Um was es geht
Es mag den einen oder anderen Tag geben, an dem mir Lyrik in ihren vielen Formen nicht begegnet – eine Woche, geschweige denn einen Monat ohne Lyrik kenne ich nicht. Vielfach werden die kleinen und kurzen Texte dann in anderes „eingebaut“ – dabei könnte es geschehen, dass sie ihres Eigenwertes verlustig werden.
So möchte ich in diesem Jahr beginnen, die Sammlung „Ein Gedicht, zum Beten geeignet“ einerseits zu erweitern. Andererseits werden die „Newcomer“ unter den Gedichten hier aber zeitlich zugeordnet und Monat für Monat als „persönliches aktuelles Thema“ in Erinnerung und in den Blick gebracht. Titel, Text, Quelle werden genannt, meine persönliche Einordnung soll genau das bleiben: persönliche Einordnung!.
Auf dass die Freude an Sprache, an Bild und an Bildsprache mir erhalten und vielleicht bei dir geweckt werde.
Köln, 01.02.2025
Harald Klei
Monatsgedichte im März 2025
Hermann Hesse: Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
aus: Hesse, Hermann (1997): Die Gedichte. Mit einem Nachwort von Volker Michels, Berlin, 676.
Peter Rühmkorf: Bleib erschütterbar und widersteh
Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh;
gestern an- und morgen abgeschaltet;
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar – doch widersteh!
Die uns Erde, Wasser, Luft versauen
– Fortschritt marsch! Mit Gas und Gottvertrauen –
Ehe sie dich einvernehmen, eh
du im Strudel bist und schon im Solde,
wartend, dass die Kotze sich vergolde:
Bleib erschütterbar – und widersteh.
Schön, wie sich die Sterblichen berühren –
Knüppel zielen schon auf Hirn und Nieren,
dass der Liebe gleich der Mut vergeh …
Wer geduckt steht, will auch andre biegen
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles, was gefürchtet wird, wird wahr!)
Bleib erschütterbar.
Bleib erschütterbar – doch widersteh.
Widersteht! Im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla und Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee …
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr
leicht und jäh —
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – und widersteh.
aus: Worms, Oliver (Hrsg.) (2023): Sechzehn + 16 Gedichte, Sonderheft zum Tag der Deutschen Einheit, Hamburg, 50-57, hier: 52.
Monatsgedichte im Februar 2025
Lutz Rathenow: Eine
Der Duft dieser Haut,
die Millimeter nachgibt
dem Finger auf ihr. Härchen,
fasst unsichtbar. Ein Geschmack.
Der keinen Vergleich kennt.
Eine Berührung
Ändert den Kosmos.
aus: Rathenow, Lutz (2021): Maskierungszärtlichkeit, Dresden; in: Worms, Oliver (Hrsg.) (2024): Dreizehn + 13 Gedichte, Themenheft Liebe, Hamburg, 122.
Peter Rühmkorf: Komm heraus
Komm raus aus deiner Eber-Einzelbucht,
aus deiner Ludergrube.
Komm raus aus deiner kaskoversicherten Dunkelkammer!
Auch dein Innenleben
findet öfter statt, merk ich gerade –
(Komm raus aus deinem Farbbandkäfig)
Im Prinzip – ja? – P r i n z i p
sind doch längst alle Schleusen geöffnet, Gitter gefallen …
Immer noch vielerlei Licht hier, wo sich
keine Anzeigenseite dazwischenschiebt,
keine Helium-Annonce -:
DIE SONNE
unverwandt, mit angezogenen Strahlen –
(Komm raus aus deinem Leichen-Entsafter)
Vor dir das Meer und hinter dir
die Waschmaschine …
(aus deinem Metzelwerk, aus deinem Familien-Gefrierfach)
Hier nichts gewollt zu haben
Ist soviel wie verspielt, das weißt du, oder?
Heda, du eingerahmtes Tier, du kriegst
den Kopf wohl gar nicht mehr raus aus dieser Paste, laß sehn!
Unbeugsam reflektierst du dich
an der Schreibtischkante –
(eisern nach innen blickend, ein Vesuv mit geschlossenen Augen)
Komm raus aus deinem handversiegelten Hockergrab!
Auch K u l t u r
ist nur eine unmaßgebliche Schutzbehauptung.
Eine Schlacht im Sitzen gewinnen:
schön wär’s!
Und schön der Gedankeda, wer sich nicht rührt,
hat wenigstens Anspruch auf Schicksal – Aus deiner Tropfsteintruhe!
Komm raus aus deinem Todeskoben, überleg dir das Leben:
Die Morgenschiffe rauschen schon an –
Ein Tag aus Gold und Grau:
willst du mit rein? –
aus: Rühmkorf, Peter (1996): Gedichte, Reinbek, 10-11.
Monatsgedichte im Januar 2025
Juliane Liebert: grob gefasst
grob gefasst ist
das menschliche Herz
ein kegelförmiges, muskulöses
hohlorgan
in etwa so groß wie die faust
des betreffenden
aus: Liebert, Juliane (2021): Lieder an das große nichts, Berlin; in: Worms, Oliver (Hrsg.) (2024): Dreizehn + 13 Gedichte, Themenheft Liebe, Hamburg, 118.
Heiner Müller: Ich kann dir die Welt nicht zu Füßen legen
Ich kann dir die Welt nicht zu Füßen legen
Sie gehört mir nicht. Ich werde dir keinen Stern
Pflücken:
Ich habe kein Geld für Blumen und keine Zeit
Verse zu machen nur für dich: mein Leben
Wird so und so zu knapp sein für ein ganzes.
Wenn ich dir sage: für dich wird ich alles tun
Werde ich dir eine Lüge sagen. (Du weißt es)
Ich liebe dich mit meiner ganzen Liebe.
aus: Worms, Oliver (Hrsg.)(2024): Dreizehn + 13 Gedichte, Themenheft Liebe, Hamburg, 108.