Pfingsten – Das Ja wagen, oder: Pfingsten war schon

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Und wieder gilt: Das Beste kommt zum Schluss

Drei Wochen ist es her, dass Jesus im Evangelium den Jüngern – und Ihnen, und mir – in seinen Abschiedsreden mit auf den Weg gab: „Ein neues Gebot gebe ich Euch: Liebt einander, wie ich Euch geliebt habe. Daran werden alle erkennen, dass Ihr meine Jünger seid, wenn Ihr einander liebt“ (Joh 13,34f). „Liebt einander!“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das Beste, was Jesus uns geben konnte, gab er am Schluss! Noch eins: Nach den Abschiedsreden im Abendmahlssaal kommt Jesus, kommt der Auferstandene – so erzählt es das Evangelium heute – zu den seinen und hängt an das „Liebt einander“ das „Vergebt einander“ an.

Und was tun seine Jünger? Aus Furcht vor den Juden sind sie immer noch hinter verschlossenen Türen beisammen. Ahnen Sie die Atmosphäre? Sehen Sie die verängstigten Blicke? Man kann die Angst förmlich riechen.

» ‘Er trat in die Mitte‘ [...] ist soviel wie die Aufforderung: ‚Tritt in das Zentrum deines Daseins, besieh dein Leben vom eigenen Kern her, werde dir bewusst, was dich trägt, wer du bist, welche Möglichkeiten in dir liegen, welche Sehnsüchte, wie viele Wünsche du bisher niemals hast leben dürfen.‘ Einzig von daher versteht man, warum der nächste Satz Jesu ein Angebot ist, ein Gruß: Friede sei mit euch! «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 327.

Die Erscheinung des Auferstandenen auf der Subjekt- und der Objektebene

Wer sich selbst nicht riechen kann, der stinkt auch anderen. Lesen Sie das Evangelium doch einmal auf der Subjektebene: Da machen Sie aus Ihrem Herzen eine Mördergrube, in der alles verschlossen ist, wofür Sie sich schämen, was sie lieber nicht zeigen oder offenbaren wollen, was mir Brüchen zu tun hat, die Sie erlebt oder die Sie vollzogen haben. Da haben Sie eine Art Abscheu, in den Spiegel zu schauen, weil Sie den oder die da im Spiegel nicht sehen wollen, ihm oder ihr nicht in die Augen schauen können. Und sollte es jemanden geben, der/die Ihnen vertraut und dem/der Sie vertrauen – maximal bis zu dieser verschlossenen Tür sei Zutritt ins Leben gewährt, dahinter nicht. Auf keinen Fall. Da hat niemand etwas zu suchen – denn Sie selbst trauen sich kaum in diese Dunkel- oder Folterkammer ihres Lebens.

Jetzt das Evangelium auf der Objekteben. Da ist die Dunkel- oder Folterkammer nicht innerlich, sie umgibt Sie (oder andere) und ist, wenn auch unterschiedlich eng oder weit, äußerlich um Sie herum. Auch hier gibt es Brüche, Abscheu, Angst und Verweigerung, jemanden oder etwas in Ihr Leben zu lassen.

Wenn Sie sich fragen, was wir an Pfingsten denn feiern, genügt die Antwort, dass der Auferstandene (ok, in der Erscheinung des Geistes) in diese Dunkel- und Folterkammer tritt und „aufräumt“! Türen öffnet! Licht ins Dunkel bringt! Nur so will ich das „Er trat in die Mitte“ verstehen, und so die Zusage, die einem Wunsch und einer Erlaubnis gleichkommt: „Friede sei mit euch!“ Dann folgt die Geistgabe: Jesus haucht die Jünger an und sagt zu ihnen: „Empfangt den Heiligen Geist. Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“

»Die erste Frucht von der Erfahrung der Überwindung des Todes in der Nähe Jesu besteht für das Johannes-Evangelium in der Gabe der Vergebung. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 317.

Pfingsten war schon

Diejenigen, die sich in der Feier der Liturgie zu Hause fühlen, wissen, dass an Gründonnerstag bei den Einsetzungsworten „Denn am Abend vor seinem Leiden…“ das „das ist heute“ eingefügt wird – es setzt die Abendmahlsfeier gegenwärtig. Dasselbe geschieht an Pfingsten. In der sog. Präfation, dem Gebet vor dem Heilig-Lied, betet der Priester: „Denn heute hast du das österliche Heilswerk vollendet, heute hast du den Heiligen Geist gesandt über alle, die Du mit Christus auferweckt und zu Deinen Kindern berufen hast. Am Pfingsttag erfüllst Du Deine Kirche mit Leben…“

Pfingsten war schon! Ahnen Sie, was das heißt? Ihnen und mir ist der Hauch Jesu schon zuteilgeworden, Ihnen und mir ist die Kraft der Vergebung von Jesus schon zugesprochen, Ihnen und mir sind die Haltungen und Tugenden etwa aus der Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte schon eingefleischt. Es geht um die Fähigkeit zum „Liebet einander!“ und um die Vergebung uns selbst gegenüber und denen gegenüber, die uns geschadet haben. In der Lehrrede des Buddha geht es um den Frieden des Geistes als Ziel unseres Lebens – das ist nicht weit weg von der Pfingstgabe, oder?

Schade, dass wir so viel Kraft darauf verwenden, aus Angst vor – ja wem oder vor was denn – die Türen unserer Herzenskammer verschlossen zu halten. Die Pfingstgabe ist die der allseitigen Vergebung. Es geht hier auch um Vergebung sich selbst gegenüber und allem Schaden, den wir uns selbst tun. Es geht dabei die Offenheit des Pfingstfestes verloren, die offenen Augen, Ohren, Münder, die offenen Arme und Herzen, die offenen Häuser und die offenen Grenzen.

» Was der Gott, den Jesus am Jordan gehört hat, den Menschen sagen will, lautet etwa so: ‚Ich möchte, dass du lebst, und ich glaube, dass selbst die Dinge, die du falsch gemacht hast, so schlecht nicht gemeint waren, wie sie erscheinen können. Wenn du nur erst versuchst, weniger verzweifelt zu sein, weniger hilflos, weniger vor lauter Angst hin und hergetrieben, völlig ratlos deinen eigenen Zielsetzungen gegenüber, dann kommt nach und nach dein Leben wie von allein ins Reine. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 319.

Das Ja wagen

Pfingsten ist so etwas wie der Schlüssel, der diese Folter- und Dunkelkammer öffnet und Licht – vielleicht sogar erleuchtete Menschen, Gefährtinnen und Gefährten, Freundinnen und Freunde, Schwestern und Brüder in diese Kammer lässt. Eugen Drewermann kommentiert: „Das ‚Kunststück‘, von dem die Ostergeschichte des Johannes-Evangeliums erzählt, besteht, bildlich gesprochen, darin, durch verschlossene Türen zu gehen; allein dieser Vorgang kann Jahre in Anspruch nehmen, ein ganz langsames Locken, ein vorsichtiges Gehen mit möglichst ruhigen Bewegungen.“[1] Und als österlich-pfingstliche Menschen zu leben heißt anzunehmen (wie immer zweideutig zu lesen), dass mit Pfingsten „alles“ in mir grundgelegt ist. In der Sprache der Transaktionsanalyse heißt das „Ich bin ok – du bist ok“[2], in der Sprache der Kommunikationspsychologie heißt das, das „innere Team“[3] anzuhören, ohne jemanden auszuschließen, in der Sozialpsychologie heißt das „Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft. – Ziele sind keine Handlungen. – Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können“.[4]

» Diese Macht im Hintergrund von allem ist einfach nur gut, sie ist einfach nur gütig zu uns. Wer diese Entdeckung einmal gemacht hat, und zwar nicht am Rande seiner Existenz als eine fromme Idee am Sabbat- oder Sonntagmorgen, sondern wesentlich, als Ursprung seines Lebens, in der Gewissheit, dass er anders überhaupt nicht leben könnte als aus dieser Erfahrung, für den kehrt sich die ganze Welt um.«
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 319.

Ein kleines Fazit

Die Osterzeit geht mit dem Pfingstfest zu Ende. Pfingsten vollendet die dem Osterfest vorgeschaltete Buß- und die nachgeschaltete Osterzeit. Das Beste kommt zum Schluss: Der auferstandene präsentiert eine gute und gütige Macht, die es mir ermöglichen kann, Licht in meine innere und meine äußere Dunkel- und Folterkammer zu lassen. Es ist meine, es ist Ihre Entscheidung, dieser Macht zu trauen. Den Geist und die Fähigkeit dazu haben Sie! Wer auf diesen Geschmack gekommen ist, der wird ihn nicht lassen.

Eugen Drewermann schreibt: „Diese Macht im Hintergrund von allem ist einfach nur gut, sie ist einfach nur gütig zu uns. Wer diese Entdeckung einmal gemacht hat, und zwar nicht am Rande seiner Existenz als eine fromme Idee am Sabbat- oder Sonntagmorgen, sondern wesentlich, als Ursprung seines Lebens, in der Gewissheit, dass er anders überhaupt nicht leben könnte als aus dieser Erfahrung, für den kehrt sich die ganze Welt um.“[5]

Dass Ihre Welt in Bewegung komme, auf Christus hin, das wünsche ich Ihnen.

Amen.

Köln 03.06.2022
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannes-Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 326.

[2] Harris, Thomas (1976): Ich bin o.k. – Du bist o.k.: Wie wir uns selber besser verstehen und unsere Einstellung zu anderen verändern können. Eine Einführung in die Transaktionsanalyse, Reinbek.

[3] Schulz von Thun, Friedemann (1998): Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Miteinander reden Bd. 3, Reinbek.

[4] Welzer, Harald (2021): Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, 6. Aufl., Frankfurt/Main, 265.

[5] Drewermann, Eugen (2003): a.a.O., 319.