Palmsonntag: Der Inbegriff aller Missverständnisse

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An einem Tag vor dem Paschafest in Jerusalem…

Du weißt, wie der Gottesdienst an Palmsonntag abläuft? An Palmsonntag versammeln sich die, die zum Gottesdienst gekommen sind, vor der Kirche. In einem kurzen Begrüßungswort wird auf den Einzug Jesu in Jerusalem hingewiesen; Buchsbaumzweige werden mit Weihewasser gesegnet, das Evangelium vom Einzug in Jerusalem wird gelesen, danach zieht die feiernde Gemeinde in die Kirche ein. Beachte das vor und das in die Kirche. Nach den ersten beiden Lesungen wird dann im Gottesdienst die Leidensgeschichte Jesu – in diesem Jahr in der Fassung des Markus-Evangeliums – vorgetragen. Sinnfällig wird klar, wie nah das „Hosianna“ und das „Kreuzige ihn“ derselben Menschen beieinander liegen.

Aber jetzt der Reihe nach.

» Auch, wenn wir es kaum glauben können, Gott will von uns nicht, dass wir perfekt sind oder alle möglichen Erwartungen und Gesetze erfüllen. Gott will eine persönliche Beziehung zu uns, damit er uns zum Heil führen kann. Dabei ist es nicht wichtig, wie viel wir äußerlich vorzuweisen haben, sondern welche inneren Schätze uns glänzen lassen. «
Kreitmeir, Christoph [online] https://www.katholisch.de/artikel/21306-weil-der-herr-es-braucht [22.03.2024]

„Der Herr braucht es!“

Das Evangelium erzählt: Nahe bei Jerusalem, am Ölberg, schickt Jesus zwei seiner Jünger voraus, sie mögen einen jungen Esel, ein Fohlen, am Dorfanfang losbinden und zu ihm bringen. Und wenn jemand sie frage, was sie da machten, mögen sie antworten: „Der Herr braucht es; er lässt es bald wieder zurückbringen.“

Um diesen Tag und seinen Inhalt zu verstehen, scheint es mir wichtig, dass Du diese Worte und das, was sie bezeichnen, gut kennst. Es geht um einen kleinen Esel, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat – und ausgerechnetden braucht Jesus, ausgerechnet den lässt er holen. Von ihm lässt sich Jesus nach Jerusalem tragen, auf ihm zieht er ein in die Stadt, und der einzige Schmuck dieses „Königsträgers“ sind die Gewänder der Jünger, die sie dem Esel über den Rücken legen! Für mich ist das ein Paradebeispiel der heiligen Einfalt, wie ich sie gerne dem heiligen Franziskus zuschreibe. Diese Einfachheit ist es, die Jesus will, die er lebt, die er weitergibt über die Jünger, und die Dein und mein Christsein am ehrlichsten widerzuspiegeln vermag. Aus dem „Der Herr braucht es“ wird „Das ist es, was der Herr heute braucht!“ Du kannst die Augen schließen und Dir Jesus auf dem Eselsfohlen, bedeckt mit den Kleidern der Jünger vorstellen, wie seine Jünger ihn umringen, vor ihm hergehen, ihm den Weg frei machen.

» Jesus Christ, Jesus Christ,
Who are you? What have you sacrificed?
Jesus Christ, Superstar,
Do you think you're what they say you are? «
aus: Rice, Tim/Webber, Andrew Lloyd: Jesus Christ, Superstar, Uraufführung 12.09.1971

„Hosanna! Gesegnet sei er!“

Und dann die Menschen in Jerusalem. Sie breiten ihre Kleider vor dem Esel und dem Menschen auf ihm aus, andere werfen Büschel, die sie von den Feldern abgerissen hatten. Die, die vor ihm her oder hinter ihm nachgehen, rufen „Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe.“

Schließe gerne nochmal die Augen und stell Dir Jesus auf dem Eselsfohlen vor – und am besten seinen Gesichtsausdruck. Braucht das der Herr?

Ob es Jesus gefällt, oder ob Jesus es annehmen kann, dass da eine Menschenmenge das „Hosanna“ ihm entgegenwirft? Ursprünglich heißt „Hosanna“ übersetzt „Hilf doch!“ Es ist eine klagende Bitte, an Gott, an den König oder an eine andere Instanz – hier: an Jesus – gerichtet. Das „Hosanna“ diente auch dazu, lautstark einen Rechtsanspruch anzumelden. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dieser Ruf zu einem Heilsruf des Bittenden, der auf die sichere Rettung vertraut und dem Retter zujubelt.[1] Ohne selbst ein Wort zu sagen, ohne selbst irgendwie aufzutreten, wird Jesus am Stadttor von Jerusalem als „Retter“ vereinnahmt, auf Hörensagen hin, und die gewählte und zur Schau gestellte Einfachheit des Eselsfohlens und des mangelnden Schmucks des Tieres wird völlig verdrängt, übersehen, nicht wahrgenommen.

Der Palmsonntag ist ein Akt selektiver Wahrnehmung. Die Menschen in Jerusalem sehen, was sie sehen wollen. Sie wollen den Retter sehen, den Befreier vom römischen Joch, den Gesalbten ihres Gottes. Aus der Psychologie ist bekannt, dass Priming (Bahnung), Framing (Rahmung, Einordnung, Schematisierung) oder vergleichbare Effekte selektive Wahrnehmung hervorrufen können. Alle Vorsichtsmaßnahmen Jesu, das Eselsfohlen statt einem königlichen Ross, der fehlende Schmuck, alle gewählte Einfachheit, haben hier nicht greifen können.

Der Ruhm, den Jesus hier erfährt, ist gar nicht der, der ihm zusteht; es ist der, von dem die Menschen wollen, dass er ihm zustehe. Das geht aber schief, übrigens bis heute! Und Du weißt, wie das Ende Jesu aussieht!

» Denn Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Missverständnisse, die sich um einen neuen Namen ranken. «
Rilke, Rainer Maria (1984): Auguste Rodin, Frankfurt/Main und Leipzig, 9, in: Decker, Gunnar (2023): Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie, München, 485.

Ruhm: Der Inbegriff aller Missverständnisse

Ähnlich erging es Rainer Maria Rilke. In seinen letzten Monaten lebte er zurückgezogen in seinem Wohnturm in Muzot. Im Jahr 1924 will die französische Zeitschrift „Les cahiers du Moi“ ein Heft über „Reconnaisance á Rilke“ („Aufklärung über Rilke“) herausgeben und stellt dem Heft ein Zitat aus einem Essay Rilkes über August Rodin voran: „Denn Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Missverständnisse, die sich um einen neuen Namen ranken.[2]

» Himmelskönig, sei willkommen,
lass auch uns Dein Zion sein!
Komm herein!
Du hast uns das Herz genommen,
Himmelskönig, sei willkommen,
lass auch uns Dein Zion sein. «
Bach, Johann Sebastian: Himmelskönig, sei willkommen (BWV 182) - Kantate zum Palmsonntag, Eingangschor.

An einem Tag vor dem Paschafest bei Dir zu Hause…

Ich habe keine Kenntnis, wie das Ringen um den Ruhm Rilkes ausgegangen ist. Auch nicht darüber, wie es August Rodin ergangen ist. Was ich aber weiß, zumindest was ich glaube, ist, dass der Palmsonntag die manifeste Erscheinung dessen ist, dass der „Ruhm“, mit dem die Bürger von Jerusalem Jesus bei seinem „Einzug“ in die Stadt überschüttet haben, genau das ist, was Rilke ins Wort bringt: der „Inbegriff aller Missverständnisse, die sich um einen neuen Namen ranken.“

Würden die Musikautorinnen und Musikautoren heute eine Passion schreiben, und hätten sie einen Zugang zu Rilke, wären sie gut beraten, das „Hosianna“ des Palmsonntags und das „Kreuzige ihn“ des Karfreitags mit der gleichen Melodie oder Tonfolge zu komponieren. Und dazu einen Choral, der den Ruhm als Inbegriff aller Missverständnisse vertont.

Bachs Eingangschoral für seine Kantate an Palmsonntag „Himmelskönig, sei willkommen“ endet mit: „Lass auch uns Dein Zion sein!“ Als kleine Fußnote dazu: Hast Du mal überlegt, was in Dir, mit Dir, für Dich und durch Dich mit den Menschen geschehen ist, die Du innerlich oder äußerlich „gerühmt“ hast? Oder wie schnell Du bereit bist, einem“ neuen Namen“ Ruhm zuzusprechen? Warum machst Du so etwas? Und wie geht die Geschichte weiter? Es könnte sein, dass da so Dinge wie „Fußwaschung“ – der Gründonnerstag – oder das „Kreuzige ihn!“ – der Karfreitag eine Rolle spielt.

Wir werden sehen.

Amen.

Köln,22.03.2024
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://www.herder.de/gd/lexikon/hosanna/ [22.03.2024]

[2] Rilke, Rainer Maria (1984): Auguste Rodin, Frankfurt/Main und Leipzig, 9, in: Decker, Gunnar (2023): Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie, München, 485.