Neujahr – Jesus: Ein komischer Vogel

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Der 01. Januar – ein übervoller Tag

Der 01. Januar ist ein Tag, der übervoll ist, aufgeladen – einmal liturgisch als Oktavtag von Weihnachten und als Hochfest der Gottesmutter Maria, zum zweiten ebenfalls römisch-katholisch als Weltfriedenstag nach einem Besuch von Papst Paul VI. bei den Vereinten Nationen, begleitet von einem Friedenswort des Papstes, und zum dritten eben als Neujahrstag, von den Menschen aller Religionen irgendwie als Neustart, als Neubeginn empfunden, nachdem das alte Jahr in der Nacht vorher lautstark mit Feuerwerk und Feier verbschiedet wurde. Und oft so, dass in der Hoffnung der Menschen in diesem Neustart auch Vieles aus dem alten Jahr mit zurückgelassen werden könne.

Den Tag deuten

Wie deuten Sie, die Schwestern und Brüder von Jerusalem, wohl diesen Tag, oder Sie, die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher? Wie stark ist jetzt, im Augenblick der Anteil des Gedenkens an die Gottesmutter Maria und Ihres Bezuges zu ihr ausgeprägt, wie steht es um die innere Gegenwärtigkeit des Weltfriedenstages, und welche Rolle spielt der Gedanke des neuen Jahres, des neuen Anfangs gerade bei Ihnen?

Um es vorweg zu sagen: Ich glaube, dass es hier kein Nebeneinander, sondern in Mit- und ein Ineinander gibt, weil alles drei zusammengehört. Und gerne möchte ich Ihnen darlegen, wie ich zu dieser Überzeugung komme.

„Nicht müde werden“

Vorwegnehmen muss ich, dass ich in dieser Advents- und Weihnachtszeit alle Predigten von einem ganz besonderen Standpunkt aus geschrieben habe. Immer war es ein Gedicht von Hilde Domin (1909-2006), dessen Zeilen oder Bilder halfen, die Evangelien in verdichteter Sprache zu erschließen. In den letzten beiden Gottesdiensten war und auch heute ist es eines ihrer bekanntesten Gedichte. Der Titel heißt „Nicht müde werden“, und der Text ist kurz und knapp: „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / wie einem Vogel / die Hand hinhalten“.

Der Aspekt des Marienfestes

Ich sehe Maria an der Krippe, von der das Evangelium heute erzählt, sie bewahre alles diese Worte der Hirten und sie erwäge sie in ihrem Herzen. „Nicht müde werden“: Sie wird nicht müde, all diese Worte zu bewahren und zu erwägen, zu meditieren, kontemplativ mit ihnen umzugehen. Mir scheint, das ist das Geheimnis des Hochfestes der Gottesmutter, in das wir hineingestellt sind: Die Worte der Engel, die Worte all derer, die Jesus in der Schrift begegnet sind, die Worte derer, die sich heute ausstrecken nach der Begegnung mit Jesus, diese Worte zu hören, zu bewahren, zu betrachten: auch hier gilt das „Nicht müde werden“, sondern die Hand (und das Herz) leise und vorsichtig hinhalten, um das Wunder dieser Worte zu empfangen, als seien sie scheue Vögel. Wir feiern heute ausdrücklich, was immer gilt.

Der Aspekt des Weltfriedenstages

Papst Franziskus schrieb zum Weltfriedenstag 2019 „Gute Politik steht im Dienst des Friedens“ und im Jahr davor über „Migranten und Flüchtlinge“ als „Menschen auf der Suche nach Frieden“. Seit über 50 Jahren erinnern die Päpste als die Verantwortung auch der Christen für den Frieden in der Welt, sei es im Großen, etwa in der Frage nach einer Politik des Friedens, sei es im Kleinen, etwa der hingehaltenen Hand auf die Menschen hin, denen das Leiden an Armut, Not, Ungerechtigkeit ins Gesicht geschrieben steht. „Nicht müde werden“: Was ist Ihr, was ist Dein, was ist mein Beitrag? Wie halten Sie, wie hältst Du, wie halte ich meine Hand leise dem Wunder des Friedens hin? Und die Verbindung zum Marienfest liegt auf der Hand: Hören, was ist, Worte bewahren und erwägen, in der Gefährtenschaft mit Jesus meine Hand hinhalten – oder sogar im Geschundenen den geschundenen Jesus sehen. Auch hier : Wir feiern mit dem Weltfriedenstag, was immer gilt und Geltung haben will.

Der Aspekt des Neuanfangs

Und dann die große Hoffnung des Neuanfangs, des Neubeginns, die Hoffnung, die im Monopoly „Gehe zurück auf Los“ heißt und die beim Computer „Reset-Tastet“ genannt wird. Am 31.12. geht die Sonne genauso unter bzw. am 01.01. wieder auf wie an jedem anderen Tag. Es ist die Deutung, die wir Menschen diesem Neujahrs-Tag geben, die ihn so besonders macht. Neujahr bekommt die Bedeutung des Neuanfangs, weil wir diesen Tag so deuten, mehr ist es nicht. Dem Wunder des Neuanfangs halten wir zwar nicht unbedingt leise die Hand hin, aber die Hoffnung auf dieses Wunder ist Teil der Deutung und Teil der Bedeutung, die wir diesem Tag geben. Und wir tun dies, nicht müde werdend, manche fünfzigmal, manche schon sechzigmal oder siebzigmal. Und wieder gilt der Zusammenhang mit den anderen beiden Aspekten. Wir können diesem Wunder des Neuanfangs begegnen, weil wir nicht müde werden, die Worte über Jesus, vielleicht eher die Worte Jesu selbst zu erwägen und zu bewahren. Weil wir immer wieder neu denen, mit denen wir verbunden sind, die Hände hinhalten – mich berührt immer wieder der Friedensgruß hier in der Kirche – in aller Vorsicht und mit aller Rücksicht, um des Wunders des Friedens willen. So kann Neuanfang geschehen – wir feiern ihn ausdrücklich heute, wie den Weltfriedenstag, aber der Neuanfang ist täglich möglich!

Jesus – ein komischer Vogel

Auf ein letztes möchte ich eingehen. Hilde Domins Gedicht hat eine beinahe überflüssige Zeile – aber gerade die macht das Gedicht so ausdrucksstark. Man könnte, ohne den Sinn zu verfälschen, auch sagen: „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / die Hand hinhalten“. Das „wie einem Vogel“ ist ein Attribut, eine Beschreibung des Wesens des Wunders. Maria wird das Kind in der Krippe wie ein Wunder angesehen haben, diesen neugeborenen Friedensfürsten, diesen Neuanfang Gottes mit seinem Volk. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich mit Maria auf das Kind in der Krippe schaue und in Anlehnung an Hilde Domin sage: Das ist schon ein komischer Vogel, dieser Jesus. Mit Maria, mit Josef, mit den Hirten, den Weisen, mit Ochs, Esel und Schafen schauen wir auf Jesus – und vergessen leicht, dass er uns auch anschaut, aus der Krippe heraus. Mit Petrus auf dem See, mit den hungernden und bittenden Menschen halten wir ihm die Hand hin, am ehesten bei der Kommunion – und vergessen leicht, dass er uns die Hand entgegenhält; als Kind in der Krippe, aber auch das „Komm“ zu Petrus auf dem See , das mit dem Petrus auch Ihnen und mir gilt. Und wenn wir in dieser Weihnachtszeit das „Ich sehe Dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen“ auf Jesus, auf den neugeborenen Friedensfürsten hin singen, so dürfen wir doch glauben, dass Jesus dieses Lied singt mit dem Blick auf Sie und mich. Er schaut Dich, er schaut sie an und singt es für uns!

So gelten wieder alle drei Aspekte dieses Tages: Erwägen Sie mit Maria, was Jesus für ein „komischer Vogel“ ist, der Sie genauso sieht und meint, wie Sie ihn sehen und meinen, und bewahren und erwägen Sie das in Ihrem Herzen; spüren Sie dem Frieden und der Freude nach, die sich einstellt, wenn Christus für Sie sein „Ich sehe Dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen“ singt; und hören Sie nicht auf, neu anzufangen damit, in dem oder der neben sich genau diesen Christus zu erahnen, der in Ihnen und in mir Mensch geworden ist. Gerade hier gilt: „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / wie einem Vogel / die Hand hinhalten“.

Amen.

Köln, 01.01.2020
Harald Klein