Lebenswelten einer „Generation im Aufbruch“

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Eine „Generation im Aufbruch“

Der „Aufbruch“ ist eines der alttestamentlichen Motive, die am ehesten mit Abraham oder später mit dem Volk Israel in Verbindung gebracht werden können. Auf Gottes Ruf hin verlässt Abraham seine Heimat und flieht Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. Außer der Zusage Gottes und der Hoffnung auf die Erfüllung dieser Verheißung haben sie nichts – höchstens noch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten („Ressourcen“ würde man heute sagen) und die Hoffnung auf Unterstützung durch Wegge- fährten und gute Führungspersönlichkeiten.

Sicher hat die 17. Shell-Jugendstudie nicht dieses Motiv im Hinterkopf gehabt, als sie im Jahr 2015 etwas mehr als 2500 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren nach deren Leben, Erleben, Werten und Hoffnungen befragte. Und doch spricht sie zusammenfassend von einer „Generation im Aufbruch“.

Aufbruch – von wo?

Da ist der Aufbruch von zu Hause. Mit dem Abitur nach G8 sitzen in den Hörsälen zum Teil 17jährige Studierende, mit 15 oder 16 Jahren beginnen andere ihre Berufsausbildung. Wohn- und Arbeits- bzw. Studienort sind in vielen Fällen nicht mehr identisch, viele legen ein „Auslandsjahr“ ein. Was noch vor kurzem als „Generation Praktikum“ bezeichnet wurde, als Zeit, das eine oder andere einfach mal auszuprobieren, um bewusst „reifen“ zu können, ist jetzt zielorientierter. Der Aufbruch geht auf ein Ziel hin. Und trotzdem durchzieht diese Zielgerichtetheit ein Moment von Freiheit – man möchte Sicherheit am Studienort für Bachelor- und Masterprüfung, aber danach ist es gleich, ob man im Süden oder Norden, Osten oder Westen, Deutschland oder Europa einen Platz findet. Und es ist eine Bereitschaft da, von dort auch wieder aufzubrechen, wenn das Ziel lohnend ist.

Karriere oder Nützlichkeit?

 War vor einigen Jahren noch der Wunsch nach Karriere und Macht federführend, steht jetzt mehr und mehr der Wunsch im Vordergrund, etwas Nützliches zu tun. Die Arbeit soll sinnvoll und sinnstiftend sein, sie soll sich in den Lebensplan einfügen. Aber auch das Leben neben der Arbeit wird neu und stärker betont. Junge Erwachsene sind nicht nur ansprechbar für das, was ihnen sinnvoll und sinnstiftend erscheint, es lohnt auch hinzuhören, was sie den Älteren als neu sinnvoll und sinnstiftend zu sagen haben. Hier geht es nicht um einen „Bruch“ mit alten Werten, sondern darum, diese „alten“ Werte so im Hier und Jetzt zu leben, dass sie Orientierung und Halt geben. Die Umfrage zeigt, wie hoch Werte wie Treue und Fleiß, aber auch die Suche nach Regeln und Ordnung im Ansehen und Ansinnen dieser Genration stehen. Die Werte bleiben, die Weise, sie zu leben, nimmt neue Formen an.

Mut zur Selbständigkeit

Da ist als zweiter Aufbruch der Aufbruch in die Selbständigkeit. Die Unsicherheiten des Lebens mögen ebenfalls nicht einfach „mehr“ geworden sein, aber „anders“ sind sie geworden. Es sind nicht die Fragen nach der eigenen Rente bei zerbrechendem Generationenvertrag oder die Sorge um Arbeitsplätze. In beidem setzt die Generation der 12-25-Jährigen auf die Politik und traut der deutschen Demokratie viel zu. Probleme dieser Art werden als „pragmatisch zu behandeln“ erlebt und gewertet. Es sind die Unwägbarkeiten, die aus der Erfahrung des Terrors und der außereuropäischen Kriege erwachsen. Hier, auf einer Ebene des Irrationalen und des Nicht-Planbaren, helfen keine althergebrachten Orientierungen mehr. Die Situation ist ein wenig mit dem Wüstenzug Israels vergleichbar: Keiner weiß, was der nächste Tag bringen wird. Die, die ihn beeinflussen, sind global tätig.

Bewegungen in der Gesellschaft

Die „Generation im Aufbruch“ kennt zum Teil aus ihrer Kinderzeit die Diversität, die Buntheit der Gesellschaft. Nicht erst die Universität oder der Betrieb, schon die Grundschule ist „bunt“. Das, was uns Älteren „fremd“ scheint, ist für diese Generation das „Gewohnte“. Mit steigendem Grad der Bildung, des Platzes in der Gesellschaft und der Intensität der erfahrenen Sicherheiten aus dem Elternhaus entwickelt sich die Zustimmung bzw. die Ablehnung zu einem bunten Deutschland auf allen Ebenen, die eben „bunt“ sein können. In der Bildsprache der Rede von P. Adolfo Nicolás SJ beim Weltdelegiertentreffen der GCL von 2013 heißt das: Diese Generation hat die „Sprache des Aufbaus und der Geschichte“ und die „Sprache der Unterscheidung und der Prophetie“ hinter sich. Sie sehnt sich nach einer „Sprache der Weisheit“, die Glaubende und Nichtglaubende gleichermaßen anspricht. Nach einer Sprache, um die Ränder und Grenzen in der heutigen Welt zu erreichen – die ja zum Teil vor der eigenen Haustür zu finden sind. Sie sehnt sich nicht nur danach, sie ist auch „sui generis“, von sich und ihrem Erleben aus in der Lage, in dieser „Sprache der Weisheit“ zu kommunizieren.

Das geschieht nicht vorrangig durch Worte, sondern durch Tun, durch Unterlassen und in Haltungen. Das Engagement dieser Generation in der Arbeit mit Menschen auf der Flucht sei hier nur als Beispiel angeführt. Das Interesse an Politik ist gestiegen, wenn auch die Formen des politischen Engagements sich verändert haben. Es ist „individualisierter“ geworden. Ob Nahrungs- oder Kleiderkauf, die Frage nach dem Herkunftsland, nach den Umständen der Produktion, nach den gerechten Verhältnissen spielt eine immer größer werdende Rolle – zumindest für diejenigen, die es sich leisten können, danach zu fragen und entsprechend zu handeln.

Lebensentwürfe

Hielten 2010 noch 76% eine eigene Familie als für das eigene Lebensglück erforderlich, so sind es fünf Jahre später nur noch 63%. Dieser Rückgang von 15% ist bemerkenswert. Hier muss einerseits zwischen dem Lebensentwurf bzw. der Lebensform der Familie und anderseits zwischen den Werten, die mit dem Begriff „Familie“ verbunden werden unterschieden werden. Eine Folge der „Buntheit“ der Gesellschaft ist sicher auch eine „Buntheit“ in der Weise der Lebensentwürfe. Die „Generation im Aufbruch“ kann die „familiären Werte“ jenseits der „Lebensform Familie“ leben, und sie sucht sie auch dort. Die Herkunftsfamilie wird von mehr als 90% der Befragten als sicherer „Heimathafen“ mit emotionaler Wertschätzung und Ort des Rückhalts in stürmischen Zeiten wertgeschätzt. Die Werte dahinter, Treue, Sicherheit, Angenommensein werden aber nicht mehr ausschließlich oder vorwiegend mit „Familie“ verbunden. Die Soziologie kennt den „Doing familiy Ansatz“. Er besagt, dass „Familie“ nicht etwas ist, was man vorfindet, sondern dass „Familie“ etwas ist, das in Prozessen von Menschen untereinander und miteinander als gemeinschaftliches Ganzes in vielen alltäglichen Praktiken ständig neu hergestellt wird. Unser traditionelles Familienbild unterstützt diese „Herstellungsleistung“ durch die gewachsenen und tragenden Strukturen. Eine „Generation im Aufbruch“ steht dafür, dass diese an Werten vollen „Leistungen“, die „Familie“ herzustellen fähig sind, auch in anderen Formen des Zusammenlebens möglich sind. Sie werden geschätzt, gesucht, man geht diese Formen von Zusammenleben ein – und das eher sinnstiftend und persönlich bzw. für andere nützlich, nicht vorwiegend karriereorientiert. Es gibt so etwas wie eine Kosten- Nutzen-Rechnung nach dem „Gewinn“, allerdings so, dass sie nach „Sinn“, nicht nach „Moneten“ fragt.

Die „Rushhour“ des Lebens

In der Gruppe der 12-25-Jährigen steuern die Jüngeren auf die Rushhour des Lebens zu, die Älteren sind mittendrin. Schulabschluss, Ausbildung oder Studium, Frage nach Lebensort, Arbeitsort, Lebensform, Partnerschaft usw. machen aus diesem Lebensabschnitt eine „Rushhour“. Die Frage nach eigenen Kindern und deren Bedeutung für das eigene Lebensglück relativiert sich. Waren es 2010 noch 69%, die diese Frage mit „Ja“ beantworteten, so sind es 2015 noch 64%. Dahinter gleich eine Ablehnung von eigenen Kindern zu vermuten, scheint ein Schnellschuss zu sein. Vielmehr stellt diese Generation mehr als andere Generationen zuvor die Frage nach der Vereinbarkeit der Erziehung eigener Kinder und der zu bewältigenden Aufgaben und Entscheidungen in eben dieser Rushhour des Lebens, die noch dazu in einer weltweiten angespannten und krisenhaften Situation stattfindet. Umso mehr überrascht es dann, dass 61% einen optimistischen Blick, 36% „mal so, mal so“ und nur 3% eher düster in eine persönliche Zukunft blicken. Und 52% sehen auch der gesellschaftlichen Zukunft optimistisch entgegen (zum Vergleich: 2006 sahen 50% der persönlichen und 44% der gesellschaftlichen Zukunft optimistisch entgegen).

Wertesystem – Einsatz und Engagement

Auffallend ist, dass in all dem ein solides Wertesystem zu sehen ist. Ganz oben stehen bei den 12-25- Jährigen Werte wie „gute Freunde habe“ (89%), „einen Partner haben, dem man vertrauen kann“ (85%) und „ein gutes Familienleben“ (72%). Der „Respekt vor Gesetz und Ordnung“ ist 84% der Befragten wichtig, 64% der Befragten kreuzten „besonders wichtig“ an. Die sogenannten „deutschen Tugenden“ wie Fleiß und Ehrgeiz gewinnen seit den 1980er Jahren zunehmend mehr an Bedeutung. Hielten sie in den 1980er Jahren 30% für besonders wichtig, lag der höchste Wert 2010 bei 60%. Umweltbewusstes Verhalten ist als Folge ei- nes gestiegenen Gesundheitsbewusstseins 66% wichtig, 2010 war es für 59%. Materielle Dinge wie Macht und Lebensstandard verlieren dem gegen- über an Bedeutung. Die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren finden 82% für wichtig, 60% für besonders wichtig.

Die „Generation im Aufbruch“ ist immer noch bereit für Engagement. 34% der Befragten geben an, „oft“ für andere engagiert zu sein. Dabei sind ältere Jugendliche stärker engagiert als jüngere Jugendliche. Unterschieden nach Schulformen finden sich bei den Gymnasiasten 37% (2010: 43%), bei den Realschülern 27% (2010: 44%), bei den Haupt- schülern 38% (stabil), bei den Studierenden 42% (2010: 44%). Es ist zu vermuten, dass die verminderte Bereitschaft zum Engagement eine Folge von G8 bzw. (bei Studierenden) von der Einführung des Bachelor-Studiums ist, d.h. sie ist am ehesten eine Folge des Faktors „Zeit“. Die Bereitschaft zum Engagement hängt ebenfalls wieder mit der erlebten Sinnhaftigkeit des Tuns zusammen. Eine besondere Rolle kommt der Arbeit mit Menschen mit Flucht- hintergrund zu. Die wachsende Zahl der Menschen auf der Flucht und der Zuwanderer wird politisch als „pragmatisch zu behandeln“ gewertet. „Trotz wachsender Flüchtlingszahlen sehen die meisten Jugendlichen die Immigration eher gelassen. Nur 29% fürchten sich vor der Zuwanderung. (…). Die Jugend ahnt, dass die Unterbringung und Versorgung von Hunderttausenden Zuwanderern pro Jahr große Probleme bereiten wird. 48% (2010: 40%) fürchten, dass die Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung wachsen könnte“ (Albert, Jugend 2015, S. 26). Das Schicksal der Menschen, die von der „Generation im Aufbruch“ weniger als Fremde empfunden werden, fordert heraus.

Die Rolle der Religion

Spielt in der Frage nach den Werten die Rückkehr zur Tradition eine nicht unbedeutende Rolle, so gilt dies nicht dem eigentlichen „Pfeiler der Tradition“, der Religion. „Vor allem unter katholischen Jugendlichen hat der Glaube an Gott an Bedeutung verlo- ren, evangelische Jugendliche hatten schon zuvor dem Glauben an Gott eher weniger Bedeutung beigemessen“ (Albert, Jugend 2015, S. 30). Für 37% der befragten evangelischen Jugendlichen und jun- gen Erwachsenen ist der Glaube an Gott wichtige Leitlinie des Lebens; dem stehen 76% der muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen der gleichen Alterskohorte gegenüber. Nach Bundesländern unterschieden halten 68% im Osten ge- genüber 45% im Westen den Glauben an Gott für unwichtig. Konfessionslose Jugendliche bilden in Deutschland eine Minderheit von 23%! „Religiöse Rituale und Vorschriften aus vergangenen Zeiten schrecken viele Jugendliche ab. Sie verneinen nicht das Existenzrecht der Kirche, schätzen ihre soziale Rolle, vermissen jedoch oft Antworten auf wichtige Fragen ihrer Lebensführung“ (Albert, Jugend 2015, S. 30).

Impulse zum Umgang mit den Ergebnissen

Der Befund überrascht! Und die Frage liegt in der Luft, welche Impulse aus diesem Befund für uns als Geistliche Gemeinschaft erwachsen können.

Zum einen scheint die Nummer 22 des Exerzitienbuches als „Übersetzungshilfe“ angezeigt, die Bereitschaft, die Aussage des anderen eher retten zu wollen als sie zu verurteilen. Vor dem „Werten“ und „Urteilen“ kann das „Fragen“ stehen. Fragen Sie doch einmal in aller Offenheit nach dem Wert dessen, was Ihre Enkel und Kinder unter „Familie“ verstehen und wie sie sie leben wollen. Oder ob sie sich schon einmal an Online-Petitionen beteiligt haben und was das – oder der Fair Trade in Sachen Kleidung – für sie bedeutet. Oder wie sie umgehen mit den beinahe täglichen Meldungen über Terror und Gewalt, über Populismus und Fremdenfeindlichkeit. Oder nach dem, was ihnen ein „Wert“ ist, und was er ihnen „wert ist“. Wir als Gemeinschaft können „punkten“ mit Angeboten, die sinnstiftend sind, die Gemeinschaft auf Augenhöhe und Möglichkeiten der persönlichen Sinnsuche ermöglichen. „Evangelisierung“ könnte in dieser Weise eher als „Vertrauen in das Wirken des Geistes in Dir“ und Handeln in und aus diesem Geist bedeuten als ein Belehren dessen, was diesem Geist „eigentlich“ zu entsprechen hätte. Und lernen können wir von dieser Generation im Aufbruch allemal, dass Gottes Geist auch außerhalb der Kirche wirkt – in all den Gaben, die wir als Kirche verkünden. Es tut gut, sich von dort her selbst neu evangelisieren zu las- sen.

Harald Klein, Köln
unter Mitarbeit von
Marina Engler, (*1988), Journalistin, Köln
und Martin Berghane (*1994),
Lehramtsstudent für Geschichte und Musik

Quellen:

Albert, Mathias u.a. (Hrsg.) (2016): Jugend 2015. 17. Shell-Jugendstudie, Frankfurt/Main.

Jurczyk, Karin u.a. (2014): Doing family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim.

Nicolás, P. Adolfo SJ (2013): Eine Sprache, die die Grenzen erreicht, in: GCL intern-Spezial, Augsburg, 13-17.