Ein gewagter Ritt
Als ich die gut 250 Seiten dieser „Philosophischen Herausforderung“ zu Ende gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, auf einem feurigen Ross einen gewaltigen Ritt durch die Philosophiegeschichte hinter mir zu haben. Wer Safranskis Werke kennt, weiß, dass er es wunderbar versteht, sowohl philosophisch anspruchsvolles Wissen – z.B. in seiner 500seitigen Darstellung Martin Heideggers und seiner Zeit[1] – als auch komplexe Stoffe – z.B. in seiner 700seitigen Biografie von J.W. Goethe[2] – in angenehmer Weise wirklich leicht verständlich zu vermitteln, ohne dabei auf wissenschaftliche Redlichkeit zu verzichten. Und umgekehrt stellt er Fragen nach – nur auf den ersten Blick – Selbstverständlichem in einen philosophisch suchenden Hintergrund hinein, so z.B. die Frage nach dem Wesen der Zeit[3] und jetzt eben die Frage nach dem Einzeln sein[4], so, dass dem Lesenden die eigene Antwort abverlangt wird.
Wie gesagt: was Safranski im Untertitel „Eine philosophische Herausforderung“ nennt, stellt sich mir eben als ein Ritt auf einem feurigen Ross durch die Philosophiegeschichte dar. Der vorgelegte Text könnte dem Reitenden den Atem nehmen, baute nicht der Autor so etwas wie Boxenstopps ein. Aber der Reihe nach.
Gleich in der Vorbemerkung weist Safranski auf die Spannung hin, in der der/die Einzelne steht. Noch ist völlig offen, was sich hinter dem Phänomen des/der „Einzelnen“ sich verbirgt. In der aristotelischen Tugendlehre ist die Tugend in der Mitte zwischen zwei extremen angesiedelt. Der/die Einzelne wird um diesen Ort ringen müssen zwischen Selbstverwirklichung und Selbstüberwindung bzw. Selbstaufgabe. Einzeln sein bedeute, so Safranski, aus der Tatsache, dass jeder einzeln sei, eine Aufgabe zu machen, für das Leben und für das Denken. Dafür gibt die Philosophie Anstöße. Und damit ist dem Ross der Sattel aufgelegt. Der Ritt kann beginnen.
Renaissance, Luther, Montaigne
Nach jedem dritten Kapitel, nach jeder dritten Etappe des Rittes durch die Philosophiegeschichte legt Safranski eine Pause, einen Boxenstopp ein, „Zwischenbetrachtung“ nennt er es. Hier fasst er zusammen, vergleicht, hebt hervor, was in den vergangenen drei Kapitel über das Phänomen des „Einzeln sein“ gesagt wurde. Als Einstieg wählt er die Renaissance und den neu erwachten Sinn für den/die Einzelne/n, die Zeit des 15. Und des frühen 16. Jahrhunderts, was sich in der Kunst – z.B. im Beginn der Portraitmalerei und im Signieren der Bilder –, aber auch ökonomisch in der Rolle der Geldwirtschaft und anderer gesellschaftlicher Prozesse zeigt. Arbeiter werden durch ihr Können plötzlich frei (entlohnt) und können dem Zunftzwang entfliehen.
Safranski fährt fort mit dem Blick auf Martin Luther (1483-1546) und den Einzelnen vor Gott. Mitten in der althergebrachten Form der christlichen Stammesreligion wird durch die Reformation der Glaubensvollzug jetzt radikal individualisiert und existenziell verinnerlicht. Das ganze System der Werke, der Sakramente, der Priester und der sonstigen heiligen Mittler wird zerstört.
Safranski schließt an diese Folge der Luther’schen Reformation sein Nachdenken über Michel de Montaigne (1533-1592), über das Schaukeln der Dinge und über die Zuflucht im eigenen Selbst an. Die Rolle des erstarkenden Nominalismus gegenüber der Richtung des Universalismus wird deutlich. Das Nachdenken über den Allgemeinbegriff „der Mensch“ – universalistisch verstanden – tritt zurück hinter „den/die Einzelne“. Allgemeinbegriffe sind Namen, die die Sache lediglich bezeichnen, ohne sie wirklich zu enthalten. Es geht Montaigne in seinen Essays, in seinen Schriften um den und die Einzelne, um ihr „Schaukeln“ zwischen der einen und der anderen Seite, es geht um deren „Selbst“, um Selbstfindung, Selbstbewahrung und eigene Weltkenntnis. Dabei bleibt die Frage nach dem Selbst offen: „Wo ist man eigentlich, wenn man bei sich ist?“[5]
Nach all dem folgt die erste Zwischenbetrachtung. Safranski geht zuerst knapp auf den soziologischen Wandel ein, weg von kollektiven Verbänden hin zum entweder als Skandal oder als Epiphanie wirkenden selbstbewusstem Hervortreten des Individuums. Dann schwankt, ja fällt die Abkehr vom Begriff der Gleichheit – mit Ausnahme der Kulturleistung der Gleichheit vor dem Gesetz. In der Natur gibt es keine Gleichheit, dieses Wissen kann der Individualität und dem „Einzel sein“ Rückenwind geben. Und schließlich melden sich im Denken die beiden Quellen der Religion, die Henri Bergson (1859-1941) viel später ausführlich beschrieben hat. Zum einen die Glaubensgemeinschaft, die sich gegenseitig stützt und stärkt, aber in vielerlei Weise als Voraussetzung dafür Druck auf den Einzelnen ausübt („Stammesreligion“). Dem steht die ekstatische und mystische Dimension der Religion diametral gegenüber, die weit über eine kollektive Selbsterhaltungslogik hinausgeht („Individueller Glaubensakt“). Es ist genau diese zweite Dimension, die – übrigens bis in die Gegenwart – dem oder der Einzelnen noch Grund sein könnte, einer Religion und/oder einer Kirche angehören zu wollen!
Rousseau, Diderot, Stendhal
Jean Jaques Rousseau (1712-1778) steht für die Ermutigung, nicht den Weg zu den Meinungen der anderen, sondern den Weg zu sich selbst, zur eigenen Meinung zu suchen und konsequent zu gehen. Rousseau kennt die Angst vor der Freiheit des Anderen. Die Verlockung zur Nachahmung – auch um des faulen Friedens willen – liegt quasi auf der Straße, kann leicht ergriffen werden. Im Gegensatz dazu muss das eigene Denken und das eigene Empfinden erst erkämpftwerden. Und ganz ähnlich wie weiter oben, wird in bleibender Offenheit die Frage gestellt: „Wohin kommt man, wenn man zu sich kommt?“[6] Ein Thema Rousseaus, das später noch bei Hannah Ahrend auftauchen wird, ist, dass zur Freiheit nicht nur das Wählen und das Unterlassen gehört, sondern auch und vor allem das Anfangenkönnen – als eine Macht der Initiative und der Spontaneität.
Rousseaus Zeitgenosse Denis Diderot (1713-1784) nimmt das Umfeld des/der Einzelnen in den Blick. Er sucht die Befreiung aus der gezwungenen Stellung, die Menschen auferlegt oder von ihnen auch bisweilen selbst gesucht werden. Der Einzelne wird als geselliges Genie verstanden. Um aus seiner gezwungenen Stellung auszubrechen, braucht es Souveränität. Souverän ist, wer keinen anderen braucht und deshalb auch nicht posieren muss. In dieser Haltung kann der/die Einzelne gerade ein geselliges Genie sein. Wer einen/eine andere/n braucht, ist bedürftig und nimmt eine Position ein, gibt seine/ihre Freiheit ab. Ein fauler Friede für die, die existenzialistisch denken. Aber noch kenn die Philosophie diesen Begriff nicht.
Marie-Henry Beyle (1783-1842), bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal, knüpft an all dem an und hebt es auf eine höhere Stufe – ihm schwebt für den/die Einzelne das Bild des/der Einzelnen mit Stil vor. Der Weg zum Ästhetizismus, der den/die Einzelne ausweist und erfüllt, ist nicht weit!
Im Boxenstopp, in der zweiten Zwischenbetrachtung weist Safranski darauf hin, dass in den beschriebenen Etappen des Rittes der Schleier des Bewusstseins gehoben wurde, der in den Geisteswissenschaften besonders durch den Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) bekannt wurde. Bisher kannte sich der Mensch nur als Teil einer Rasse, als Teil eines Volkes, als Teil einer Partei, einer Korporation, einer Familie oder irgendeiner Form des Allgemeinen. Jetzt verweht dieser Schleier, und es beginnt eine Entwicklung, in deren Verlauf sich der Einzelne all dem und dem Ganzen gegenübergestellt sieht. Im 18. Und frühen 19. Jahrhundert bricht der/die Einzelne aus dem aus, was für „sein Ganzes“ war und stellt sich denkerisch zum ersten Mal diesem Ganzen gegenüber
Kierkegaard, Stirner und Thoreau
Um im Bild des gewaltigen Ritts auf dem feurigen Rosse durch die Philosophiegeschichte zu bleiben: die Hälfte der Stecke, die Hälfte der Bahn ist geschafft. Die zweite Hälfte beginnt Safranski mit dem, auf den ich mich am meisten freute, sicher auch, weil er mir sehr vertraut ist. Mit Kierkegaard, mit seinem Bild vom Einzelnen und seiner Entdeckung der Existenz kommen jetzt Erkenntnisse und Begriffe ins Spiel, die mir zumindest geläufig sind.
Søren Kierkegaard (1813-1855) kennt sowohl die Sehnsucht nach Normalität und Geborgenheit, die ein Dazugehören unter dem Dach des Allgemeinen vermittelt, als auch die Sehnsucht nach ungehemmter Einzelheit. Nicht umsonst heißt sein erstes großes Werk „Entweder – oder“, denn beides in Fülle zu haben oder zu leben geht nicht! Das „Ich“ findet sich vor, es existiert. Beiden Sehnsüchten stellt er als Idealfigur den „Ethiker“ und den „Ästheten“ gegenüber. Der „Ästhet“ wolle und wähle alles Mögliche und verfehle dabei sich selbst. Der „Ethiker“ verzichte auf alles Mögliche und wähle dafür sich selbst, schreibt Safranski. Kierkegaard unterscheidet in diesem Wählen eine Religion, der das Prinzip der Identität zugrunde liegt, die keine Offenbarung nötig hat und die das Göttliche durch vertiefte Erfahrung und vertieftes Denken in der Welt und in sich selbst entdeckt. Dies ist die Religion des Einzelnen. Die zweite Form der Religion ist eine Religion des Dualismus, die den Abgrund kennt, der nur durch das Eingreifen des Göttlichen überwunden werden kann, z.B. durch das Erscheinen und die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Hier geht es um eine in Lehren und Riten verfasste (Stammes-) Religion. Kierkegaard findet keine Ablösung von diesem Begriff der Religion und versucht, durch den Begriff der „Gleichzeitigkeit“ eine Brücke von des Menschen Seite zur Seite Gottes zu schaffen. Das nennt Kierkegaard dann „Nachfolge“, die unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit und der persönlichen Nachfolge auch eine Religion des Einzelnen sein kann, sofern es um eigenes Denken und Erfahren bzw. dessen Deutung geht. Im eigenen, individuellen Glaubensakt wird gleichzeitig mit Christus der Abgrund zwischen sich und dem Göttlichen überwunden. Das wäre Kierkegaards Weg, das ist die Essenz des Menschseins, darauf zielt nach ihm die gläubige Existenz des Menschen.
Max Stirners (1806-1856) Beitrag in diesem Ritt ist die Erkenntnis, dass die Existenz vor der Essenz kommt. Bevor man sich einen Reim auf seine Existenz machen kann, findet man sich bereits als existierend bereits vor. Diese Existenz ist die Basis, die von der Sphäre der Gespenster, die besessen macht, eingenommen wird. Das wäre dann die Essenz, die der Existenz nachgeordnet ist, das wäre alles, was man sich ausdenkt, was andere sich ausgedacht haben, was für verbindlich erklärt wird, diese ganze Welt des Sollens. Für den Kritiker und Nominalisten Stirner sind all diese Sätze des Sollens Universalien des Denkens, die keine Realität haben, doch wenn man von ihnen besessen ist, können sie Realitäten hervorbringen. Stirner mahnt, dass dann der Spuk zur Wirklichkeit werden kann.
Der Dritte im Bunde schließlich, Henry Thoreau (1817-1862), sollte Menschen meiner Generation aus dem Film „Der Club der toten Dichter – neben Walt Whitman – bekannt sein, wird er doch von der Figur des Lehrer Keating zitiert mit „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aussaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt habe.“[7] Thoreau könnte Pate stehen nicht nur für den „Waldgang“ Ernst Jüngers (vgl. weiter unten), sondern auch für das, was Menschen der heutigen Zeit auf der Suche nach Eins- und Einzeln sein umtreibt: Sich selbst finden – das Ganze in Spielarten von Rückzug (Thoreau zog sich in eine Waldhütte in Massachusetts zurück) – sein Leben war so etwas wie ein selbst gewählter Retreat oder selbst gestaltete Exerzitien bzw. eine Form von Eremitentum, diesseits genauso wie jenseits der verfassten Formen von Religion – und es ging um das eigene, existenzielle Mark des Lebens. Anders als die bisherigen Philosophen verstand Thoreau seine Weise des Rückzugs ins Existenzielle allerdings als Experiment, nicht als Lebensform; diese sollte und könnte im Experiment gefunden werden.
In seiner dritten Zwischenbetrachtung geht Safranski angesichts der drei „Stationen“ bei Kierkegaard, Stirner und Thoreau auf die Rolle der Gesellschaft im Gegenüber zum Einzelnen ein. Er beschreibt sie als eine Macht, die tief ins Innere hineinreicht und doch nicht zu einem gehört, die sogar vom Wesentlichen abhält. Das Wesentliche, das war für Kierkegaard der Bezug zu Gott, für Stirner das schöpferische Nichts und für Thoreau die Nähe zur Natur, der eigenen wie der äußeren. Sich lange in der Gesellschaft zu bewegen heißt – frei nach Thoreau -, lange nicht mehr auf sich zu hören und genau so lange nichts mehr von sich zu hören. Denen, die auf der Suche und auf dem Weg zum Einzeln sein sind, bereitet die Gesellschaft Unbehagen!
George, Simmel, Weber, Huch, die Schatten der Massen
Der abenteuerliche Ritt durch die Philosophiegeschichte geht in seine letzte Runde. Mit Stefan George (1868-1933) kommt ein neues Medium des „Einzeln seins“ ins Spiel, das Phänomen der Dichtung, verstanden als Ausdruck der Distanz und der Entfremdung vom gewöhnlichen Leben. Dichtung wird zum Medium dessen, dem Leben zeitweilig fremd gegenüberzustehen, um es in seiner tiefen, geheimnisvollen Dimension „verdichtet“ im zweifachen Sinne erfassen zu können. Diese Dimension ist es, die zum „Einzeln sein“ führt.
Georg Simmel (1858-1918) knüpft daran an. Es sei nicht das naturalistische Triebleben, das den Menschen zum Individuum mache, erst das ästhetische Formgesetz, die ästhetische Ausformung des eigenen Lebens bringe Individualisierung zustande und steigere das Leben, die Lebendigkeit des Menschen zu einer hoch individualisierten Gestalt, die die Unterscheidung voneinander möglich mache. Mehr und mehr trägt die Kulturphilosophie und zunehmend auch die Soziologie zur Frage nach dem Einzeln sein da Ihrige bei.
Der Soziologe und Ökonom Max Weber (1864-1920) weist auf die Kraft der Massengesellschaft hin und stellt gegen die Erfahrung der Entzauberung des Lebens (durch die Durchdringung des Lebens seitens der Rationalisierung, der Technik, der Wissenschaft) den inneren Dämon in einem jeden Menschen, der sich dieser Entzauberung zu entziehen vermag und der den Lebensfaden des Einzelnen hält. Von hier aus erwächst auch die charismatische Herrschaft des Einzelnen über sich, aber auch über andere. Sie kann, wie die Geschichte in der Zeit von Weber zeigt, ebenso helle wie dunkle Formen annehmen!
Die Schriftstellerin, Philosophin und Historikerin Ricarda Huch (1964-1947) denkt in Anlehnung an Kierkegaard und gleichzeitig in Überwindung seiner Glaubensthesen Religion und Glaube radikal vom Einzelnen her. Safranski stellt klar, dass religiöse Erfahrung für sie tiefer reiche als die Konstruktion von religiösen Dogmen, von denen man überzeugt sei oder zu denen man sich im Sinne des Für-wahr-haltens bekenne. Glaube und Religion seien nicht bloß eine Sache der Überzeugung und der rituellen Gewohnheiten; Glaube, den Ricarda Huch in dieser Krisenzeit neu entdeckt, liege überhaupt nicht auf dieser kognitiven Ebene, sei nicht eine mit Phantasien und Einbildungen durchsetzte Art des Wissens, also letztlich ein vermindertes Wissen; Glaube sei vielmehr die Erfahrung, an einer ganz eigenen und zugleich universellen Kraftqualle teilzuhaben; die Erfahrung der Umwandlung des inneren Menschen in der Folge des Einströmens einer universellen Kraft. – Wäre die Unterscheidung von Religion, Frömmigkeit und Spiritualität zu Huchs Zeiten schon wissenschaftlich salonfähig, würde hier deutlich werden, dass Glaube in dieser Weise zur innerlich prägenden und ins einzeln verantwortete Handeln führenden Spiritualität hinneigte, weniger zur dogmenmäßig verfassten Religion oder zu praktisch vollzogenen rituellen Formen der Frömmigkeit. Spiritualität, nicht Frömmigkeit und schon gar nicht Religion ist Garantin für ein Einzeln-sein-können im Glauben.
Das Zeitalter der Massen, sei es durch die Industrialisierung vorangetrieben, sei es durch den Nationalsozialismus in den Tod geführt, zeigt, dass „die Masse“ einen „Führer“, einen Hypnotiseur“ braucht, einen Menschen, von dem Einfluss ausgeht. Safranski hält zugute, dass das Erlebnis der Masse mit fieberschweren Genüssen locke, vor denen aber zurückschrecke, der/die unbedingt seine/ihre Nüchternheit bewahren will.
Die für mich stärkste Analyse Safranskis zielt auf die Moderne und geht über sie hinaus. Safranski schließt einen naturalistischen Vergleich: „Was in der Natur die Gene sind, das sind in der Kultur die Meme – Ideen, Stile, Verhaltensarten, Bauweisen, Melodien und so weiter -, die sich auf dem Weg der Nachahmung replizieren. Neues entsteht, wie bei den Genen, durch Replikationsfehler, also Abweichungen, die sich dann durchsetzen, wenn sie Fitness genug haben, hinreichend viele Nachahmungen auszulösen. Für Dawkins[8] ist zum Beispiel ‚Gott‘ ein zeitweilig höchst populäres Mem, das sich in je verschiedener Gestalt in den Kulturregionen durchgesetzt hat, wie ein Virus, sagt er. Aufklärung, selbst ein durch hinreichende Nachahmung erstarktes Mem, wäre dementsprechend eine Art Immunsystem gegen das Gottes-Virus. Auch zwischen den Memen, das lehrt Dawkins, findet ein Kampf ums Überleben statt; es gewinnt, wer die größte Zahl von Nachahmungen hat.“[9] Der Masse widerstehen können nur diejenigen, die den Virus des „Einzeln seins“ (als Mem) in sich tragen, und sie können sich als Einzelne nur in der Gemeinschaft derer durchsetzen, die auch Einzelne sind. Allein für diesen Vergleich, für diese Deutung haben sich die 250 Seiten gelohnt!
Jaspers, Heidegger, Ahrend, Sartre, Jünger
Und jetzt die letzten Meter der letzten Runde im Ritt durch die Philosophiegeschichte auf dem feurigen Ross. Safranski öffnet das Feld des Existenzialismus: „Die alltägliche Erfahrung, von Massen alltäglich umgeben zu sein oder mit ihnen durch Medien, zunächst den gedruckten, verbunden zu sein, haben im Gegenzug die trotzige Selbstbehauptung des Einzelnen wachgerufen. Der Einzelne ist für sich selbst auffällig geworden und gewinnt daraus eine neue Intensität. Seit Kierkegaard nennt man diese Art Selbstbezug: Existenz. Daraus entwickelte sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine eigene Philosophie, der Existenzialismus.“[10]
Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) verbindet seine beiden Professionen in einer „Psychologie der Weltanschauungen“, die er 1919 veröffentlichte. Maßgeblich darin ist das Sichkümmern des Denkenden um sich selbst. Und wieder eine der Fragen, die Safranskis Werk so liebenswert machen: „Wohin kommt man, wenn man zu seiner Existenz kommt, was hat man verloren, wenn man von ihr abgeschnitten wird?“[11] Für Jaspers ist klar: Wissenschaft will begreifen, Philosophie will ergriffen werden von dem, was sie begreift. Wissenschaft strebe Allgemeingültigkeit an, der Existenzphilosophie genüge es, wenn Einzelne zu sich selbst erweckt werden. Die Wissenschaft verallgemeinere, die Existenzphilosophie vereinzele.
Das ist auch genau der Punkt, an dem Jaspers und Heidegger sich treffen. Martin Heidegger (1889-1976) pocht auf die Unterscheidung zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit. In seinem „In-der-Welt-sein“ trifft der Mensch auf das Gewöhnliche. Hier, in der Uneigentlichkeit, ist er nicht bei sich selbst, beim Eigenen, sondern „draußen“ bei den Dingen, Beschäftigungen, Meinungen, bei den Anderen. In dieser Welt des Jedermanns ist jeder wie der andere und keiner ist er selbst. Heidegger spricht von der „Welt des Man“. Die Eigentlichkeit dagegen ist für Heideggers kein besonders Handlungengebiet mit besonderen Zielsetzungen. Will der Mensch in der Eigentlichkeit leben, geht es um veränderte Vorstellungen und Haltungen zu jedwedem Lebensbereich. Safranski formuliert als Heideggers Ethos derer in der Eigentlichkeit: „Tu, was du willst, doch das tue ganz und mit Hingabe. Du musst dich selbst entscheiden und die Verantwortung dafür übernehmen. Du darfst nicht vor dir davonlaufen. Du musst dich selbst in deiner Unvertretbarkeit und Freiheit annehmen.“[12]
Hannah Ahrend (1908-1975), Schülerin von Jaspers und Heidegger, kurzzeitig Heideggers Geliebte, führt die Existenzphilosophie der beiden in eine politische Philosophie hinein, zumindest lässt sie diese Dimension nicht draußen vor. Safranski zeigt auf, wie Ahrendt ihrem früheren Lehrer, Freund und Liebhaber philosophisch entgegnet: „Auf Heideggers Vorlaufen in den Tod antwortet sie mit einer Philosophie der Geburtlichkeit, auf den existentiellen Solipsismus der Jemeinigkeit antwortet sie mit einer Philosophie der Pluralität; auf Heideggers Kritik der Verfallenheit an die Welt des Man antwortet sie mit einer philosophischen Verteidigung des Lebens in der Öffentlichkeit.“[13] Ihr Denken des Einzeln seins erhält Originalität durch den Begriff der Geburtlichkeit. Sie unterscheidet eine „erste“ und eine „zweite“ Geburt. „Denn zunächst einmal bedeutet ja, geboren worden zu sein, dass man zuerst angefangen worden ist, ehe man selbst etwas anfängt. Deshalb spricht Heidegger ja auch von der Geburt als Geworfenheit. Dieses passive Moment gesteht Hannah Ahrendt selbstverständlich zu. Doch betont sie im Gegenzug das Chancen-Eröffnende einer jeden Geburt. Geboren werden Anfänger, die für jede Überraschung gut sind, solange ihnen nicht das Vielversprechende ausgetrieben wird.“[14] Aus dieser zweiten Geburt erwächst eine Philosophie des Anfangens. Ermutigt durch Freiheit, werden im Anfangen Spontaneität und Initiative frei. Diese existenzielle Tat kann Zuversicht begründen. Einzeln sein muss in dieses Anfangen münden, in die existentielle Tat, und auf diese Weise letztlich in die Gestaltung der Welt.
Jean Paul Sartres (1905-1980) Existentialismus umfasst all das, was bisher in dieser „letzten Runde“ gesagt wurde. Sartre steht für eine Individualphilosophie, in der es um wählen, um leidenschaftlich sein, um Werden, um Vereinzelung und Subjekt/subjektiv sein geht und der die Aufgabe der unendlichen Sorge um sich selbst mitgegeben ist. Sartre sieht seinen Begriff von Existenz immer mit dem Begriff der Kontingenz zusammen – was es gibt, könnte es auch nicht geben. Der Einzelne, der Mensch kann sich in dieser Philosophie keiner höheren Absicht mehr gewiss sein. Festhalten, sei es an Ideen, an einem Selbst- oder Fremdbild, an Eigentum ist für ihn das im An-sich erstarrte Für sich. Es ist das Lebendige, es ist die Freiheit, die da erstarrt. Vielleicht ist Sartres unendliche Sorge um sich selbst der wichtigste Beitrag für das Einzeln sein, und darin die Warnung, nicht zu erstarren, wach zu sein für das An-sich und in ein rechtes Verhältnis, in ein rechtes Für-sich zu ihm zu gehen.
Mit der Figur des Waldgänger setzt Ernst Jünger (1895-1998) in Safranskis Tour d’Horizon den Schlusspunkt. Safranski bemüht das Bild des Stoßtruppführers – Jünger hatte diese Aufgabe im Ersten Weltkrieg inne – und des Waldgängers, um einen zusammenfassenden Abschluss hinter seine Betrachtungen zum Einzeln sein zu setzen. Jünger schreibe einmal, dass ein Soldat mit einem Maschinengewehr eine ganze Menge Menschen in Schach halten könne. Dabei stehe er der Gruppe gegenüber, er gehöre nicht zu ihr. Es gibt ein Zugleich von Drinnen und Draußen, das Ernst Jünger ausdrücklich thematisiere. Dass dieses Zugleich von Drinnen und Draußen all denen gilt, die versuchen, ihr Einzel-sein, ihre Individualität, ihre Existenz und ihr selbst zu leben, und dass sie sich zwischen diesem Drinnen und Draußen bewegen müssen, um am Leben bleiben zu können, liegt auf der Hand.
Im Essay vom Waldgang, erschienen 1951, stellt Ernst Jünger neben dem Arbeiter und dem Unbekannten Soldaten eine dritte Modellgestalt von Menschsein vor, den Waldgänger, der ihm Hier und Jetzt lebt. Der Wald steht modellhaft als Ort des Widerstands; sich in den Wald zurückzuziehen heißt, neue Formen der Freiheit aufzugreifen, die angeboten werden, um sich gegen die vielfältigen Formen der Macht aufzulehnen. Safranski deutet: „Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, dass er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenzen, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt.“[15] Klar wird an dieser Metapher auch: Es braucht Orte und Begegnungen der Seinsverdichtung, „die dann erfahrbar wird, wenn jemand sich entschließt, aus der Statistik herauszutreten und seine unverwechselbare, eigene Existenz zu ergreifen. Dabei entscheidet sich dann, ob er sein So-sein höher als sein Da-sein schätzt. Das beschreibt ganz gut, worum es eigentlich geht beim Versuch, ein Einzelner zu sein.“[16]
Im Ziel
Letztlich endet der gewaltige Ritt auf dem feurigen Ross durch die Philosophiegeschichte entlang der Fragen nach dem „Einzeln sein“ im „Wald“, verstanden in der Metapher des Ernst Jünger, und aus dem Reiter auf feurigem Rosse wird ein Waldgänger. Was philosophiegeschichtlich gilt, gilt auch für des Einzelnen Biographie: Einzeln sein, Einzelner oder Einzelne werden beginnt immer mit dem Herausfallen, Herausgehen oder Hinauswurf aus dem „Stamm“, aus der „Herkunftsgruppe“. Aus der Zugehörigkeit zur Gruppe wird ein Gegenüber zur Gruppe – was noch nicht heißen muss, dass aus mit Miteinander ein Gegeneinander werden muss. Ein Ringen miteinander wird aber nicht ausbleiben. Die Epoche der Renaissance und die Figur des Martin Luther können dafür sinnbildlich stehen.
Rousseau, Diderot und Stendhal stehen als lebendige Metaphern für den Kampf um das Eigene, das Einzelne in der Welt der Gesellschaft als Ganzer. Es geht um ein Ringen für eine Welt der persönlichen Beziehungen und Begegnungen, um eine Welt der persönlichen Ausschmückungen, die diese Welt zur „je eigenen“ Welt zu gestalten vermag.
Sören Kierkegaard, Max Stirner und Henry Thoreau „denken“ den Einzelnen in seiner Stellung vor Gott (Kierkegaard), in seiner Stellung vor dem, was andere als das „Richtige“ oder „Notwendige“ ausgedacht haben Stirner), in seiner Stellung der äußeren und der inneren Natur gegenüber Thoreau).
George, Simmel, Max Weber, Huch und die Schatten der Massen nehmen das Umfeld des/der Einzelnen in den Blick. Stefan George „verdichtet“ es im doppelten – und schönsten – Sinne des Wortes. Georg Simmel weist auf die ästhetische Ausformung des Lebens hin, durch die das Einzeln sein zur Geltung komme. Max Weber stellt der Entzauberung des Lebens den dem Einzelnen innewohnenden inneren Dämon gegenüber, der bei aller Bedrohung von außen durch die überbordende Rationalität den Lebensfaden des Menschen erhält. Ricarda Huch denkt Glaube nicht mehr von lehrender Religion oder formverliebter Frömmigkeit, sondern von der Spiritualität eben des Einzelnen her, die nach einem Geist sucht, aus der heraus der/die Einzelne sein/ihr Leben verantwortet leben kann. Und die Psychologie der Masse(n) lehrt, dass es für den/die Einzelne ein Heraustreten braucht, um Einzeln sein zu können – was aber noch nicht bedeutet, diese Masse zu verlassen, sondern sich oft genug gegen ihr gegenüber zu behaupten.
Karl Jaspers macht darauf aufmerksam, dass Wissenschaft begreifen, Existenzphilosophie aber ergriffen werden will von dem, was sie begreift. Wissenschaft verallgemeinert im Wissen, die Existenzphilosophie vereinzelt in dem, was sie ergreift. Beide wirken also wechselseitig, wenn auch mit verschiedenen Ergebnissen aufeinander ein.
Martin Heideggers impulsgebender Beitrag ist der Verweis auf die uneigentliche Welt des „Man“ und der Ruf in die Eigentlichkeit in alle Weisen des Denkens und Handelns, selbst des Unterlassens des/der Einzelnen.
Hannah Ahrendt bezaubert beinahe durch die Betonung der Freiheit, immer wieder anfangen zu können, „neue Ketten“ zu beginnen, wie sie es nennt. Freiheit ist eben nicht nur Wahl oder Abwahl von Haltungen und/oder Aufgaben. Freiheit will ins Handeln führen; hier unterscheiden sich bei ihr die „vita activa“ und die „vita contemplativa“.
Jean Paul Sartre denkt Existenz und Kontingenz zusammen, zeigt auf, dass nichts sein muss, wie es ist, und alles anders sein kann oder nicht sein braucht – und stellt neben die Möglichkeit des Festhaltens auch die des Loslassens in der Erwartung, was dann kommt. Freiheit wird so für den einen zur Chance – und für die andere zur Bedrohung.
Ernst Jünger schließlich, bietet im „Wald“ ein Plädoyer für Freiheit und Rückzug an. Es bleibt den Lesenden die Entscheidung, ob es „Rückzug aus“ oder ein „Rückzug nach“ ist bzw. wird; allerdings: es bleibt nicht beim Rückzug. Der „Waldgänger“ ist ein Mensch, der sich, das Seine, suchen und bewahren will, wohl, um dann wieder den Wald zu verlassen.
Bleibt am Ende ein Rückbezug auf Safranskis Vorbemerkung. Er schreibt: „Für die Menschen, die hier vorgestellt werden, ist solche Selbstüberwindung immer auch ein Spiel beim Versuch, ein Einzelner zu sein und darüber nachzudenken. Dann bemerkt man, wie schwierig es ist zu unterscheiden, ob man selbst oder die Gesellschaft in einem denkt und empfindet.“[17]
„Für die Menschen, die hier vorgestellt werden, …“ am 20.05.2023 erhielt Dr. Rüdiger Safranski in Calw den Hermann-Hesse-Preis. Die Auszeichnung wird alle zwei Jahre an Personen verliehen, die sich – ob wissenschaftlich, journalistisch oder publizistisch – um das Werk von Hermann Hesse verdient gemacht haben oder die sich im Geiste Hermann Hesses auf nationaler oder internationaler Ebene für den interkulturellen und interreligiösen Dialog eingesetzt haben. In seiner Rede zur Preisverleihung stellte Safranski die Hauptfigut von Hesses „Glasperlenspiel“, den Magister Ludi Josef Knecht, und dessen Ringen und Weg zum Einzeln sein vor.
Nach dem Ritt durch die Philosophiegeschichte auf feurigem Rosse und der Kenntnis von Safranskis Goethe-Biografie wünschte ich mir und nicht nur mir allein eine Fortsetzung von „Einzeln sein“, in der ein so guter Erzähler und Darsteller von Zusammenhängen wie Rüdiger Safranski das Ringen um das Einzeln sein bei ausgewählten Figuren der Weltliteratur aufzeigt. Mir würde schon für den Anfang der Rückgriff auf Figuren aus dem Werk von Hermann Hesse und dem Werk von Thomas Mann genügen.
Herr Dr. Safranski, ich halte mein Ross gezäumt!
Köln, 30.11.2023
Harald Klein
[1] Safranski, Rüdiger (1994): Ein Meister aus Deutschland. Martin Heidegger und seine Zeit München.
[2] Safranski, Rüdiger (2013): Goethe. Kunstwerk des Lebens, München.
[3] Safranski, Rüdiger (2015): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München.
[4] Safranski, Rüdiger (2021): Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung, München.
[5] Safranski, Rüdiger (2021): Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung, München, (48)
[6] a.a.O., 68.
[7] vgl. [online] https://gutezitate.com/zitat/270595 [29.11.2023]
[8] Vgl. Dawkins, Richard (2016): Der Gotteswahn, Berlin.
[9] a.a.O., 180.
[10] a.a.O., 193.
[11] a.a.O., 197.
[12] a.a.O., 207.
[13] a.a.O., 215.
[14] a.a.O., 216.
[15] a.a.O., 247.
[16] a.a.O., 249; Hervorhebungen durch H.K.
[17] a.a.O., 9.