Rezension zu: Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München

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Geschichten… – und mehr als „nur“ Geschichten

Schön, dass der Autor so ehrlich ist! Bastian Bergner ist Redakteur der Hamburger Wochenzeitung ZEIT und legt in diesem Band das Ergebnis einer Reihe von Interviews vor, die er über einen längeren Zeitraum geführt hat. Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner waren verschiedenste Menschen aus verschiedensten Schichten in verschiedensten Orten. Vier davon seien pars pro toto vorgestellt:

Da sind Harald und Christa Hermes aus Hamburg, beide im Ruhestand – gibt seinen Einsatz gegen die „Ausländer in Deutschland“ und besonders in seiner Wohnsiedlung nicht auf, verändert aber seine Haltung diesen Mitbürgern gegenüber durch den Kontakt, durch die Begegnung mit einer serbischen Familie und deren Kindern, die über ihnen einziehen.

» Vielleicht war es kein Glück, dass sich die RICHTIGEN Menschen trafen, sondern dass sich die richtigen Menschen TRAFEN. Vielleicht sind es nicht die Menschen, die diese Geschichten besonders machen, vielleicht sind es die Situationen.«
Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 26.

Da ist Sven Krüger, vom Autor als Neonazi beschrieben, der zehn Jahre im Gefängnis war und Mitglied der NPD ist. Er trifft einen „Kanaken“ beim Freigang im Gefängnis, einen Palästinenser. Das Bankdrücken im Sportraum gelingt nur zu zweit – einer schützt den anderen von Unfällen, sie kommen sich trotz aller Ressentiments näher, die Bank mit den Gewichten zählt mehr als die Vorurteile. Das Wort „Hilfestellung“ bekommt hier eine neue Färbung.

Und noch einmal Sven Krüger und sein Weg durch die afrikanische Wüste, in einer sehr gemischten Gruppe. Zusammenfassend schreibt Berbner: „Ein Punker verprügelt Nazis. Ein Neonazi hasst Muslime, verachtet Linke und hält Schwarze für minderwertig, und dennoch freundet er sich mit einem Palästinenser an, trägt einem Linken den Rucksack durch die Wüste und geht mit einem Himba angeln. Wie kann das sein? Als ich Sven Krüger diese Frage stelle, sagt er: ‚Das Problem ist, wenn du sie wirklich kennenlernst, kannst du sie nicht mehr hassen.‘“[1]

Da ist der dänische Polizist Thorleif Link, der in Århus die aus Syrien vom „Heiligen Krieg“ zurückgekehrten jungen Männer, die wieder eingegliedert werden wollten, zum Gespräch bat  – und von denen Link nicht wusste, ob sie es ernst meinen. Mit der Angst, sie könnten als Terroristen zurückgekehrt sein, entschließt sich Leif, den jungen Männern mit aller Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen -was zu einer Verunsicherung auf der anderen Seite führte; es sei, als wolle mich jemand umarmen, schildert einer der jungen Männer. „Wie ein Lächeln zur Waffe wird“, überschreibt Berbner dieses Kapitel.

Das Buch ist von Beginn an bis zum Ende voll von Geschichten dieser Art; nicht nur das: Sie können diese Geschichten als Podcast des NDR-Info unter „Geschichten gegen den Hass“ auch anhören. Und dann wird aus den Geschichten schon beinahe Politik. Berbner gibt „Lesehilfen“, worauf die lesenden – jetzt: die Hörenden – achten sollen. Dass aus dem, was dem einzelnen passiert ist, eine Theorie für eine ganze Gesellschaft werden kann, dass aus dem Handeln einzelnen gegenüber ein Handeln auf Gruppen und Gruppierungen hin werden kann, das sich gegen den Hass wendet und ein probates Mittel gegen den Hass ist – all das wird deutlich.

» Der Mechanismus wirkt in beide Richtungen, aus Distanz folgen Vorurteile und aus Vorurteilen folgt Distanz. Diese Eskalationsspirale hat die USA zu einer Angst- und Hass-Gesellschaft werden lassen. «
Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 40.

Die „Kontakthypothese“

Der Boden, auf dem diese Geschichten sich abspielen, ist die schon 1954 vom amerikanischen Sozialpsychologen Gordon Allport beschriebene „Kontakthypothese“. Berbners Gesprächspartner Sven Krüger hat sie bereits gut zusammengefasst: „Das Problem ist, wenn du sie wirklich kennenlernst, kannst du sie nicht mehr hassen“ (vgl. Anm. 1).

Erster Einwand: Völlig klar ist, dass nicht jeder Kontakt – sowohl zwischen Fremden als auch zwischen Bekannten – zu diesem Ziel „nicht mehr hassen können“ führt. In Jean Paul Sartres Drama „Geschlossene Gesellschaft“ von 1944 wird schnell klar: „Die Hölle, das sind die anderen!“

Zweiter Einwand: Es braucht ein bestimmtes Setting, einen näher zu bestimmenden „Boden“, auf dem Kontakt Toleranz fördert, auf dem sich Gefühle füreinander entwickeln können, auf dem sich Wissenslücken schließen lassen und auf dem der Kontakt so positiv besetzt ist, dass Vorurteile abgebaut werden können.[2]

Bereits Allport kannte vier Begleitumstände, die hilfreich und vielversprechend sind, damit Vorurteile abgebaut werden können und somit dem Hass aufeinander die Kraft genommen wird. Es braucht zwischen den Menschen oder Gruppen ein gemeinsames Ziel (vgl. das Bankdrücken bei Sven Kröger); es braucht Augenhöhe (vgl. Fam. Hermes, die den serbischen Nachbarn als „Nachbarn“ begegnet); die Kontakte werden von Institutionen gestützt (vgl. das Vorgehen des Polizisten Thorleif Link mit der Gruppe der Rückkehrer); der Kontakt soll zwischen Personen mit ähnlichem Standstattfinden (vgl. die Frage nach Kaffee oder Tee und das Lächeln, dass den Polizisten erst einmal zum Hörer der Geschichte der Heimkehrer machte).

» Was nun? Zunächst machen die Geschichten in diesem Buch eines deutlich: Wenn man Menschen dazu bringen will, ihre Meinungen zu ändern, wenn man zum Beispiel will, dass sie ihren Rassismus, ihre Homophobie, ihren Islamismus, ihren Anarchismus ablegen, dann hilft es nicht, ihnen zu SAGEN, dass sie falschliegen, egal wie oft oder wie laut, man muss es ihnen ZEIGEN.«
Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 193.

Katalog, nicht Kochbuch

Zu meinen, Berbner würde „nur“ einige Begegnungen schildern, würde zu kurz greifen. Das Buch kein Kochbuch, das Rezepte weitergeben möchte, wie Kontakt gelingt und über Kontakt Vorurteile abgebaut werden können. Das kann man „unthematisch“ mitlesen. Vielmehr ist das Buch eine Art Katalog, der auf diesem Boden der Kontakthypothese ein Vielerlei aufbaut. Da wird die Rolle der Medien und ihre Weise der Berichterstattung hinterfragt; da ist die Rede von Demokratien, in denen das Los die Regierenden bestellt; da ist die Rede von der Wahl des Wohnsitzes, von der Segregation, d.h. der Vielfalt oder der „Einfalt“ von Bevölkerungsgruppen und Altersschichten in einem Viertel, der es den Kontakten schwer und den Vorurteilen leicht machen kann.

In diesem Katalog zu blättern, in den “Audioguide“ des Podcasts hineinzuhören macht deutlich, was ganz oben genannt ist: es geht Bastian Berbner offensichtlich um „Geschichten“, die gelesen, weitererzählt und dann auch gelebt werden. Dass aus den Geschichten „Geschichte“ geschrieben, gelebt und erlebt werden könne, das strahlt im Hintergrund auf. Dieses ermutigende Buch braucht immer wieder Erzählende und – mehr noch – Menschen, die das das Erzählte leben, denn nur so ist erklärbar und verstehbar, dass eine sozialpsychologische Theorie, die „Kontakthypothese“, sich nicht von alleine durchsetzt, sondern immer wieder neu begonnen werden muss. Berbner beendet seine 180o-Wende, seine Geschichten gegen den Hass mit den Worten:

„Wer die meisten Menschen überzeugt, wer die beste Geschichte erzählt, gewinnt. Das ist ermutigend, weil es eine Illusion entlarvt, die manche in den vergangenen Jahren hatten, auch ich. Dass man nämlich zum Zuschauen verdammt ist, während der Strom der Geschichte unaufhaltsam an unserer Welt schleift, an den westlichen Demokratien mit ihren Freiheiten und Werten. Keine Gesellschaft, keine Regierung ist machtlos. Sie muss nur eine überzeugende Geschichte finden, die sie erzählen kann. Und einen Weg, um sie zu verbreiten.“[3]

Köln, 08.05.2023
Harald Klein

[1] Berbner, Bastian (2021): 180o – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 21.

[2] Vgl. für das Folgende [online] https://gierschmagazin.de/2022/03/10/was-ist-eigentlich-die-kontakthypothese/ [08.05.2023]

[3] Berbner, Bastian (2021): 180o – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 193.