Lukas und die Frage nach der Gerechtigkeit

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Lukas – bis zuletzt und bis ins Letzte Schüler und Gefährte des Paulus

„Nur Lukas ist noch bei mir“, schreibt Paulus angesichts des Todes im römischen Kerker und im zweiten Brief an Timotheus, wir werden es gleich in der Lesung hören. Aus dem Kerker schreibt Paulus auch an Gemeinde in Philippi – und in meiner Phantasie stelle ich mir vor, dass sich Lukas einen Satz aus diesem Brief besonders zu Herzen genommen hat. Als einer, der von Christus ergriffen ist, schreibt Paulus: „Eines aber tue ich: ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist“ (Phil 3,13). Als Gefährte des Paulus bis in dessen Tod mag dieser Satz in den Ohren des Lukas besondere klingen.

Ein Schlüsselbegriff für das, was bei Lukas Gerechtigkeit meint

In meiner Phantasie stelle ich mir vor, dass diese Aussage des Paulus ganz tief in seine Sendung zum Evangelisten begleitet hat, dass dieser Satz ein Schlüsselbegriff für ihn wurde, vor allem in seinem Nachsinnes darüber, was „Gerechtigkeit“ meint. Gerechtigkeit, einem Menschen gerecht werden und jemandem Gerechtigkeit zukommen lassen – im Vergessen, was hinter ihm liegt und im Sich-ausstrecken auf das hin, was vor ihm liegt. Das Sondergut des Lukasevangeliums macht das sehr schön deutlich.

Drei Beispiele

Nehmen Sie die Zachäus-Geschichte in Lk 19,1-10. Das „Heute noch will ich in Deinem Hause zu Gast sein“ spricht Jesus zu einem, dessen Geschichte er kennt. Aber anstatt auf ihn draufzuhauen, vergisst er, was hinter Zachäus liegt und eröffnet ihm so eine neue Gegenwart und eine neue Zukunft. Und so, auf diesem Weg, beschließt Zachäus, vom dem, was er forderte, zurückzugeben. Das ist Gerechtigkeit, wie Lukas sie versteht.

Nehmen Sie die Erzählung vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel in Lk 18,9-17. Das ehrlich anerkennende „Gott sei mir Sünder gnädig“ des Zöllners, die Anerkennung dessen, was einer ist, zählt für Jesus mehr in Sachen Gerechtigkeit als das soziale Ranking des Pharisäers, zum Glück nicht zu sein wie die Räuber, Betrüger, Ehebrecher, das er vor Gott bringt.

Und vor allem das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Vater in Lk 15, 13-32. Was für ein innerer Weg des Sohnes, zurückzulassen, was hinter ihm liegt – im Aufbruch wie in der Rückkehr: das Erbe verprasst, am Schweinetrog hungern, die Ungewissheit des Rückweges. Und was für ein innerer Weg für den Vater, hinter sich zu lassen, was im Vorfeld geschehen ist, und mit offenen Armen sich mit dem Sohn auszustrecken auf das hin, was vor ihm ist.

Gerechtigkeit ereignet sich im Zusammenspiel

Mir scheinen im Blick auf die Gerechtigkeit, wie Lukas sie beschreibt, drei Punkte wichtig:

Den ersten Punkt nenne ich Anerkennung oder Selbstannahme: Zachäus auf dem Baum, der Zöllner im Tempel, der Sohn am Schweinetrog genauso wie an der Türpforte des Vaterhauses – sie wissen alle um das, was war, was sie hinter sich lassen wollen, sie vertuschen nichts, sie verharmlosen nichts. Sie stehen ein für das, was sie an Unrecht und Ungerechtigkeit getan haben.

Den zweiten Punk nenne ich Zuflucht: Es braucht jemanden, der klar sagt: „Genug!“ Der sagt: „Ich will in Deinem Hause zu Gast sein“ – Der sagt: „Du kehrst, so wie Du bist, und mit dem wie Du warst, als ein Gerechter nach Hause zurück.“ – Es braucht einen, der sagt: „Mein Sohn war tot und er lebt wieder.“

Und den dritten Punkt – und da kommt Paulus, der Lehrer des Lukas, ins Spiel – nenne ich „ausstrecken nach dem, was vor uns liegt“: Das meint die Veränderung des Zachäus, das meint die Sicht auf das, was dem Zöllner doch auch gelingt, das meint das Fest des Vaters mit dem verlorenen Sohn – gegen das auch der Neid und das Unverständnis, die Besserwisserei und die Selbstgerechtigkeit des anderen Bruders nichts anhaben kann.

Gerechtigkeit als Thema des Lukasevangeliums

Im Tagesgebet heißt es: „Herr, unser Gott, Du hast den Evangelisten Lukas ausgewählt, in Wort und Schrift das Geheimnis Deiner Liebe zu den Armen zu verkünden.“ Die Figuren, von denen seine Gleichnisse erzählen, gehen über Wort und Schrift hinaus – sie leben eine Umkehr zur Gerechtigkeit, mehr noch: sie leben neu aus dem Geschenk, dem Anruf und der Einladung zur Gerechtigkeit. Sie leben aus der Zuflucht, die ihnen angeboten wird, wenn sie das, was an Ungerechtigkeit durch sie in die Welt kam, anerkennen und annehmen. Und sie leben nach vorn, ausgestreckt auf das hin, was ihnen der Herr vorbereitet hat.

Vielleicht kann man in diesem Sinne den Namen LUKAS am ehesten mit „Zuflucht“ übersetzen oder in Verbindung bringen. Und mit „lass uns nach vorn schauen.“.

Amen.

Für L.N. und für L.P.
Köln, 18.10.2019
Harald Klein