Prüfsteine des Glaubens

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Heute tugendhaft leben?

Im Deutschen klingt der Begriff der „Tugend“ ein wenig verstaubt. Er erinnert an die edlen Menschen des Wilden Westens oder des Orients bei Karl May, oder an die oft verschrobenen Liebesgeschichten einer Hedwig Courths-Mahler. Schade eigentlich, denn der Begriff umschreibt so etwas wie die Kraft und die Fähigkeit, das Gute zu tun. Ohne Tugendhaftigkeit kann wenig Gutes erwachsen, und umgekehrt: wer Gutes tut, trainiert seine Tugenden. Für Aristoteles sind die Tugenden die Wege zur Glückseligkeit. Der oder die taugt etwas, der oder die Tugend hat, die Worte hängen zusammen.

Im Mittelalter bildet sich die Lehre von den vier Kardinaltugenden heraus: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß. Später kommen noch die drei göttlichen Tugenden dazu: Glaube Hoffnung und Liebe. Und je mehr sich eine Gesellschaft entwickelte, „differenzierte“ würde der Soziologe sagen, umso mehr andere Tugendkataloge gab es: da sind die Rittertugenden zu nennen: Ehre, Treue, Mut, Wahrhaftigkeit, Gastfreundschaft, Selbständigkeit, Disziplin, Fleiß, Ausdauer. Dann später die bürgerlichen Tugenden: Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit und Pünktlichkeit. Die Psychologie kennt die sozialen Tugenden: Hingabe, Dankbarkeit, Staunen, Vergebung, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Und natürlich die preußischen Tugenden, die dann als die deutschen Tugenden bekannt wurden: Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit, und einiges mehr.

Für heute mag die These genügen, dass man an den Tugenden, die hinter einem Tun liegen und dieses Tun motivieren, sich ablesen lässt, ob jemand etwas taugt oder nicht, und zwar als Christ. Und ich möchte auf die zweite Lesung zurückgreifen, auf die Eröffnung des ersten Briefes des Paulus an die Christen in Thessalonich. Er schreibt: „Unablässig erinnern wir uns vor Gott, unserem Vater an das Werk eures Glaubens, an die Opferbereitschaft eurer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Jesus Christus, unseren Herrn.“ Mir scheint, dass er hier seine Tugend-Trias von Glaube-Hoffnung-Liebe aufgreift und so etwas wie Prüfsteine des Glaubens beschreibt, und zwar so, dass das „euch“ jeden einzelnen meinen kann, aber auch die Gemeinde als Ganzes. Und ich möchte es in unsere Gegenwart übersetzen.

Ein erster Prüfstein: das „Werk eures Glaubens“

Mir fällt der Singular auf: „das Werk eures Glaubens“. Es geht nicht um das Viele, das eine jede, ein jeder von uns oder die Gemeinde als Ganze vorzuweisen hat, es geht auch nicht um die Summe der Glaubenswerke der einzelnen! Das „Werk des Glaubens“ ist das, was entstanden ist und im Entstehen begriffen ist, sich noch entwickeln will aus einer Haltung heraus, die im Hintergrund wirkt. Ein Glaubender und ein Nichtglaubender können dasselbe tun, sogar mit den gleichen Wirkungen – es ist lange nicht gesagt, dass das Handeln des Glaubenden irgendwie besser ist! Die Haltung dahinter unterscheidet. Wenn Paulus uns, Ihnen schreiben würde – könnte er erkennen, was Ihr ganz persönliches Werk des Glaubens ist, was da aus Glauben Ihnen erwachsen ist? Oder uns als Gemeinde?

Ein zweiter Prüfstein: die „Opferbereitschaft eurer Liebe“

Hier fällt mir auf, dass Paulus Liebe nicht mit Erfüllung, nicht mit dem Größten, wie er es in 1 Kor 13 beschreibt, verbindet, sondern mit Opfer und Opferbereitschaft. Warum macht er das? Prüfstein der Tugend eines Menschen, der Christus nachfolgt, ist vielleicht nicht, was er aus Liebe tut, sondern was er aus Liebe unterlässt. Ich denke an das unglaubliche Angebot der „Gelegenheiten zu…“ – und dem entschiedenen „Nein“, nicht aus Rigorismus oder Angst heraus, sondern um des Wissens willen, dass ein Ja dazu nicht „taugt“. Es sind weniger die vielen „Ja’s“ in unserem Leben, als vielmehr die klaren „Nein’s“, die uns als Persönlichkeit wachsen lassen und als tugendhafte Menschen auszeichnen.

Ein dritter Prüfstein: die „Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Jesus Christus, unsern Herrn“

Hier ist es eine Kleinigkeit, die mir auffällt: Paulus hängt an „Jesus Christus“, noch „unsern Herrn“ an, auf den wir in Standhaftigkeit hoffen sollen. Unser Hoffen zielt nicht nur auf Christus hin, ich darf auf eine gute Freundschaft mit diesem oder jener hoffen, auf einen guten Urlaub, auf ein gutes neues Buch, das erschienen ist – aber oben steht Jesus Christus als mein und unser Herr. In den entscheidenden Dingen, in dem, was entscheidend ist für unser Leben als Christ, geht die Hoffnung zuerst auf ihn! Dieses Hoffen kann zu der Haltung führen, was ich für uns Christen als Wesenszug ansehe, zu einer engagierten Gelassenheit. Christus suchen in dem, was begegnet und in denen, die begegnen. Christus suchen als den, der in mir wohnt. Christus suchen als den, der mich in vielen gesellschaftlichen und kirchlichen Gegebenheiten ruft – und in engagierter Gelassenheit, meinem Stand entsprechend, antworten.

Paulus erinnert sich selbst, aber auch die Empfänger seines Briefes an diese drei Prüfsteine der Tugend für Christen. Niemand, sagt ein Grundsatz der scholastischen Gnadenlehre, werde über seine eigene Kraft hinaus gefordert, versucht oder gerufen. Die Grenze ist von allen zu akzeptieren. Aber an die Grenze können wir uns wagen, an die Grenze des Werkes unseres Glaubens, der Opferbereitschaft unserer Liebe und der Standhaftigkeit unserer Hoffnung auf Jesus Christus, unsern Herrn.

Amen.

Harald Klein, Köln