Palmsonntag – Hören auf die Süchtige, den Saboteur, den Lehrer

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Wo es wie hingehen soll

Ziel der auf links gedrehten Evangelien in der Heiligen Woche und an Ostern ist der Versuch, die Phönixerfahrung, die Anne Vonjahr beschreibt,[1] in den Bildern und geschilderten Ereignissen im Leben Jesu wiederzuerkennen, und umgekehrt: die große Erzählung von Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu als Phönix-Erfahrung fürs Miterleben zu deuten.

Zur Erinnerung: Anne Vonjahr beschreibt sechs Schritte der Phönixerfahrung:
Der erste Schritt der Phönixerfahrung: Die große Vorbereitung: Wenn der Phönix spürt, dass seine Zeit gekommen ist, trägt er die wertvollsten Materialien zusammen, um sein Nest zu bauen und sich auf das Ende vorzubereiten.

Der zweite Schritt der Phönixerfahrung: Die Zerstörung: Der Phönix erlaubt den Sonnenstrahlen, sein Nest in Brand zu setzen.

Der dritte Schritt der Phönixerfahrung: Der Zerfall: Der Phönix zerfällt zu Asche.

Der vierte Schritt der Phönixerfahrung: Eine neue Normalität: Der Phönix stirbt.

Der fünfte Schritt der Phönixerfahrung: Die Geburt: Der neue Phönix wird geboren.

Der sechste Schritt der Phönixerfahrung: Das neue Leben: Der junge Phönix breitet seine Flügel aus.[2]

Damit dieser Vergleich nicht der Theorie verhaftet bleibt, sondern in Meditation und/oder Gebet eine Relevanz und eine Deutungsmöglichkeit für dein eigenes Leben und Erleben hat, versuche ich, den Tagen und ihren Inhalten Figuren mit Deutungshoheit an die Seite zu setzen, die ich ebenfalls dem Werk von Anna Vonjahr entnehme. In den „Phönixkarten“[3] beschreibt sie „44 Archetypen für dein inneres Licht“. Synonym für den Begriff des „Archetypen“, der der Tiefenpsychologie C.G. Jungs entstammt, verwendet Vonjahr den Begriff der „inneren Bewohner“ deiner Seele. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schultz von Thun würde eher vom „inneren Team“ sprechen, der in der Psychosynthese heimische Psychologie Roberto Assagioli von „Teilpersönlichkeiten“. Aber schau du selbst, was dir dient.

»Als er in die Nähe von Betfage und Betanien kam, an den Berg, der Ölberg heißt, schickte er zwei seiner Jünger voraus und sagte: Geht in das Dorf, das vor uns liegt. Wenn ihr hineinkommt, werdet ihr dort einen jungen Esel angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat. Bindet ihn los und bringt ihn her! Und wenn euch jemand fragt: Warum bindet ihr ihn los?, dann antwortet: Der Herr braucht ihn. «
Lk 19,29-31

Der Anfang vom Ende

Zu Beginn der Feier der Heiligen Woche steht der Einzug Jesu in Jerusalem, vom Ölberg zieht Jesus hinunter ins Dorf und dann wieder hinaus nach Jerusalem. Zwei seiner Jünger besorgen ein Fohlen, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat. In älteren Übersetzungen wird bei Lukas der kleine Esel losgebunden, weil der Herr ihn braucht. Schon vor der Stadt breiten die Menschen ihre Kleider aus, damit Jesus darüber reite, loben Gott freudig und mit lauter Stimme wegen all der Machttaten Jesu, die sie gesehen hatten, und stimmen Lobgebete an: „Gepriesen sei der König, der kommt im Namen des Herrn.“ Die Pharisäer sind verstimmt über den Jubel, wollen, dass Jesus die Seinen zurechtweise. Er erwidert, dass die Steine ins Schreien kämen, würden seine Jünger schweigen.

Der liturgisch-pädagogische Zeigefinger zeigt gerne auf diese Menge von Menschen bei Jesu Einzug in Jerusalem und verweist darauf, dass es dieselben Menschen seien, die wenig später das „Kreuzige ihn!“ skandieren.

Du könntest meinen, dass hier nicht der Beginn, sondern das Ende einer Phönixerfahrung ins Bild kommt. Jesus breitet wie der junge Phönix nicht seine Flügel, doch seine Arme aus, segnet die um ihn herum. Das „Hosianna dem Sohne Davids“ könnte die Hymne eines neuen Lebens der Menschen in Jerusalem sein, da der Erlöser, der Messias, angekommen ist und die Erlösung, die messianische Zeit ihren Anfang gefunden hat.

Aber: Das Gegenteil ist der Fall!

Und du kannst es in deinem eigenen Leben und Erleben nachempfinden.

» Süchte holen uns aus dem Moment, und wir trennen uns von dem, was wir gerade erleben. Das Paradoxe ist, dass wir durch sie versuchen, vor der Dunkelheit fortzulaufen und, und zugleich eine noch größer Dunkelheit zu kreieren. Der Archetyp der oder des Süchtigen spricht zu uns über das, was uns fehlt, und über unsere Beziehung zu Sicherheit, Kontrolle und unsere tiefe Angst vor Veränderung. «
Vonjahr, Anne (2024): Die Phönixkarten. 44 Archetypen für dein inneres Licht, Kiel, 161.

Die Suche und die Sucht nach Leben

Den Menschen in Jerusalem und den Menschen in Köln oder wo aus immer du wohnst, darfst du unterstellen, dass sie auf der Suche nach einem Mehr an Leben sind – und das wohl immer und überall. Diese Suche hier wie dort zur Suchtnach Leben und Lebendigkeit werden. Sucht soll hier verstanden werden nicht als Mangel an Willenskraft oder als Charakterschwäche, sondern als Antwort auf einen tiefen Schmerz in der inneren Welt eines Menschen, als Selbstschutzstrategie, um einen Schmerz in uns zu betäuben.[4]

Die Menschen in Jerusalem projizieren ihre ganze Sehnsucht, ihre ganze Suche nach Leben und Lebendigkeit auf Jesus, und als das nicht wie erwartet funktioniert, wird der Karfreitag, wird das Umkippen ihrer Stimmung erklärbar. Die erwartete, ersehnte Form von Lebendigkeit und Leben kann Jesus ihnen nicht geben, aus dem „Hosianna“ wird das „Kreuzige ihn“.

Eine „innere Bewohnerin“ aus dem Werk von Anne Vonjahr ist prädestiniert dafür, diese Suche als Sucht zu deuten. Das Gespräch mit dieser inneren Bewohnerin, mit der Süchtigen, kann dir helfen, die Schatten deiner Sucht nach Lebendigkeit und Leben bei dir selbst zu erkennen. Anne Vonjahr nennt Kontrollverlust, Selbsttäuschung Flucht, Selbstsabotage u.v.m. Dich mit Hilfe der Lichtseiten der Süchtigen deiner Sucht nach Leben und Lebendigkeit zu stellen könne hingegen zur Bereitschaft zur Veränderung, zu Ehrlichkeit und Willenskraft, zu Entschlossenheit und Mitgefühl u.vm. führen. Schau dir als Probe aufs Exempel an, auf wen oder auf was du deine Sehnsucht nach Leben und Lebendigkeit richtest oder gerichtet hast, und was die Sucht nach Leben und Lebendigkeit dabei angerichtet hat. Und dann, was geschieht, wenn du in deiner Suche einen Gang zurückschaltest! Für alle Gespräche mit den „inneren Bewohnerinnen und Bewohnern“ gilt: Unterscheide explizit deren Licht- und deren Schattenseiten. Und manchmal sind dir deren Licht-, ein andermal deren Schattenseiten hilfreich.

» Wenn du dem Saboteur oder der Saboteurin deiner inneren Welt begegnest, könntest du denken, er oder sie möchte dich auf deinem inneren Weg aufhalten. Aber in Wahrheit tritt er oder sie in dein Leben, wenn du die Grenze deines bisherigen Potenzials erreicht hast und es gilt, mehr deines inneren Lichts zu befreien. So ist dieser Archetyp eine Selbstschutzstrategie, mit welcher du versuchst, dich vor dem Unbekannten zu schützen. «
Vonjahr, Anne (2024): Die Phönixkarten. 44 Archetypen für dein inneres Licht, Kiel, 149.

Leben sabotieren

Ein zweiter Aspekt des erhofften Lebens, wie er beim Einzug Jesu in Jerusalem offenbar wird: Die Menschen dort werden – ähnlich wie du – nicht völlig blind oder völlig ohne Selbstmitgefühl unterwegs gewesen sein. Sie werden um ihre Grenzen gewusst haben, was Leben und Lebendigkeit angeht. Sie werden ein Gespür dafür gehabt haben, was sie wollen und was nicht, mit wem sie unterwegs sein möchten und mit wem besser nicht oder nicht mehr. Da mögen sie dir ganz ähnlich gewesen sein. In all dem, bei ihnen, bei dir, mag es einen „inneren Mitbewohner“ geben, den Anne Vonjahr den Saboteur nennt. Er hat einen unglaublichen Einfluss, sowohl auf der Schatten– wie auf der Lichtseite. Auf der Schattenseite sabotiert er deinen eigenen Fortschritt, deinen Mut zu Neuem und zur Entwicklung durch Ängste und Zweifel, er initiiert Vermeidung und Blockaden, baut Widerstände gegen Veränderungen auf und hält dich klein. Auf der Schattenseite lernst du von ihm, dass du einfach zu klein zum Leben und zu Lebendigkeit bist. Auf der Lichtseitesabotiert er genau diese Wirkungen! Er ermutigt zu Veränderungen und dazu, Herausforderungen anzunehmen. Über den Weg der Selbstreflexion erlebst du Befreiung und Entfaltung. Hier lernst du von ihm, dass du Leben und Lebendigkeit dir selbst schenken und ermöglichen kannst.[5]

» Für den Lehrer oder die Lehrerin ist Unterrichten ein heiliger Akt. Die erste Aufgabe besteht drin, den Schülern und Schülerinnen bewusst zu machen, welch verborgenes Genie in ihrer Seele schlummert. Die zweite Aufgabe ist es, einem Menschen zu helfen, das Genie zu entfalten. «
Vonjahr, Anne (2024): Die Phönixkarten. 44 Archetypen für dein inneres Licht, Kiel, 101.

Leben lehren und Leben lernen

Um nicht immer wieder dieselben eigenen Fallen hineinzutreten, um einen Weg aus dieser Gefangenschaft im Leben und der Befangenheit dem Leben gegenüber zu finden, hilft das Gespräch mit einem dritten inneren Bewohner deiner selbst, mit dem Lehrer. Seine Aufgabe ist es, deine Gaben und Fähigkeiten zu erahnen bzw. zu wissen und dich an sie zu erinnern, sie aufzurufen dann, wenn sie dir dienlich sind. Er weiß um deinen Genius, deinen Geist, um das Genie in Sachen Lebenskunst und Leben können in Dir. Vielleicht erlebst du ihn in seiner Schattenseite stärker. Von dieser Seite aus könnte er dich hinweisen auf das „schon wieder“, auf einen Dogmatismus, was du dürftest und nicht dürftest, auf alles, was irgendwie immer ist und niemals war. Es ist, als kontrolliere er „oberlehrerhaft“ dein Leben. Seine Lichtseitenallerdings vermitteln dir nicht nur Ahnungen, sondern auch Wissen um das, was trägt. Verständnis, Neugier und Geduld, zu denen er dich ruft, ermöglichen Dir ein Wachstum, dass dich unabhängig von anderen und eigenmächtig zum Leben macht. Schau dir als Probe aufs Exempel an, ob dieser Lehrer oder diese Lehrerin in dir dich eher lehrt oder dich eher belehrt, dich mit Impulsen in Fahrt bringt oder dich eher ausbremst. Und bitte ihn, dich das Leben zu lehren und es mit dir zu lernen.

Zurück zu Jesu Einzug in Jerusalem. Oder zum Einzug Jesu in dein Leben. In Jerusalem ging es schnell vom „Hosianna“ zum „Kreuzige ihn“. Vielleicht auch deshalb, weil versäumt wurde, die „inneren Bewohner“ der „Stadt“ auf diesen Einzug Jesu zu befragen, ihnen zuzuhören. Das sollte uns nicht passieren!

So viel für heute – dir einen guten Weg in und durch die Heilige Woche.

Köln, 11.04.2025
Harald Klein

[1] vgl. Vonjahr, Anne (2023): Die Phönix-Erfahrung. Wie du auf einer magischen Reise deine Schatten heilst und dein wahres Selbst erkennst, 2. Aufl., München.

[2] vgl. a.a.O., 54-59.

[3] vgl. Vonjahr, Anne (2024): Die Phönixkarten. 44 Archetypen für dein inneres Licht. Anleitungen und Deutungen, Begleitbuch zu den Karten, Königsfurt.

[4] vgl. a.a.O. 161f.

[5] vgl. a.a.O. 149f..