Ostermontag: „… die Welt steht auf mit euch“

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Ein erster Perspektivwechsel

Das, was dem Osterfest, dem Begriff der Auferstehung zugeschrieben wird, kannst Du mit dem Begriff des Perspektivwechsels gut umschreiben. Denke an das Hin und Her der Frauen am Grab, dieselbe Bewegung dann bei Simon Petrus und Johannes oder bei Maria Magdalena – ein Hinweg in Trauer, Unsicherheit und Schmerz, dann eine „Ent-Deckung“ im Sinne einer „Offen-Legung“, und ein Rückweg in Trost, Gewissheit und Freude.

Diesen Wechsel der Perspektive erfahren auch Kleopas und sein Begleiter, die beiden, die im Evangelium und in der Verkündigung unter der Bezeichnung „Emmaus-Jünger“ geführt werden. Von „den beiden“ zu sprechen, scheint im ersten Blick falsch, denn schließlich sind es doch drei, die auf dem Weg in das „Dorf namens Emmaus“ sind. Während „die beiden“ reden, schreibt der Evangelist Lukas, kam „Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen. Doch ihre Augen waren gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten“ (Lk 24,15f.16).

Ich biete Dir einen ersten Perspektivenwechsel an: Lies doch die Geschichte einmal so weiter, als hätte sich die Kreis- oder Zirkelbewegung, von der gestern die Rede war (Krippe – Kreuz – Grab – Krippe), sich in den beiden Jüngern schon vollzogen, als wäre deren und als wäre Dein Herz, Dein Geist, die Krippe, in der Jesus wieder- oder neu geboren wäre, sodass er in Dir wie auch in den „Emmaus-“ und den anderen Jüngern und Jüngerinnen lebte. Dann klingt die Geschichte ganz anders!

» Dieses Konzept [...] beschreibt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. [...] Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein ‚sowohl als auch‘ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 79.

Der „uneindeutige Verlust“

Mir hilft zum Verständnis dieser Emmaus-Erzählung eine Umschreibung, die ich dem in Berlin lebenden Autoren Daniel Schreiber aus seinem Buch „Allein“[1] verdanke, es geht um das Konzept des „uneindeutigen Verlustes“. „Dieses Konzept geht auf die Psychologin Pauline Boss zurück und beschreibt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Einige der bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind. Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein ‚sowohl als auch‘ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. Pauline Boss zufolge geht mit uneindeutigen Verlusten eine eigene Form der Traumatisierung einher.“[2]

Wenn Du Dir die Frauen am leeren Grab anschaust, den Simon Petrus mit dem Johannes und die Maria Magdalena mit ihrem „Gärtner“ – trifft dann nicht genau dieses Konzept zu? Der „Perspektivwechsel“ liegt eben in einem Hin- oder Anweg, in einer Begegnung, Erfahrung, Umdeutung , und im Weg zurück, woher sie gekommen sind, wenn auch als „Gewandelte“. Die „Uneindeutigkeit“ des Verlustes kann nur aufgelöst werden durch ein „Re-fraiming“, durch immer wiederkehrende Perspektivwechsel im Erleben, dadurch, dass in den Erfahrungen, die nach dem Verlust des Karfreitags gemacht werden, in Erinnerung an das, was vor dem Karfreitag geschah und erlebt wurde, die Gegenwart Jesu als „Auferstandener“ jetzt angenommen wird (Du weißt, dass ich „Annahme“ in aller Regel in seiner Doppeldeutigkeit benutze).

» Es ist der große Trost in meinem Leben: Was immer ich in meinem Leben nicht bin, was immer ich dir nicht bin – ich bin genug, dass ich bis jetzt von dir geliebt werde. «
Schlink, Bernhard (2021): Die Enkelin, Zürich, 129.

Ein zweiter Perspektivwechsel

Ich biete Dir einen zweiten Perspektivwechsel an, den manche wohl als „häretisch“ bezeichnen würden. Wenn Du die Deutung des „Christus in mir“ und des „Christus in Dir“ konsequent weiterdenkst, dann ist es zum einen die Vergewisserung auf dem Weg, was in Jerusalem mit Jesus geschah; dann ist es aber vor allem das Mahl in Emmaus am Abend, das Brot (ich möchte den Wein ergänzen), der Lobpreis, das Teilen des Brotes und das Reichen des Brotes, das den zwei Jüngern – mehr waren es in meiner Zählweise nicht – die Augen aufgehen und das Herz entbrennen lässt. Ich kann Dir versichern, und vielleicht hast Du es selbst schon so erlebt, dass manche Abende bei mir zu Hause am Tisch mir Christus näherbringen als am Altar, und dass er mir in denen, die da sitzen wirklich greifbar nahe ist, kein Wunder, hat er doch Wohnung genommen in uns allen.

Und was tun die beiden? In guter Tradition der drei Frauen am Grab, des Simon Petrus und des Johannes, der Maria Magdalena kehren sie um und gehen in Kontakt zu denen, von denen man annehmen darf, dass sie diese „Perspektivwechsel“ mitgemacht und eine sowohl persönliche als auch gemeinsame Antwort auf den „uneindeutigen Verlust“ des Karfreitags und des Ostermorgens gefunden haben: „Es ist der Herr!“ Das Wort wird uns in den kommenden Wochen sehr begleiten.

» Jetzt wär‘ es Zeit, dass Götter treten aus
bewohnten Dingen ...
[...]
Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt
an allen Bruchstellen unseres Misslingens... «
Rilke, Rainer Maria (1982): Werke. Bd. II-1: Gedichte und Übertragungen, herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth-Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1982, 185.

„Die Welt steht auf…“

Wenn gestern am Ende die Frage stand, wie es denn möglich sei, nach und in all dem Leid zu leben, ist es wieder Rainer Maria Rilke, der uns in einem Gedicht ohne Titel aus seinem Todesjahr 1925 eine Antwort zu geben vermag. Ich habe es gestern kurz erwähnt. Die Rede ist von den „Göttern in den bewohnten Dingen“, und er setzt drei Punkte, lässt es offen – es ist in christlicher Perspektive eben ein Perspektivwechsel, zu glauben, dass Christus nicht nur außerhalb, sondern vor allem innerhalb meiner seine Wohnung suchen will. Die Kraft, die in dieser „Annahme“ (!) liegt, führt dazu, dass „die Welt mit euch aufsteht“. Und das gesamte Ostergeschehen um Jesus, aber auch die Karfreitage und Möglichkeiten der Oster- und Auferstehungserfahrungen in jedem menschlichen Leben beenden das Gedicht, denn „Anfang glänzt an allen Bruchstelln unseres Misslingens.“

Rilke schreibt:

„Jetzt wär‘ es Zeit, dass Götter treten aus
bewohnten Dingen…
Und dass sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite. Nur der Wind
den solches Blatt im Wenden würfe, reichte hin;
die Luft, wie eine Scholle, umzuschaufeln:
ein neues Atemfeld. Oh Götter, Götter!
Ihr Oftgekommenen, Schläfer in den Dingen,
die heiter aufstehn, die sich an den Brunnen,
die wir vermuten, Hals und Antlitz waschen
und die ihr Ausgeruhtsein leicht hinzutun
zu dem, was voll scheint, unserm vollen Leben.
Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.
Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung.
Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt
an allen Bruchstelln unseres Misslingens.“
[3]

Jetzt wär‘ es Zeit!
Amen.

Köln,31.03.2024
Harald Klein

[1] Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München

[2] a.a.O., 79.

[3] Rilke, Rainer Maria (1982): Werke. Bd. II-1: Gedichte und Übertragungen, herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth-Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1982, 185.