Neujahr: Gesegnet sein – zum Segen werden

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Neujahr – Es bleibt alles beim Alten

Das erste Mal aufstehen und frühstücken im neuen Jahr: Was hat sich verändert? Was ist anders? Oder gar neu? Objektiv ist nichts „Neues“ geschehen, mit der Umstellung vom „alten“ auf das „neue“ Jahr ist schlicht am althergebrachten Kalendarium festgehalten worden. Die mittlerweile ziemlich in Verruf geratene „Zeitumstellung“ von Sommer- auf Winterzeit (und umgekehrt) bringt objektiv mehr „Neues“ als das „Neujahr“, in dem objektiv alles beim Alten bleibt.

» Der Fehler bei unseren Fragen und Klagen ist vermutlich der, dass wir von außen etwas geschenkt bekommen möchten, was wir uns nur selber, mit eigener Hingabe, in uns zu erlangen vermögen. Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind. «
Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 121f.

Dem Kommenden Sinn geben

Klingt trostlos, muss es aber nicht sein. Auch wenn objektiv vielleicht ein neuer Taschen- oder Postkartenkalender aufgeschlagen wird und sich darin das „Neue“ erfüllt, kann doch subjektiv eine ganze Menge geschehen. Das Rezept ist einfach: Man nehme den Jahresabschluss bzw. den Neubeginn als einen Startpunkt in die Hand und lege in das Kommende eine Portion begründete Hoffnung, realistische Wünsche, notwendige Ab- und Umkehr und bringe all das in die Gemeinschaft der Menschen hinein, mit denen ich das Leben teile, mit der Bitte, dass sie mir bei diesem „Gericht“ helfen. Sie erinnern sich den vergangenen Sonntag und an Hermann Hesse und sein Wort vom Sinn des Lebens, den das Leben nur in dem Maß erhält, in dem Sie den Sinn hineinlegen: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.“[1]

» Der Herr segne und behüte Dich.
Der Herr lasse sein Angesicht über Dich leuchten
und sei Dir gnädig.
Der Herr wenn Dein Antlitz Dir zu
und schenke Dir Frieden. «
Num 6,24-26

Der Herr segne und behüte Dich

Sinn hineinlegen, Sinn stiften, Sinn suchen und Sinn schenken – das biblische Wort dafür ist „segnen“. Die erste Lesung, die am Neujahrstag gelesen wird, ist die Übergabe der Segensworte Gottes zuerst an Mose und durch ihn an seinen Bruder Aaron und an dessen Söhne: „Der Herr segne Dich und behüte Dich. Der Herr lasse sein Angesicht über Dich leuchten und sei Dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht Dir zu und schenke Dir Frieden.“ (Num 6, 24-26).

Wie schön, dass das erste Wort im Neuen Jahr ein, nein: genau dieses Segenswort ist! Da kann ich im Geiste Hermann Hesses Sinn drin finden. An Neujahr wird ausdrücklich gesagt, was an allen Tagen des Jahres gilt: Ich bin ein von Gott und durch die Menschen um mich herum Gesegneter.

Und ein Zweites: „Der Herr wende sein Angesicht Dir zu…“ Wenn ich janusköpfig immer nur zurückschaue, nur auf das, was verbaut und verbockt, auf das, was sich mir nicht erfüllt und was ich für andere verhindert habe – ich werde den mir zugewandten Gott nicht erkennen. Sinn, Segen finde ich nur und ausschließlich im Blick nach vorn! Sinn und Segen lassen sich erfahren, aber nicht halten, Ich kann mich eher an Sinn und Segen halten als sie behalten zu wollen. Beides entzieht sich immer wieder, doch nur, um sich mir neu zu geben.

» Dem Vergangenen: Dank!
Dem Kommenden: Ja! «
Dag Hammarskjöld (1905-1961)

Den Kommenden und denen, die da sind, Sinn geben

Bleibt ein Drittes: Nicht nur gesegnet werden oder Sinn in etwas hineinlegen, sondern auch den anderen zum Segen werden. Dag Hammarskölds Wort „Dem Vergangenen: Dank! Dem Kommenden: Ja!“ ist das kürzeste Rezeptbuch zu einem gelingenden Jahr, das ich kenne. Ein letzter Blick ins vergangene Jahr, Dank für das, was gelungen ist und hält, für die, die Halt geben – und Dank für das, was ich lassen will, loslassen kann. Und das nur, um frei zu werden für das Kommende, für die Kommenden – oft genug werden es gar nicht so viel „Neue“ sein, die da kommen, aber auch denen kann und will ich (wie den „Alten“) segnend, sinnstiftend begegnen.

» Der Mensch, den ich mit Furcht, mit Hoffnung, mit Begehrlichkeit, mit Absichten, mit Forderungen ansehe, ist nicht Mensch, er ist nur ein trüber Spiegel meines Wollens. «
Hesse, Hermann : Über die Seele, in: Unseld, Siegfried (Hrsg.) Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 11.

Nach dem Sinn des Lebens gefragt, verweise ich gerne auf die Antwort, die uns in die Hand geschrieben ist – vom Daumen bis zum kleinen Finger, pro Wort ein Finger: Ein – liebender – Mensch – zu – werden. Den Menschen auf der Suche nach Sinn, nach Segen begegnen, und nicht – noch einmal Hesse – mit Furcht, mit Hoffnung, mit Begehrlichkeit, mit Absicht, mit Forderung, die ihn nicht als Mensch, sondern als trüben Spiegel meines Wollens sehen.[2]

Noch knackiger fasst das Erich Fried in seinem Gedicht „Dich“ in Worte. Er schreibt: „Wer nur die Hälfte liebt / der liebt dich nicht halb / sondern gar nicht / der will dich zurechtschneiden / amputieren / verstümmeln“.[3].

» Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln «
Fried, Erich (1984): Gesammelte Werke. Gedichte Bd 3, Berlin, 28.

Was ist neu?

Was also ist subjektiv „neu“ an diesem Neujahrstag? Vielleicht das, was ich „neu“ höre, obwohl es mir von Anfang an gesagt wurde: „Du bist gesegnet!“ Vielleicht auch das, auf das und die, auf die Segen legen kann, denen ich sinnstiftend begegnen darf – und dass ich das auch tue und nicht nur weiß. Oder vielleicht auch das, dass ich mich mit dem Sinn des Lebens, der mir in die Hand geschrieben ist, aufmache und nach Sinn statt nach Unsinn, nach Segen statt nach Fluch Ausschau halte. Mit vollem Herzen, nicht halbherzig, um Fried aufzugreifen. Und dass ich nach vorn schaue statt zurück, gespannt, ob ich den mir zugewandten Gott erkenne, erahne, spüre.

Das hängt alles nicht notwendig am 1. Januar – aber auch! Der Tag bietet sich an. Dem Vergangenen: Dank! Dem Kommen: Ja!

Amen.

 

Köln 31.12.2021
Harald Klein

[1] Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 121f.

[2] Hesse, Hermann : Über die Seele, in: Unseld, Siegfried (Hrsg.) Hermann Hesse. mein Glaube, Frankfurt/Main, 11.

[3] Fried, Erich (1984): Gesammelte Werke. Gedichte Bd.3, Berlin, 28.