Wenn man aus der Ordnung der Gesellschaft fällt…
Gerade mal etwas älter als vierzig Jahre ist der in Bonn geborene Schriftsteller Thomas Melle, als seine niedergeschriebene Auseinandersetzung mit seiner Krankheit in fünfter Auflage von Rowohlt angeboten wird.
Er ist erkrankt an einer Bipolaren Störung des Typus 1, das war 1999, als Dreiundzwanzigjähriger. Der einem kurzen Prolog folgende erste Teil des Buches, betitelt mit !999“, nimmt die Lesenden mit auf den Weg einer Annäherung an diese Krankheit, mach sie zu Zeugen vor allem der ersten manischen Phasen, die Melle erleidet. Die Bezeichnung „Bipolare Störung“ besagt, dass die psychische Erkrankung, die lange unter der Bezeichnung „manisch-depressiv“ firmierte, in mehreren Formen vorkommt. Es geht aber um mehr als um die beiden Pole „Manie“ und „Depression“. Melle erklärt den Lesenden diese Vielfalt mit eigenen Worten:
„Die psychische Erkrankung, an der ich leide, ist also die manisch-depressive.In klinischen Kreisen und zunehmend auch im Alltagsbereich ist sie als bipolare affektive Störung bekannt. Diese etwas waschige und – nicht nur für meine Begriffe – verniedlichende (für andere aber wiederum weniger stigmatisierende) Neubezeichnung wurde eingeführt, um die verschiedenen Formen der Störung besser abbilden zu können: Bipolar I, Bipolar II, Zyklothymia, Rapid Cycling, gemischte Formen. Bipolar I ist die klassische Manie mit anschließender Depression, und zumeist ist sie rezidiveren, das heißt, der Patient erkrankt mehrmals im Leben daran. An Bipolar II Erkrankte haben oft erst eine Depression, dann eine Hypotonie, dann wieder eine Depression. Eine Hypotonie ist hierbei eine leichte, abgeschwächte Form der Manie, das heißt: Der Erkrankte fühlt sich ungewöhnlich stark, alert, fröhlich und produktiv, ist früh wach und besonders gut drauf, ohne irgendeinen folgenschweren Scheiß zu bauen, wie es bei kompletten Manien der Fall ist. (Würde es die Depressionen nicht geben, würde man Hypotonien kaum als Problem ansehen.) Zyklothyme haben die Symptome von Bipolar II, aber noch einmal abgeschwächt, dafür in höherer Frequenz. Bei Rapid-Cycling -Patienten ist die Frequenz noch höher und geht bis zu vier Episoden im Jahr, die Ausschläge nach oben und unten sind dennoch heftig. Bei gemischten Formen treten die Symptome der Manie und der Depression gleichzeitig oder in kurzen Abständen auf.“
Gibt es ein Zurück in die Gesellschaft?
Von drei Schüben dieser Krankheit, die ihn 1999, 2006 und 2010 überkamen, erzählt Melle. Ein anhaltender Gefühlsüberschuss nach oben („Manie“) oder nach unten („Depression“) markiert den Beginn Melles an das wiederholte Ausgeliefertsein an eine Krankheit, an den Kampf mit ihr, der final nicht gewonnen werden kann – höchstens durch den Tod, der auch ein Freitod sein kann. Eine Bipolare Störung kann im Laufe des Lebens immer wieder ausbrechen. Bei Melle überwiegen dabei die manischen Phasen.
David Hugendick greift in seiner Besprechung des Buches auf Zeit online die „Begegnungen“ auf, die Melle in diesen manischen Phasen hatte; da sieht er Michel Foucault in einem Wirtshaus oder Thomas Bernhard in McDonalds am Wuppertaler Bahnhof. Alle Plakate, Musik, die gespielt wird, Begegnungen sind eine Art geheimer Zeichen, die ausschließlich ihm, Melle, gelten – geheime Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. Man könnte meinen, die Bipolare Störung sei die Schwester von Verschwörungstheorien – die man allerdings mit keinem anderen Menschen teilen kann.
Melle schildert im zweiten („2006“) und im dritten („2010“) Teil vor allem die Auswirkungen der Krankheit auf sein soziales und berufliches Umfeld. Besseres von Bedeutung sind der Bruch mit Freundinnen und Freunden, aber auch die Schilderungen über den Aufenthalt in den Psychiatrien. Es wird anschaulich, dass und wie sein Leben zerbricht – und das nicht nur einmal – und er die Frage nach dem Freitod für sich erörtert. Er kann nur hoffen kann, dass er nicht das Leben vieler anderer um sich herum mit in den Abgrund zieht. Sein Fazit nach dem ersten Schub: „Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder weniger durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu ungebundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft.“
Was hat werden können…
Im abschließenden Teil („2016“) geht es um die Gegenwart. Was heißt das für Melles Gegenwart, was heißt es für für die Gegenwart derer, die an dieser Bipolaren Störung erkrankt sind),
- wenn die Vergangenheit als von der Krankheit „zerschossen“ angesehen wird,
- wenn von daher in noch stärkerem Maße die Zukunft bedroht ist,
- und zwar sowohl die eigene Zukunft
- als auch die Zukunft deren, mit denen Sie leben – wenn Sie mit anderen noch leben?
Neben dem erwähnten Artikel auf Zeit-Online hat der Deutschlandfunk einen Artikel zu Thomas Melles Buch im Archiv, der Einblick das Leben der an Bipolaren Störungen Erkrankten vermittelt – und der zeigt, auf welche Weise diese Störung das Leben bedrohen kann. Schätzungen gehen von 1-3% erkrankten Menschen in Deutschland aus.
Thomas Melle und sein Erleben, seine Schilderungen zeigen, wie es psychisch und sozial um diese Erkrankten stehen kann, er beschreibt Verzweiflung und Scham, und er benennt Hilfen und Hilfestellungen, die ihm – pars pro toto – gut getan haben.
Sein Fazit nach dem dritten Schub – findet sich in den Schlussworten des Buches: „Die Welt im Rücken, werde ich nicht aufgeben. Die Hoffnung heißt: nie wieder manisch werden. Aber es mag mich noch einmal umhauen und hinaustragen, dann als quallig knochenloses Etwas heranspülen. Ich werde mir die Knochen schon wieder erarbeiten. Sollte ich eine weitere Manie haben, möge mir jemand dieses Buch in die Handrücken. Sollte ich wieder dem Wahnverfallen, werde ich es als Schicksal hinnehmen. Ich meinte schon nach der zweiten Manie, eine dritte würde ich nicht überleben. Habe ich aber. Würde ich wieder. Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein.“
Zitate aus dem Buch sind auf der Seite „verw:ortet“ als Beitrag für Juli 2023 aufgelistet.
Köln, 19.06.2023
Harald Klein