Praktisch umgesetzt – Christlich leben in der Postmoderne

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Eine Begegnung mit Zygmunt Bauman (1925-2017)

Manchmal kann ein Streit in der Philosophie zwar mit schwierigen Worten umrissen werden und dennoch im alltäglichen Leben erfahren werden, sogar das alltägliche (Er-)Leben erklären. Ich selbst habe das in der Begegnung mit dem Soziologen Zygmunt Bauman so erlebt. Seine beiden Bücher „Leben in der Flüchtigen Moderne“ (2007) und „Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit“ (2008) haben mich erahnen lassen, wie ich den „Klimawandel“ in der Gesellschaft, in der ich lebe, deuten, verstehen und erklären kann. Und sie haben mir wichtige Anstöße gegeben, wie ich mein eigenes (nicht nur geistliches) Leben in diesem „Leben in der Ungewissheit“ gestalten und in der Seelsorge anbieten kann, damit es den Menschen dient.

Gerne möchte ich dieses „Praktisch umgesetzt“ nutzen, um Sie an diesem Entdeckungsweg teilhaben zu lassen.

In der Postmoderne lebend, der Moderne verhaftet sein

Wir erleben einen Klimawandel in der Gesellschaft, der den Atem nehmen kann. Für die Einzelbesinnung oder für das Gespräch in der Gruppe lohnt es sich, einmal die eigene Kindheit mit einer Kindheitsbiographie von heute zu vergleichen, wenn es geht, ohne beides zu bewerten. Schauen Sie einmal auf die Unterschiede

  • in den vielfältigen Angeboten und Erwartungen in der Frage nach der Bildung;
  • in den vielen gesetzlichen Vorgaben und Veränderungen im Rahmen von Erziehung, in der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche;
  • in den Möglichkeiten, aber auch in den Zwängen, die eine (neo-)liberale Wirtschaft bietet bzw. aufdrängt, bis hin zur Frage der Pflege und zur Versorgung der „Alten“;
  • in den vielen physischen und psychischen Erkrankungen, die vor allem bei jungen Menschen zunehmen, und auf die Vielfalt der heilenden Angebote;
  • in den politischen Strömungen, auf den ambivalenten Umgang mit dem/den „Fremden“;
  • auf das großartige Projekt „Europa“, das zurzeit sehr angeschlagen ist.

Die Kennzeichen der Postmoderne

Das Problem, dass den Atem nehmen kann, liegt darin, dass im Versuch, zur ordnungsschaffenden Moderne zurückzukehren und ihre Ordnungen beizubehalten, notwendig ein Scheitern liegt. Und neue Lösungen sind nicht in Sicht, wie werden auch in der Form, wie sie die Moderne angeboten hat, nicht mehr n Sicht kommen (können).

Der Grund dafür liegt in den Phänomenen, die zur Kennzeichnung der „Postmoderne“ herangezogen werden können. Sie sind gleichzeitig die Kennzeichen einer Welt, in der die jüngere Generation hineingeboren wurde und die den „Älteren“ kaum nachvollziehbar sind. In sieben Stichworten möchte ich diese Veränderungen vorstellen:

Die Postmoderne betont die „Individualität“des Menschen und die Aufgabe, sich eine eigene Identität schaffen zu müssen. Mit dieser „Individualität“ geht eine „Pluralisierung“einher, eine Zunahme in der Vorstellung von Normalität und Identität. Bauman spricht von der „Entbettung“der Lebensentwürfe, die aus den gewohnten Schnittmustern von Lebensentwürfen herausgelöst sind. Dem liegt eine „Werteerosion“zugrunde, die großen Erzählungen von Religion, von Philosophie, aber auch von Nationalstaatlichkeit, die Lebensmuster mit Prägekraft vorgaben, haben genau diese Kraft verloren und stehen in Vielfalt nebeneinander. Leben steht unter dem Druck der „Ökonomisierung“, es gilt in nahezu allen Lebensbereichen ein Imperativ der Gewinnmaximierung. Ein globales Denken und Erleben, die „Globalisierung“führt zu sog. Interdependenzen, zu gegenseitigen Abhängigkeiten weit über Familie, Dorf oder Staat hinaus. Und die „Digitalisierung“führt zu vielen Formen von Gleichzeitigkeiten und zu einer Raum-Zeit-Verdichtung. Das Weltgeschehen spielt sich in unseren Wohnzimmern, auf dem PC und dem Smartphone ab, die Informationen sind kaum zu bewältigen – sie bieten nicht nur Informationen, sondern bringen Unsicherheit und Angst mit sich.

Wiederum für die Einzelbesinnung oder das Gespräch in der Gruppe: Wo und wie erleben Sie diese „Kennzeichen“, bei sich selbst, bei Ihren Kindern, Ihren Enkeln? Und wie gehen Sie selbst und die Ihren mit der Unsicherheit und der Angst um?

Religion, Frömmigkeit und Spiritualität in der Postmoderne

Was bringt dieser gesellschaftliche Wandel in der Frage nach Religion, nach Frömmigkeit und nach Spiritualität mit sich? Mir hat hier die Unterscheidung des ehemaligen Abtes von Schweiklberg, P. Christian Schütz OSB (*1938), sehr geholfen. In sechs Thesen möchte ich Ihnen das gerne zur Einzelbesinnung oder zum Gespräch in der Gruppe erläutern:

These 1: Zunächst ein Zugeständnis, das ich gerade von Jungen Erwachsenen, die in der Postmoderne „angekommen“ sind, häufig höre: Menschen können „religiös“ und „fromm“ sein, ohne dabei „spirituell“ zu sein. Das ist der Fall, wenn sie sich an etwas außerhalb ihrer selbst festmachen („Religiosität“) und sich in einem Lehrgebäude vorgegebener und erlernter Rituale und Praktiken zu Hause wissen („Frömmigkeit“). Religion und Frömmigkeit kann dann Halt und Identität, Zugehörigkeit vermitteln. Die Dimension der Alltagstauglichkeit, des Dialogischen, der Ausrichtung auf das „Humanum“ (Tiefe, Weite, Liebes- und Leidensfähigkeit) und die lebendige Beziehung z.B. zu Jesus Christus spielt dann keine Rolle.

These 2: Dann ein Blick über den „christlichen Tellerrand“ hinaus: Spirituelle Menschen benötigen zunächst weder Religion noch Frömmigkeit. Ihre spirituelle Weltanschauung versucht, „alltagstauglich“ zu sein. Sie sind hinsichtlich ihrer Weltanschauung dialogfähig und lassen sich vom Geschehen in der Welt, in der Politik, in der Gesellschaft ansprechen und anfragen. Sie streben danach, aus ihrer Weltanschauung heraus im Menschsein zu wachsen, sich zu entwickeln auf ein „Mehr“ an Tiefe, Weite, Liebes- und Leidensfähigkeit. Insofern sie dabei Maß nehmen an Jesus Christus, an seiner Botschaft, seinem Leben, seinem Geschick, kann dann von christlicher Spiritualität gesprochen werden.

These 3: Eine Religion, die einen absoluten Wahrheitsanspruch für sich formuliert, die klare Formen der Frömmigkeit (Rituale und Praktiken) vorsieht und deren Spiritualität eben von Dogmen, Riten und Praktiken bestimmt wird, kann wesentlich nicht (mehr) in der Postmoderne als „Volkskirche“ i.S.v. Kirche des Volkes ankommen werden. Sie wird in der Zeit der Postmoderne nur noch als „Volkskirche“ oder als „die“ Kirche wahrgenommen von denen, die zwar in der Postmoderne leben, aber (noch) in der Moderne verhaftet sind. Vielfalt, oder Ambivalenz wird eher bedrohlich, zumindest aber als fremd und befremdlich, wenn nicht gar als bedrohlich erlebt. Hilfreich wäre es, wenn sich diese Kirche als Minderheit zu verstehen beginnt und sich als „Sinnanbieter“ denjenigen anzubieten, die schon in der Postmoderne angekommen sind.

These 4: Umgekehrt gilt: Menschen, die in einer postmodernen Religiosität beheimatet sind, nehmen die dogmatischen Wahrheitsansprüche der „Religionen“ als Angebot, probieren deren „Frömmigkeit“, ihre Rituale und Praktiken aus, befürworten Vielfalt und Ambivalenzen in religiösen Fragen, sowohl bei anderen, als auch bei anderen und in ihnen selbst. Ihr Ziel ist es, nach Weggefährtinnen und Weggefährten zu suchen, die mit ihnen zusammen Sinnangebote ausprobieren, (zeitweise) annehmen und sie miteinander teilen. Es geht nicht mehr um das „Hineingehen“ oder um „Zugehörigkeit“ in „Gemeinden“. Gesucht und geschätzt werden Weggefährtinnen und Weggefährten, die dieses Ausprobieren – wir würden sagen – „üben“! Und genau hier liegt die Chance unserer Gemeinschaft! Es geht hier klar um „Neuevangelisierung“, nicht um „Mission“!

These 5: Das führt mich zur Schlussthese: Als Christen, verstanden als Menschen, die aus einer christlichen Spiritualität leben – Alltagstauglichkeit, Dialogbereitschaft, Ausrichtung auf das Humanum und Orientierung an Botschaft, Handeln und Leben Jesu – brauchen wir uns nicht zu verstecken. Im Gegenteil: je überzeugter wir – sei es als in der Moderne verhaftete Christen, sei es als in der Postmoderne angekommene Christen – als spirituelle Christenmenschen leben, um so größer wird die Bereitschaft zur Zustimmung. Sie gilt dann Jesus Christus und denen, die in dieser Spiritualität leben – und das Leben dieser Menschen wird dann auch eine Form lebendiger Kirche sein.

Ein Zusammenhang zwischen Religion, Frömmigkeit und Spiritualität – heute?

Für eine abschließende Einzelbesinnung oder ein Gespräch in der Gruppe mag die Frage genügen, wie es bei mir, bei uns in der Gruppe oder in der größeren Gemeinschaft um diesen spürbaren Zusammenhang zwischen Religion, Frömmigkeit und Spiritualität aussieht. Und um die Haltung der Freude an Menschen, die auf der Suche sind und „unsere“ Spiritualität als eine neben vielen sehen.

Harald Klein, Köln,
*1961, Priester und Sozialpädagoge
mit Schwerpunkt „Spiritualität für Soziale Arbeit“