Den Übergang wahrnehmen
Lassen Sie uns an Ostern da beginnen, wo wir am Karfreitag aufhörten, bei der Akzeptanz des eigenen Kreuzes, und beim Wahrnehmen all dessen und all derer, die neben dem Kreuz einfach da sind, weil alles andere eben nicht taugt, um wieder Hilde Domin zu zitieren. Und von diesem Punkt aus versuchen Sie einmal, die Bilder der Osternacht zu verinnerlichen und die Worte der Osterevangelien mit wachen Ohren zu hören. Nehmen Sie den Übergang wahr, der in den Evangelien beschrieben wird, den Übergang vom Kreuz zur Auferstehung.
In der Osternacht wird der Weg der Frauen mit den wohlriechenden Ölen beschrieben, der sie in aller Frühe zum Grab Jesu führt. Und sie sehen, dass der Stein vom Grab weggewälzt war. Am Ostersonntag erzählt das Evangelium von Maria Magdalena, die frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab kommt und sieht, dass der Stein weggenommen war.
Die Zeit ist wichtig, der Morgen und das aufdämmernde Licht. Und der Stein ist wichtig, der weggenommen ist.
Den Übergang annehmen
Und jetzt schauen Sie noch einmal auf Ihren persönlichen Kreuzweg. Da mag vieles sein, was für Sie „gestorben“ ist, was nicht mehr geht, was ein Ende erfahren hat, egal ob gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, egal ob durch Ihr Verschulden oder durch das Vorgehen anderer. Ostern feiern geht nur in einer Entschiedenheit zur Hoffnung. Sie mögen verharren wollen unter dem Druck des Steines, der Ihnen manchen Weg versperrt, Sie mögen das Licht des dämmernden Morgens nicht mehr sehen wollen oder können, weil Ihnen der Blick versperrt ist. Das wäre das Verharren im „Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze“, der aber nicht taugt, genauso wenig wie der „Wunsch, den Blumenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben.“
Den Übergang wahrnehmen und vor allem den Übergang annehmen geht nur, wenn der Stein weggenommen wird. Es braucht dazu eine Kraft von außen, und wenn es nur Menschen wie die Frauen sind, die mit Salben kommen, weil ihnen an Ihnen liegt, weil sie Sie nicht in Ihren Wunden liegen lassen wollen. Aber vielmehr braucht es eine Kraft von Ihnen, den Stein loszulassen. Das Tor der Hölle ist von innen verschlossen! Der entscheidende Punkt, Auferstehung zu erleben nach dem persönlichen und eigenen Kreuzweg ist zum einen die Haltung der Entschiedenheit zur Hoffnung. Und dazu kommt das Loslassen all dessen, was Ihnen auf dem Kreuzweg genommen wird – und all derer, die auf diesem Kreuzweg zurückgelassen werden. Der Stein, der dem dämmernden Morgen entgegensteht, ist das verzweifelte Kämpfen und der Wille, festzuhalten an dem, was auf Ihrem Kreuzweg auf der Strecke bleibt, und an denen, die sich abwenden.
„Immer wieder versehrter und heiler…“
Die großen Worte vom „Loslassen“ und von der „Akzeptanz“ gehören mehr in den Buddhismus als ins Christentum. Da können wir Christen viel lernen. „Auferstehung“ feiern geht nicht ohne den Kreuzweg, ohne Aufgeben, sich Überlassen, Erfahrung von Tod und von Dunkelheit. Auferstehen kann nur, was vorher gestorben ist. Die Erfahrung dieses Sterbens suchen wir nicht, sie überkommt uns in vielfachen Formen. Um so wahrer und um so treffender ist der Schluss des Gedichtes „Bitte“ von Hilde Domin: „Es taugt die Bitte […] dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer wieder versehrter und heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden.“
Auferstehung leben geht nur, indem Sie um Ihre Wunden wissen und sie ansehen, vielleicht sogar den anderen zeigen. Auferstehung geht in eins mit dem „immer versehrter“ sein. Und gleichzeitig, so sagt es Hilde Domin, werden Sie darin immer auch „heiler“, kommen Sie „stets von neuem“ immer dem näher, der oder die Sie selbst sind.
Und dann das große Wort, „zu sich selbst entlassen“ zu werden. Auferstehung meint auch, die Grabeshöhle zu verlassen, die am Ende des Kreuzweges steht. Auferstehung leben, immer versehrter und immer heiler, meint die gottgegebene Chance, loszulassen, was nicht gehalten werden kann, mit den eigenen Wunden, immer versehrter, neu ins Leben zu gehen, als der oder die, der oder die ich in der Tiefe meines Menschseins bin.
Paulus nimmt dafür in der Lesung das Bild vom Sauerteig: „Schafft den alten Sauerteig weg, damit Ihr neuer Teig seid.“ In der Ostersequenz ist dieses Ringen ausgedrückt mit „Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf“. Und das Evangelium spricht von der Sicht des Johannes in das leere Grab und stellt fest: „Er sah und glaubte.“
Dass wir Menschen werden, die ihren Kreuzweg gehen, dass wir das Loslassen können, was uns den Blick auf einen neuen österlichen Morgen verspricht, dass wir immer versehrter und immer heiler werden – das ist unser persönliches Ostern.
Amen.
Kiedrich/Rheingau, 21.04.2019
Harald Klein