09. Juni 32 n.Chr. – Es ist Wahltag
„… und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“
So beginnt das Evangelium am heutigen Sonntag, und das sich auf den Weg machen, das zusammenkommen kann an einem gegenwärtigen Sonntag der Europawahl vielleicht genauso oder ähnlich erlebt werden wie der Versuch, eher „etwas“ als „ihn“ mit Gewalt zurückholen zu wollen. Allemal damals wie heute ist es völlig selbstverständlich, dem Gegner bzw. der Gegnerin zu attestieren, dass er oder sie „von Sinnen“ sei. Zwar geht es heute augenscheinlich um die Europäische Union, um eine politische Gemeinschaft, die sich gemeinsam auf den Weg macht, wie auch bei Jesus und den Schriftgelehrten, wollen doch beide dem EINEN Gott dienen. Aber genau wie bei den beiden biblischen Parteiungen zielt viel, wenn nicht sogar alles mehr auf Spaltung, denn auf Einheit.
Und wenn es nicht so traurig wäre, wäre es schon zu Lachen, dass die Strategien des Vorgehens sich in 2000 Jahren nicht gehändert haben. Ich liste sie Dir mal kurz auf.
Erste Strategie: Der/Die jeweils andere ist „vom Bösen besessen“
Was zur Zeit Jesu ein „personales Besessen-Sein angeht“ („Er ist von Beélzebul besessen“), wird bei einer Europawahl heute eher als Leitidee gewertet, allerdings so, dass die dann einen „Brandmauer“-Charakter hat: dahinter geht keiner und geht nichts, an ihr ist Schluss! Da kann man schon mal von der Idee der „Schuldenbremse“, der „Leitkultur“ und – auch das stimmt – der „Nachhaltigkeit“ wie besessen sein. Die Aussage damals wie heute ist dann: Meine Idee ist alternativlos, und alle, die anders denken, reden, handeln, sind vom Bösen. Du hast die Wahl!
Der Kölner Journalist und Schriftsteller Jürgen Wiebicke würde zwar zunächst die Demokratie in Europa in den Blick und seine Erwiderung dagegenhalten; aber schau mal, ob Du diese Erwiderung nicht auch für die Situation Jesu und auch für die Situation in der Kirche gelten lassen kannst. Wiebicke schreibt: „In der Demokratie gibt es keine Situationen von Alternativlosigkeit. Sie ist existenziell auf das Grundvertrauen ihrer Bürger angewiesen, dass man die Probleme immer auch anders lösen kann. Man kann immer einen neuen Anfang machen. Diese Zuversicht ist die Bedingung jeden Engagements.“[1]
Ich spüre diese Zuversicht nicht oder nicht mehr, sei es in den Auseinandersetzungen, in denen Jesus steht, sei es im Wahlkampf der Europawahl, sei es in den Fragen der Verfassung und der Inhalte der Kirche. Du?
Zweite Strategie: Mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er Dämonen aus
Das vorangegangene Evangelium des letzten Sonntags zeigt, wie Jesus sich mit seinen Jüngern – um des zu stillenden Hungers willen – über das Gesetz stellt, Ähren abreißt (= ernten, am Sabbath verboten) und dann noch einen Mann mit einer „verdorrten Hand“ heilt (= arbeiten, am Sabbath verboten). Die Strategie der politischen Gegner ist hier, aufzuzeigen, dass nur der Geist, der Böses bewirkt, auch in der Lage, dieses Böse zurückzunehmen – bzw. das Böse und Verbotene als „doch eigentlich gut“ zu deuten. Die religiösen Führer aus der Zeit Jesu dämonisieren Jesus und sein Tun. Neben die angebliche Alternativlosigkeit der ersten Strategie kommt jetzt ein Gut-Böse-Dualismus, den zunächst einmal die religiösen Führer zur Zeit Jesu für sich und gegen Jesus aufgreifen.
Der kundige Wähler, die pfiffige Wählerin – sei es in der Europawahl, sei es in der Frage der Religion – wird dem nicht auf den Leim gehen. Wiebicke warnt: „Wir haben uns so lange Geschichten von vermeintlicher Alternativlosigkeit erzählen lassen, bis wir irgendwann angefangen haben, selbst daran zu glauben. Wer aber meint, nichts tun zu können, nimmt sich vom Spielfeld und überlässt es anderen.“[2]
Das entscheidende Wort ist das „so lange“. Ob es Dir auch so geht? Ich gewöhne mich an Sprachspiele, in der Politik wie in der Kirche, hinterfrage sie nicht mehr, glaube mich mit vielen Gefährtinnen und Gefährten auf dem richtigen, d.h. dem alternativlosen Weg. Und Politik wie gelebte Religion hat etwas von „Dinner for One“, nämlich annähernd ein „same procedure than evary year.“ Wie kann da Neues entstehen, das die Gegenwart stützt und hält – und nicht nur Ruinen der Vergangenheit verwaltet?
Die Gegenstrategie: Der Preis der Spaltung
Jetzt setzt im Evangelium die politische Klugheit Jesu ein, ich staune selbst! Und ohne Zitation geht das nicht. Jesus ruft die Schriftgelehrten zu sich, und allein das verdient schon Anerkennung, er lässt sie zu Wort kommen und stellt sie in der Diskussion. Er kennt kein Redeverbot der Gegner in seinen Veranstaltungen, er stilisiert sie nicht zu Opfern, sondern sucht die argumentative Auseinandersetzung. Vielleicht glaubt Jesus mehr an die Kraft des guten Arguments als an seine Wunderfähigkeiten, wer weiß? Allemal belehrt er sie in Gleichnissen, in Alltagssprache, jedem und jeder verständlich.
Von drei Spaltungen ist die Rede: „Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Und wenn der Satan sich gegen sich selbst erhebt, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen“ (Mk3,23-26). Jesus hält seinen Angehörigen und mehr noch den Schriftgelehrten ihre Tendenz und ihren Willen zur Spaltung entgegen, die dafür sorgt, dass weder die Familie noch die Religion „Bestand“ haben wir. In dieser Grundfrage stehen wir am heutigen Wahlsonntag absolut ähnlich: Geht es letztlich um „Bestand“, oder geht es um „Spaltung“?
Klar ist der Ernst der Stunde, man könnte von einem „Kairos für Europa“ sprechen. In den gegenwärtigen Zeiten ist es nicht getan, zur Urne zu gehen und sein Kreuz zu machen. Wiebicke drückt drastisch die Unterscheidung, eher die Trennung zwischen „den Politikern“ und Dir oder mir aus: „Politik schien nun allein Angelegenheit von ‚den‘ Politikern zu sein, über deren Unfähigkeit man sich am Freitagabend in der Heute-Show kaputtlachen darf.“[3] Oder auch: „Es wird im Alltag an Gelegenheiten, Haltung zu zeigen, nicht mangeln. Vielleicht hilft uns das, neu zu begreifen, was wir zwischenzeitlich fast vergessen hatten: dass es um die Verteidigung einer Lebensform geht, nicht bloß darum, wer uns wie regiert.“[4]
Verteidigung einer Lebensform: Wieder greift der Vergleich zwischen dem, was ein demokratisches Europa und dem, was Kirche ist, sein möchte und vor allem sein könnte. Und alles drei spielt sich zuallererst in Deinem Alltag ab!
Nicht umdekorieren, sondern das Haus neu bauen
Ein letztes: Es gibt unglaublich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Verständnis dessen, was eine „Revolution“ und dem, was eine „Evolution“ ist. „Revolution“ wirst Du leicht in Zusammenhang bringen können mit radikaler Veränderung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, vielleicht auch mit gewaltsamem Umsturz , allemal aber so, dass bisher Gültiges, Bestehendes sich grundlegend erneuert oder wandelt. „Evolution“ hingegen kennt dieses gewaltsame Moment nicht, in der Biologie ist es eine allmähliche Veränderung, die man Stufe für Stufe nachvollziehen kann. Das lateinische Wort „evolvere“ meint „herausrollen“, „auswickeln“, letztlich auch „entwickeln“.
Mein Gefühl sagt mir, dass mit der politisch ausgerufenen „Zeitenwende“ es nicht die Revolution ist, die letztlich weiterführt, sondern die Evolution. Es geht nicht, dass alles bleibt, wie es war oder – zur Not mit Gewalt – auf diesen früheren Zustand zurückgeführt wird. Es genügt nicht, statt des „Hauses Europa“ ein „Museum Europa“ haben oder vorzeigen zu wollen, oder das eine und andere an den Wänden dieses Hauses umzudekorieren. Es geht darum, mit und in den neuen Verhältnissen, die diese „Zeitenwende“ mit sich bringt, neu zu bauen. Nicht einfach „abzureißen“, sondern klug zu schauen, was in stürmischer Zeit nötig und Unheil verhindern aufgestellt werden muss, aber auch zu genießen, was in den vergangenen Jahren diesem Haus zugewachsen ist. Derselbe Prozess liegt Jesus am Herzen, derselbe Prozess geschieht gerade – und geschah immer wieder – in der Kirche. Noch einmal Wiebicke: „Wir müssen aufhören, diese Gesellschaft wie ein Haus zu betrachten, das längst fertig gebaut ist und in dem nur hin und wieder ein paar Möbelstücke gerückt werden. Ein Haus, in dem drinnen gezittert wird, ob wohl alles so bleiben kann, wie es ist, weil von draußen die Kanonenschläge näher rücken. Demokratie ist immer unfertig, man kann und muss weiter an ihr bauen.“[5]
Im Haus zusammenkommen
Die Wählenden und die Gewählten, die Menschen aus den verschiedenen Regionen Europas, die Generationen, die es politisch, gesellschaftlich, kirchlich nicht leicht haben miteinander haben: sie alle sind gut beraten, wenn sie aufhören, Gesellschaft oder Kirche wie ein Haus zu betrachten, das längst fertig gebaut ist. Das gilt immer für beide Seiten oder Parteien!
Um Bestand zu haben – um das Wort Jesu aufzunehmen – muss man weiter bauen. Nicht „revolutionär“, aber evolutionär, nach vorn gerichtet. Keiner muss alles machen, und so gebe ich Dir – jetzt mit Zuversicht! – Jürgen Wiebickes „Ermutigung“ weiter: „Nur der Blick auf die eigenen Talente gibt die passende Antwort auf die Frage, wo der richtige Platz zu finden ist.“[6] Such Dir Deinen Platz, in Europa, in der Gesellschaft und der Politik, in der Kirche, und nimm ihn Deinem Talent gemäß ein. So geht „Hausbau“ – hier wie dort und da!
Amen.
Köln, 06.06.2024
Harald Klein
[1] Wiebicke, Jürgen (2017): Zehn Regeln für Demokratie-Retter, Köln, 75.
[2] a.a.O., 13f.
[3] a.a.O., 113.
[4] a.a.O., 111f.
[5] a.a.O., 12f.
[6] a.a.O., 111.