Fehlt da nicht was?
Ein eher überflüssiger Einstieg für all diejenigen, nur für die, die gerne liturgisch zählen möchten: Wenn Du Dir die Sonntage im Jahreskreis anschaust, dann gab es in diesem Jahr am 08. Februar mit dem sechsten Sonntag im Jahreskreis eine Zäsur; am Mittwoch darauf war der Aschermittwoch, und die Sonntage der Buß- und der Osterzeit bilden einen neuen Block, der mit Pfingsten endet. Nun sollte man meinen, der Sonntag nach Pfingsten sei – im Anschluss an den 08. Februar – der siebte Sonntag im Jahreskreis. Das ist er aber nicht; die Werktage nach Pfingsten sind die Werktage der siebten Woche im Jahreskreis, und der Pfingstsonntag übernimmt die Rolle des sie einleitenden siebten Sonntags im Jahreskreis. Der Sonntag nach Pfingsten wäre demnach der achte Sonntag im Jahreskreis, aber auch der geht unter, da hier der Dreifaltigkeitssonntag gefeiert wird (die Werktage danach aber wiederum z.B. Dienstag der achten Woche heißen). Und so kommt es, dass heute in der liturgischen Zählung der neunte Sonntag im Jahreskreis gefeiert wird. Den siebten und achten Sonntag hat der liturgische Kalender eben mit Pfingst- und Dreifaltigkeitssonntag „belegt“ – es geschieht übrigens aus denselben Gründen, wegen denen der Sonntag nach Ostern der zweite Sonntag nach Ostern ist. Ich gebe zu: Wichtig ist es für einen mündigen, selbstbewussten Glauben nicht, aber manch einer mag meinen, da sei etwas verloren gegangen. Dem ist nicht so. Da fehlt nichts!
Sieh dir an, was sie tun!
Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt! «
Aber hier fehlt was!
Umso auffälliger zu sehen, das im Evangelium des Sonntags offensichtlich etwas fehlt. Da gibt es wieder mal ein Streitgespräch zwischen den Pharisäern und Jesus, weil dessen Jünger am Sabbat Ähren vom Getreide abreißen und sie essen. Der Evangelist Markus schreibt sehr einfach: „Da sagten die Pharisäer zu ihm: Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt!“ Die beliebte Form der religiösen Entrüstung – beileibe keine Besonderheit der Pharisäer! Du kennst das sicher!
Ich schlage Dir dennoch vor, Dir den „Schauplatz“ des Evangeliums zu bereiten – eine Hinführung zum Gebet, die von Ignatius von Loyola überliefert ist. Schaue mit Deinem geistigen, fantasievollen Blick den Weg entlang des Feldes. Wer geht vorn, wer hinten, wer mit wem zusammen? Höre die Geräusche des Feldes, der Vögel, vor allem: höre die Menschen miteinander reden. Wer spricht mit wem? Was wird in Worten geteilt? Wer weist worauf hin? Atme den Geruch des Feldes ein, und alles andere , was noch in der Luft liegt, ebenso. Wohin gehen die Blicke, an wen richten sich die Gesten, wie spürst Du das Miteinander? Wie zeigen sich Dir die Jünger, Jesus, die Pharisäer. Und die Pharisäer verdienen Dein Auge und Dein Ohr in besonderer Weise dann, wenn sie sich an Jesus wenden: „Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt!“
Ich glaube, in dieser Aktion der Pharisäer fehlt etwas. Hier fehlt das klar geäußerte Motiv, was die Pharisäer von Jesus wollen – besser vielleicht, was sie mit Jesus vorhaben. Lass uns doch der Frage der Pharisäer ein wenig auf den Grund gehen.
Ein wenig Transaktionsanalyse (TA)
Wenn Du in meinem Alter bist, magst Du noch das Buch von Thomas Harris „Ich bin o.k. – Du bist o.k.“[1] kennen. Harris greift auf Untersuchungen von Eric Barnes aus den frühen 60er Jahren zurück. Drei sog. Ich-Zustände sind kennzeichnend, die Erlebenszustände im Denken, Fühlen und Verhalten eines jeden Menschen abbilden und zwischen denen jeder Mensch hin- und herspringen kann.[2] (1) Du kannst abgespeichertes Erleben von früher erneut aktivieren, hier spricht die TA vom Kindheits-Ich. (2) Du kannst neue Erlebenszustände entwickeln, die sich in angemessener Weise vollkommen auf das Hier und Jetzt beziehen, hier spricht die TA vom Erwachsenen-Ich. (3) Und Du kannst Dich auf eine Art und Weise erleben, die im Denken, Fühlen und Verhalten ganz von anderen übernommen wurde, hier spricht die TA vom Eltern-Ich.
Zurück zur Betrachtung des Schauplatzes. Was glaubst Du, aus welchem „Zustand“ heraus die Pharisäer diese Frage an Jesus haben stellen lassen? Meine Antwort lasse ich mal beiseite, wichtig ist, dass Du die Möglichkeiten einmal durchspielst und Dich dann vielleicht für einen „Zustand“ entscheidest.
„Entscheidung“ – hier geht es dann auch um die Antwort, die Jesus den Pharisäern gibt. Bleibe mal beim „Schauplatz“. Wie würde Jesu Antwort ausfallen, wenn er auf das „Kindheits-Ich“ reagiert? Wie, wenn er die Frage des „Eltern-Ichs“oder wie, wenn er die Frage des „Erwachsenen-Ichs“ beantwortet?
Noch einen Schritt weiter in Sachen „Frage der Pharisäer“. Die TA kennt neben den drei Kategorien dessen, wessen „Zustand“ spricht, vier Weisen, miteinander eine Grundeinstellung der Beziehung zu gestalten. Die Idealform entspricht dem Buchtitel von Thomas Harris; es geht (1) um ein „Ich bin o.k. – Du bist o.k.; die anderen drei Grundeinstellungen der Beziehung sind (2) Ich bin o.k. – Du bist nicht o.k.; (3) Ich bin nicht o.k. – Du bist o.k.; und (4) Ich bin nicht o.k. – Du bist nicht o.k.
Im kleinen Dialog zwischen Jesus und den Pharisäern geht noch einmal der Blick auf die Betrachtung des Schauplatzes. Was glaubst Du, wie die Grundeinstellung der Pharisäer Jesus gegenüber war? Und umgekehrt – welche Grundeinstellung mag Jesus bei seiner Antwort den Pharisäern gegenüber gehabt haben?
Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht,
nicht der Mensch für den Sabbat.
Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. «
Die Antwort Jesu…
Aber jetzt zu Jesu Antwort. Wie oben schon erwähnt: Da gibt es wieder mal ein Streitgespräch zwischen den Pharisäern und Jesus, weil dessen Jünger am Sabbat Ähren vom Getreide abreißen und sie essen. Der Evangelist Markus schreibt sehr einfach: „Da sagten die Pharisäer zu ihm: Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt!“ Und Markus fährt fort: „Er antwortete: Habt Ihr nie gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren und nichts zu essen hatten, wie er zur Zeit des Hohepriester Abjatar in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die außer den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Begleitern davon gab? Und Jesus sagte zu ihnen: Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“
Auch wenn es mich reizt, ich unterlasse es hier, meine Meinung aufzuschreiben, welcher „Ich-Zustand“ hier an welcher Stelle aus Jesus spricht oder auf welchem „Ich-Zustand“ der Pharisäer Jesus hier in welcher Weise entgegenkommt und auf genau diesen „Ich-Zustand“ antwortet. Das überlasse ich gerne Deiner Fantasie.
… eine innerkirchliche Theologie der Befreiung
Aber eines möchte ich noch loswerden. Ende der 1960er Jahre – zeitglich also mit Eric Barnes oder Thomas Gordon und ihrer TA – fassten lateinamerikanische Theologen den Grundinhalt der biblischen Botschaft unter dem Stichwort „Befreiung“ zusammen. „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.“ – diese Antwort Jesu stellt für mich ein Grundwort einer innerkirchlichen Befreiungstheologie dar.
Mein „Kindheits-Ich“ als glaubender Mensch mag sich nach der „Mutter Kirche“ und ihren Lehren, ihren Geboten und Verboten sehnen, es wird aber vorwiegend im „Ich bin nicht o.k. – Du bist o.k.“ – Modus in Beziehung zu anderen Vertreter*innen und Amtsträgern der Kirche, nennen wir sie bildhaft „Pharisäer“, treten“ und auf Weisung und Antwort warten. Oder die „Pharisäer“, anders: „Mutter Kirche“ verhält sich kindlich, wenn nicht gar kindisch – dann wäre die Grundeinstellung zwar „Ich bin o.k. – Du bist o.k.“, aber Kirche würde relativieren oder müde abwinken und verlöre alle Relevanz für mein Leben.
Mein „Eltern-Ich“ als glaubender Mensch ist in höchster Bereitschaft und Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, mein Denken Fühlen und Verhalten von „Mutter Kirche“, von ihren Lehrern, ihren Geboten und Verboten her bestimmen zu lassen. Dreihundert Jahre nach Immanuel Kant verhalte ich mich dann in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, sei es, um dazu zu gehören, sei es, weil mir die selbst zu suchende Antwort zu schwerfällt, sei es, weil wir es in Familie und Dorf schon immer so getan haben, weil wir hier schon immer so gedacht haben, weil es sich einfach so gehört. Auch hier herrscht ein „Ich bin nicht o.k. – Du bist o.k.“ vor, verbunden mit der Hoffnung, als „o.k.“ zu gelten, wenn ich tue, was „Mutter Kirche“ sagt.
Und schließlich; mein „Erwachsenen-Ich“ als glaubender Mensch; von hier aus versuche ich mich in angemessener Weise vollkommen auf das Hier und Jetzt zu beziehen und – Achtung! – frage auch bei „Mutter Kirche“ nach, ob sie mir bei der Antwortfindung helfen kann. Oder nutze ihre Einrichtungen, sofern sie mir hilfreich erscheinen. Vom „Erwachsenen Ich“ her gesehen sind alle vier Grundeinstellungen der Beziehung möglich. Die Besonderheit ist – noch einmal Kant und seine selbstverschuldete Unmündigkeit –, dass ich meinen Verstand nutze, um zu bewerten, welche der Grundeinstellungen vorliegen und welche der „Ich-Zustände“ in der Begegnung die Federführung übernommen haben. „Sapere aude“ – wage zu denken, und das in Sachen Religion und Glaube!
Den Pharisäern, den Vertreter*innen von „Mutter Kirche“ sagen zu können: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat“, hat drei Implikationen: Er befreit (1) von überkommenen Vorschriften aus dem „Eltern-Ich“ der anderen mir gegenüber und er befreit (2) mich aus einem „Kindheits-Ich“, in das mich die „Pharisäer“ stecken wollen; schließlich (3) verleiht dieser Satz mir eine Deutungshoheit über das Hier und Jetzt, indem ich – im Modus des „Erwachsenen-Ich“ – meine Weisen des Denkens Fühlens und Verhaltens im Blick auf Jesus Christus und aus seinem Geist heraus zu wählen und zu gestalten versuche.
Das ist mir ein Stück Befreiungstheologie im Kleinen – und die Rechenkünste ganz zu Beginn der Predigt, die Zählweisen des Sonntags, sind doch ein Beleg dafür, dass eine solche Befreiungstheologie nicht ganz unbegründet zu sein scheint. Zu dem einen mag ich aus Vernunftgründen stehen, das andere wählen, das Dritte schlicht lassen. Der kleine Anfang eines „Schluss, aus, basta“ dem und denen gegenüber, die weder ihr noch mein „Erwachsenen-Ich“ sehen und daraus kommunizieren wollen und denen gegenüber, die eine schräge Grundeinstellung der Beziehung jenseits des „Ich bin o.k. – Du bist o.k.“ favorisieren. Gut, zu wissen, dass im Hebräischen „Schluss, aus basta“ zu übersetzen ist mit …
„… Amen“.
Köln, 31.05.2024
Harald Klein
[1] Harris, Thomas A (1973): Ich bin o.k. Du bist o.k. Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Einstellungen zu anderen verändern können. Eine Einführung in die Transaktionsanalyse. Aus dem Englischen von Irmela Brender, Reinbek.
[2] vgl. [online] https://www.berufsstrategie.de/bewerbung-karriere-soft-skills/kommunikationsmodelle-transaktionsmodell.php [31.05.2024]