Pfingsten: Leben in der „neuen Normalität“

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Krise bildet Sprachen – der Begriff der „neuen Normalität“

Stellen Sie sich vor, es käme jemand auf Sie zu und fragte Sie, was denn Pfingsten für ein Fest sei und was man da feiere. Was antworten Sie?

Ich würde versuchen, in einer Sprache zu reden, die der Fragende versteht – da kommt unser ach so richtiger Katechismus leider nicht hin. Und ich meine, man könnte es mit der Corona-Sprache versuchen.

Es war der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, der das Schlagwort von der „neuen Normalität“ etabliert hatte, bevor es auch in der deutschen Politik, vor allem bei Gesundheitsminister Jens Spahn und Finanzminister Olaf Scholz Verwendung fand. Der deutsche Philosoph Hans Martin Esser hat sich dieses Begriffes angenommen. Sein Ergebnis auf den Punkt gebracht: Es brauche exogene, von außen kommende Schocks oder historische Gestalten, die in Abstimmung mit der Bevölkerung eine „neue Normalität“ erschaffen, soziologisch könnte man auch von einem „Paradigmenwechsel“ sprechen. Dabei geht es nicht um ein Verewigen des Ausnahmezustandes – so klingt es oft bei Spahn oder Scholz. Eine neue Normalität kann kein dauerhafter Ausnahmezustand sein, sondern orientiert sich eher am Durchschnitt und will dauerhaft eben „normal“ sein.

Das Obergemach – die „alte Normalität“ verabschieden

Die vierzig Tage vor Ostern und die vierzig Tage bis Himmelfahrt bzw. die fünfzig Tage bis Pfingsten bedenken im Grunde genommen nicht anderes als eine einzige große Krisenzeit. Der Weg der Apostel mit Jesus nach Jerusalem, die Szene im Abendmahlssaal, am Ölberg, der Prozess und die Kreuzigung auf der einen Seite – es brauche, so Esser, von außen kommende Schocks oder historische Persönlichkeiten, um eine neue Normalität zu begründen. Dann die Spannung zwischen Erscheinung des Auferstandenen und seiner Himmelfahrt: Der, der die Hoffnung in Person ist, entzieht sich endgültig. Im Obergemach verabschieden sich die Apostel und die Frauen von der alten Normalität. Und dann – wie eine Zeit der Exerzitien, aber auch wie eine freiwillige Quarantäne – geht ihr Blick hoffentlich in die Gegenwart und in die Zukunft. Stellen Sie sich vor, die Apostel und die Frauen hätten alle einen Zettel und einen Stift, und sie dürften schreiben, was sie erhoffen, erbitten, was sie tun wollen – oder was sie befürchten, wovor sie Angst haben, jetzt und in der kommenden Zeit, so ganz ohne Christus. Was würde wohl auf diesen Zetteln stehen…?

Das Sprachwunder – die „neue Normalität“ des Verstehens

Und dann passiert in Jerusalem das, was hier in Nippes auch zu einer „neuen Normalität“ werden könnte. Die Geschichte ist Ihnen hinreichend bekannt. Ein paar „Hingucker“ möchte ich dennoch nennen. „Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt.“, heißt es in Vers 2,3f. Sie kennen den Unterschied zwischen „derselbe Geist“ und „der gleiche Geist“? Ich will mir gerne vorstellen, dass es derselbe Heilige Geist ist, der sich auf jeden und jede niederlässt. Aber ich will mir nicht vorstellen, dass es der gleiche Geist ist. Derselbe Geist verteilt seine vielfältigen Gaben – und müsste ich‘s malen, hätten die vielen Feuerzungen verschiedene Formen und Farben. „Neue Normalität“ heißt erahnen, wie vielfältig die Gaben des Geistes sind, die er den anderen und mir gibt, und „Neue Normalität“ heißt, diese Gabe anzunehmen

Und dann kommt das Sprachenwunder. Die vielen Menschen hören sie „in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden“ (Vers 11). Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass nirgendwo in der Lesung steht, die Apostel samt den Frauen gingen hinaus – oder die andern aus den verschiedenen Völkern kämen hinein? Das steht da nicht! Es scheint, als würde das Obergemach zur Welt (für die „Kontemplativen“) – oder als würde die die Welt zum Obergemach (für die „Aktiven“). „Neue Normalität“ heißt, in der Sprache dieser Menschen gemäß mit ihnen in Berührung zu kommen, genau an dem Ort, wo ich mit Menschen zusammenkomme. Dazu muss ich weder Türkisch, Arabisch, Französisch noch Englisch lernen. „Neue Normalität“ heißt, aus der Gabe des Geistes zu handeln, der mir geschenkt wurde, und alle Angst hintanzustellen, um in Beziehung zu gehen – damit (und das wird gerne vergessen) „Gottes große Taten“ verkündet werden. Das ist der Inhalt des Sprachenwunders, nichts anderes. In der alten Normalität könnte es sein, dass wir zwar im besten Willen, aber dennoch gegen den Geist, geistlos, von falschem Inhalt gesprochen oder falsche Inhalte gelebt haben. Das könnte jetzt – in Abstimmung mit der „Bevölkerung“, so Esser – zum Inhalt der „neuen Normalität“ werden. Das wäre ein schönes Ziel für einen Synodalen Weg, oder?

„… damit sie anderen nützt“ – das Gegenüber in der „neuen Normalität“

Ein erstes Kennzeichen der „neuen Normalität“: Die Geistgabe, und das Obergemach, das zur Welt wird bzw. die Welt, die zum Obergemach wird, und das Verkünden von Gottes großen Taten in verschiedenen – nennen wir’s mal – „Sprachen“. Das zweite Kennzeichen hebt sicher auch manches Verhalten der alten Normalität auf: „Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“ schreibt Paulus in 1 Kor 12,7. Mit anderen Worten: Ichhabe nichts von der Gabe, die der Geist mir schenkt – und sie sind nicht für mich, sondern für andere, denen sie Nutzen bringen sollen. Aber: In dem Maß, in dem ich mich freuen kann, dem anderen gut getan zu haben, wachse ich in der „neuen Normalität“ und wachse ich in sie hinein. Gut zu wissen, dass die um mich herum auch eine Feuerzunge des Heiligen Geistes haben – ich bin gespannt, was da passiert, auch auf mich hin.

„Empfangt den Heiligen Geist“ – ausgerüstet für die „neue Normalität“

Das dritte Kennzeichen mag das schwerste der drei Kennzeichen sein. Es ist die Zusage Jesu: „Empfangt den Heiligen Geist“ und das Empfangen dieses Geistes durch das Anhauchen – in Corona-Zeiten vielleicht im Vollzug unmöglich, in der Tat aber annehmbar (im doppelten Sinne des Wortes). In der Darstellung im Johannesevangelium geschieht dieses Weitergeben des Heiligen Geistes bei der ersten Erscheinung vor den Jüngern, bei der Thomas nicht dabei ist. Da steht das Pfingstereignis, das Pfingstgeschenk noch vor den vielen Erscheinungen des Auferstandenen. Mir scheint das sehr lebensnah. Auf der einen Seite der Zweifel, auf der anderen Seite die Hoffnung. Nicht aus einem Übermut, einer Euphorie heraus, sondern schlicht aus Vertrauen – was heißt hier „schlicht“? – annehmen, das mir der Heilige Geist gegeben ist, dass mich Gottes Feuerzunge berührt hat, mit einer Gabe, die anderen nützen soll – und dass es nicht mehr braucht als die Welt zum Obergemach (oder das Obergemach zur Welt) zu machen, um aufzubrechen, um zu leben, und zu lieben, um zu wirken, um fruchtbar zu sein. Und so auf meine mir zugesagte und mir gegebene Weise Gottes große Taten zu verkünden in den Sprachen, die die Menschen um mich herum verstehen, die ihnen nützt.

Wie das wohl wäre für mich, für die mit mir, für die um mich herum? Ob man da nicht von einer „neuen Normalität“ sprechen könnte?

Ob der, der mich anfangs fragte, das alles so versteht? Allemal ihm, Euch und Ihnen ein gesegnetes Pfingstfest. Lassen wir uns überraschen.

Amen.

Köln, 30.05.2020
Harald Klein