Neujahr – Der spielende Mensch, oder: „Auf ein Neues!“

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„Im neuen Jahr…“: Zuwendung und Mut

Der Dichterin Rose Ausländer sollen die ersten Worte in diesem neuen Jahr gehören, ihr und ihrem Gedicht „Im neuen Jahr“:

„Im neuen Jahr
grüße ich
meine nahen und
die fremden Freunde
grüße die
geliebten Toten
grüße alle
Einsamen
grüße die Künstler
die mit
Worten Bildern Tönen
mich beglücken
grüße die
verschollenen Engel
grüße mich selbst
mit dem Zuruf
Mut[1]

Mit dem Begrüßen des neuen Jahres gibt Rose Ausländer sich selbst und uns, den Lesenden und Hörenden, zwei Weisungen mit auf den Weg: zum einen die Weisung der Zuwendung, zum andern die Weisung des Mutes.

» Ich war seine Freude Tag für Tag
und spielte vor ihm allezeit.
Ich spielte auf seinem Erdenrund,
und meine Freude war es,
bei den Menschen zu sein. «
Spr 8,30f

Menschwerdung als Spiel

Gerne möchte ich den in der Adventszeit und an Weihnachten gesponnenen Faden der „Menschwerdung“ als die große Möglichkeit des Menschen in seinem Leben fortspinnen. Von den vielen Formeln, mit denen die Philosophie den Menschen beschreibt und umschreibt, von diesen Epitheta, soll heute der homo ludens, der spielende Mensch[2], in den Blick genommen werden.

Es ist ein immer wiederkehrendes Phänomen, dass Menschen versuchen, über ihre Arbeit, ihr Tun, vielleicht mehr noch ihr Lassen, ihren Einsatz und über ihren Verstand und ihren Willen ihrer Menschwerdung Herr zu werden – d.h.: sich selbst, von sich aus, zu dem oder zu der zu machen, der er/die sie gerne wäre. Das Zauberwort dafür heißt „Vorsatz“. Vorsätze mögen im Ansatz gut sein, haben aber die Eigenschaft, sich nach kürzester Zeit auf dem Absatzumzukehren, sie hinterlassen den Geruch des Aussatzes, des Nichtgelingens, des Versagens. Schnell merken Sie: Menschwerdung, mehr Mensch werden können Sie nicht oder nur schwer vorsätzlich erzwingen!

Müssen Sie auch nicht! Sie können den Spieß (oder die Spielregeln der Menschwerdung) umkehren, und zwar spielerisch, als Spielende und Spielender, als homo ludens. Das Spiel, um das es geht, dreht sich um die Beobachtung dessen, was in Ihrem Leben schon da ist – und da setzen Sie an, ohne etwas abzuschneiden, zu ersetzen, zu verleugnen.

Ich erinnere an das „Sechs-Minuten-Prinzip“[3], an dem spielerisch morgens und abends jeweils drei Fragen beantwortet werden können: morgens „Ich bin dankbar für“, „Was würde den heutigen Tag wundervoll machen?“ sowie die Formulierung einer „positiven Selbstbekräftigung“; abends „Was habe ich heute Gutes für jemanden getan?“, „Was werde ich morgen besser machen?“ und eine kurze Aufzählung der „tollen Dinge, die ich heute erreicht habe“. Neben den anderen Übungen findet hier die Beschreibung dessen statt, was ist, und gleichzeitig gehen und wachsen Sie von Tag zu Tag über sich hinaus („transzendieren Sie sich selbst“, würde man in der Philosophie sagen), werden anders und ein anderer und bleiben doch derselbe. Jeder Tag hat eine Beschreibung, eine Bedeutung, und lockt in das Morgen hinein: „Auf ein Neues!“[4]

» Wenn wir unseren Einatem nicht voll kommen lassen, schneiden wir uns ab von dem Leben, das wir sind. [...] In jedem Ausatem lassen wir los, halten nichts mehr fest, lassen das Leben fließen, so, wie es fließt. Wenn wir unseren Ausatem nicht vollkommen lassen, engen wir uns ein und beschränken das Leben, das sich gerade als die Form lebt, die wir sind. «
Manfred Rosen, Meditationslehrer im Benediktushof Holzkirchen, [online] https://www.benediktushof-holzkirchen.de/radikale-akzeptanz/ [10.07.2021]

Zwischen Lebenswerk und Lebenskunst

Der spielende Mensch ist schon in der antiken Philosophie der Urtypus des Künstlers.[5] Sich dem, was ist, zuwenden– Sie erinnern sich, die erste Weisung im Gedicht von Rose Ausländer.  Das annehmen, was ist, und darauf aufbauen, nicht auf dem, was Sie vielleicht gerne hätten und entbehren. Und dann mutig – Rose Ausländers zweite Weisung – von hier aus weitergehen, über sich selbst hinaus. Hier liegt für mich der Unterschied zwischen Lebenswerk, verbunden mit Arbeit, Kraft, vielleicht sogar Verbissenheit, und Lebenskunst, verbunden mit einem spielerischen Umgang mit allem Bestehenden.

In seiner Untersuchung zur Humanität und zum Geist der Menschheit fasst Volker Gerhardt den Homo ludens, den homo negans und den homo creator in einem Kapitel zusammen und setzt als Untertitel dazu: Das Spiel im Aufbau der Kultur.[6] Sich ein Lebenswerk setzen heißt, mit Kraft, Wille und Verstand etwas in die Realität setzen zu wollen; Lebenskunst oder Lebenskultur meint loszugehen vom Ort, an dem ich bin, und mit den Gaben, die ich habe, um zu sehen, was sich entwickelt. Lebenskunst oder Lebenskultur braucht das Neinsagen zu all dem, was Leben beschneidet oder mindert. Beides – Lebenswerk wie Lebenskunst/Lebenskultur – brauchen Freiheit und Verbindlichkeit; was sie unterscheidet, ist die Frage, wem die Zuwendung gilt, und wofür ich meinen Mut brauche. Und: in welchem Geist ich unterwegs bin: Will ich wachsen durch mein Lebenswerk? Oder erahne ich mein Wachstum in meiner Lebenskunst, meiner Lebenskultur?

» Zwischen all den Geschichten, die wir uns erzählen, um zu leben, und zwischen all den Versuchen, diese Geschichten abzulegen, wenn wir merken, dass sie unsere Sicht auf die Dinge verzerren und zu selbstgebauten Gefängnissen werden, gibt es Momente der Stille. Ich hatte den Eindruck, einen solchen Moment zu erleben. Es sind Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und des Nichtwissen-Müssens. Es sind Momente, in denen man manchmal, ohne es zu merken, einen Schritt nach vorn macht und eine neue Richtung einschlägt. Es sind genau diese Momente, in denen sich das Leben neu schreibt. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 140.

„Auf ein Neues!“

Der Königsweg für ein „Neues“, das eben nicht Widerkäuen des Alten und Aufgreifen des Gewesenen ist, scheint mir die Kontemplation zu sein. Das Evangelium des Neujahrstages erzählt, Maria bewahrte alle Worte, die sie von den Hirten gehört hatte, und erwog sie in ihrem Herzen. Hören/sehen – erwägen – bewahren: So kann ein kontemplativer Weg aussehen, der in eine spielerische Lebenskunst führt. Hier ist der Ort der Lebenskunst, der Lebenskultur, und von hier aus geht es über den Verstand ans Werk.

Ich wünsche Ihnen die Zuwendung zu dem, was jetzt da ist, in Ihnen, neben Ihnen, vielleicht auch die Traurigkeit über das, was Ihnen fehlt, über die, die Ihnen fehlen. Mit Rose Ausländer: grüßen Sie all das, all die, heißen Sie all das willkommen!

Ich wünsche Ihnen Mut, den Ort wahr- und anzunehmen, an dem Sie stehen, an der Schwelle des neuen Jahres, und den Mut, aus sich heraus und über sich hinaus zu gehen in diesem Jahr, um der Menschwerdung willen. Und ich wünsche Ihnen ein fast kontemplatives Gespür für eine spielerische Lebenskunst und Lebenskultur, die Freiheit und Wachstum atmet.

Amen.

Köln 29.12.2022
Harald Klein

[1] Ausländer, Rose (1986): Wieder ein Tag aus Glut und Wind. Gedichte 1980-1082, Frankfurt/Main, 69.

[2] Vgl. Gerhardt, Volker: Homo ludens, negans et creator. Das Spiel im Aufbau der Kultur, in: ders. (2019) Humanität. Über den Geist der Menschheit, München, 165-202.

[3] Vgl. Spenst, Dominik (2022): Das 6-Minuten Tagebuch. Ein Buch, das Dein Leben verändert, Reinbek, 5. Auflage.

[4] Die Fragen beim Journal von „Klarheit“ sind ähnlich. Am Morgen geht es um „Heute freue ich mich auf…“, „Mein Fokus für den Tag ist…“ und „Dabei bin ich…/strahle ich…aus“. Am Abend lauten die Fragen „Worüber habe ich mich heute gefreut?“, „Was habe ich gelernt, erkannt7beobachtet?“ und „Ich bin sehr dankbar für…“. – Einfacher ist die „TLC-Methode“, in der es in einem Tagesrückblick um Danken („thanks“), Lernen („learn“) und In-Verbindung-sein mit Menschen, Dingen, Ideen („connect“) geht.

[5] Vgl. Gerhardt, Volker, a.a.O., 165.

[6] vgl. Anm. 2.