

Als Impuls: Welche Lebensumstände machen es mir gerade schwer, den Tanz am Ball des Gehorsams zu tanzen? Wer oder was kann mir helfen, mich in diesen „Tanz“ einzustimmen? – Wo, wann, wie habe ich diesen Tanz schon lernen müssen oder können?

 

Harald Klein, Köln