Zurück auf Los gehen
Ich weiß nicht, ob ich die beiden Worte „Annehmen“ und „Loslassen“ im Titel als Indikative oder als Optionen lesen soll, zusammen mit „innerer Balance“ und „erfülltem Leben“ klingt der Titel des Buches für mich verlockend. Und auch nach dessen Lektüre habe ich es nicht heraus, ob es ein „Unfall“, ein „Zufall“ oder ein bewusster Wille war, dass die Seiten des Buches in der Reihenfolge rückwärts laufen; man beginnt mit dem Inhalt vorn auf Seite 195, das Buch endet inhaltlich dann auf Seite 7. Ich vermute eine schelmische Absicht des Autors dahinter, schließlich wird man durch ihn zu einer Art ständigem Neunanfang geführt.
Den Kerngedanken des Autors kann ich so wiedergeben: In jedem Moment gilt es, die Balance zwischen dem Sein, der Schöpfung und dem Ich neu herzustellen, jeder Moment ist so ein neuer Anfang, eine neue erste Seite. Dem harmonischen Ich gelingt dies mit den Werkzeugen des Annehmens und des Loslassens. Es wird genährt durch die Haltung, die Gabe und die Fähigkeit der bedingungslosen Liebe. Das zu stark ausgeprägte Ich steht dem harmonischen Ich dabei im Wege, steht im gegenüber und versucht mit seinen Mitteln – Selbstbild, Verhaltensmuster, Zweifel, Machtspiele – eine Illusion von Balance herzustellen, die der bedingungslosen Liebe nicht entsprechen.
Das harmonische und das zu stark ausgeprägte Ich
Der Reihe nach. Im ersten Kapitel („Moment“) stellt Pirmin Loetscher die Rolle des „Momentes“ vor. Von vornherein ist deutlich, dass es ihm nicht um Loslassen z.B. dieser Haltung oder jenes Planes oder um Annehmen von diesem und jenem geht. Er liefert absolut kein Methodenbuch des Loslassens oder des Annehmens. Das erste Kapitel erinnert stattdessen an die vielen Bücher zum Thema „Achtsamkeit“, wenngleich Annehmen und Loslassen Methoden und Wege sind, zu einer Balance zwischen dem Sein und dem (harmonischen) Ich führen können. Es geht um das Wahrnehmen, das Annehmen und das Loslassen dessen, was ist, jetzt, im Moment (Zeit) und in dem Radius (Ort), den er im letzten Kapitel „Deine Erde“ nennen wird: den – zugegeben nur kleinen – Raum, in dem ich mich bewege, den ich übersehe und den ich eben „momentan“, von Moment zu Moment wahrnehmen kann.
Wer nimmt wahr? Entweder das „harmonische Ich“, das durch Annehmen und Loslassen in Balance in Harmonie mit dem Sein steht, oder das „zu stark ausgeprägte Ich“, das mit dem Sein in einer Unausgeglichenheit steht und das versucht, mittels seines Verstandes die Illusion einer nicht realen Persönlichkeit zu entwickeln, die dann entweder ängstlich oder machtvoll nach Balance sucht. All das geschieht im „Moment“ und wirkt über den Moment hinaus. Es fällt nicht schwer, sich die Äußerungsformen eines harmonischen Ichs bzw. eines zu stark ausgeprägten Ichs vorzustellen, sowohl was ihr Selbstbild als auch was ihre Wirkung auf das miteinander angeht. Von daher vielleicht doch ein „indirektes Methodenbuch“?!
Wahrnehmung im Moment – Suche nach Balance
Das zweite Kapitel macht deutlich, ob und auf welche Weise Annehmen und Loslassen an verschiedenen Phänomenen vom harmonischen Ich bzw. vom zu stark ausgeprägten Ich wahrgenommen werden. So werden u.a. das Annehmen bzw. das Loslassen des eigenen Körpers und der äußeren Erscheinung, der Persönlichkeit samt der Rolle des Berufes, des falschen Selbstbilds und der Verhaltensmuster, des Zweifels und der Angst und sogar des Todes auf Annehmen und Loslassen hin angesprochen. Dies geschieht in anschaulicher Weise, es macht Freude, den manchmal spitzfindigen Gedankengängen Loetschers zu folgen. Tiefe Themen, die dennoch mit einem Lächeln gelesen werden können. Mich beeindruckt besonders das Kapitel, in dem Loetscher die Energie- und Zeitverschwendung des zu stark ausgeprägten Ichs beschreibt, sich seine Balance durch – ehrlich gesagt – unsinnige Aktivitäten zu erarbeiten. Dramen und ganze Serien im TV leben davon! Und wenn ich ehrlich bin – ich kenne da genug Dramen und ganze Serien aus meinem eigenen Leben und Erleben. Aber wie gesagt: … mit einem Lächeln!
Im ersten Kapitel wurden Grundbegriffe definiert, im zweiten Kapitel die Möglichkeiten beschrieben sind, wie die beiden Ichs mit eigenen Weisen versuchen, zu einer Balance im Leben zu gelangen. Mich erinnert dieses Kapitel sehr an den Begriff der Homöostase, des Gleichgewichts in der Systemischen Beratung. Jetzt geht es im dritten Kapitel um den Hintergrund, um die Folie, auf der dieses Zusammenspiel von Schöpfung, Sein und Ich spielt, um die Haltung und das Angebot der bedingungslosen Liebe.
Leben in und leben aus der bedingungslosen Liebe
Loetscher spricht von Schöpfung nicht im theologischen Sinne. Es geht ihm um das Annehmen dessen, was das Sein, das Leben anbietet und dass das Ich gestaltet. Bedingungslose Liebe ist sicher eher eine Haltung des harmonischen Ichs, und sie findet grundlegend in der bedingungslosen Selbstliebe statt, dann in der bedingungslosen Nächstenliebe, partnerschaftlichen Liebe, familiären Liebe und bedingungslosen Objekt- und Ideenliebe. Das Ich schafft in der Annahme und der Gestaltung dessen, was das Sein ihm (an-) bietet, eine Balance durch Annahme und Loslassen. Auch das stark ausgeprägte Ich ist zu einer Art der bedingungslosen Liebe fähig, und zwar genau solange, wie das Gegenüber der Liebe – sei es das Selbstbild, sei es Nächsten-, partnerschaftliche, familiäre oder Objekt- und Ideenliebe – in der Lage ist, eine Balance zwischen dem Ich und der Illusion, die es von sich selbst hat, herzustellen.
„… und das Antlitz der Erde/Deiner Erde wird neu“
Mit einem knappen Kapitel, einer Art „Abschlusspredigt“ endet das Buch mit dem Kapitel „Deine Erde“. Loetscher macht hier noch einmal auf die Welt aufmerksam, die in der Wahrnehmung und der direkten Gestaltung des Einzelnen liegt. Sie ist immer im Moment, von Moment zu Moment gegenwärtig. Wenn der Buchtitel einen Zusammenhang ahnen lässt, mittels Annehmens und Loslassens zu einer inneren Balance und darüber zu einem erfüllten Leben zu kommen, so konnte mich Pirmin Loetscher durch seinen Gedankengang davon überzeugen, dass genau das gelingen kann. Er hat mir Lust gemacht, diesen Zusammenhang im Moment zu suchen und mich auf ihn einzulassen. Loetscher spricht nicht-theologisch von „Schöpfung“, für mich ist die nicht-theologische Quintessenz seines Buches dem Pfingsthymnus entnommen: „… und das Antlitz meiner Erde wird neu.“
Wie gesagt: Es ist kein Methodenbuch im Sinne von „In sechzig Tagen alles Hinderliche loslassen“ o.ä. Es geht um Balance im Moment, und darum, diese Balance immer wieder neu zu suchen, durch Annehmen, was ist und dem harmonischen Ich entspricht, und durch Loslassen, was lediglich das stark ausgeprägte ich nährt. Gut, dass ich im Buch bei Seite 1 angekommen bin, der Weg rückwärts, der Weg „Zurück auf Los“ hat gelohnt.
Köln, 09.12.2021
Harald Klein