Der eine Mönch, die vielen Menschen und immer wieder ein Mai Tai
Es ist noch nicht lange her, dass ich meinen ersten Mai Tai bestellt und genossen habe, in der Cocktailbar gleich ein paar Häuser die Straße hinunter. Mit einigen Freunden war ich dort, und gewundert hat die Bestellung des mir fremden Cocktails keinen, im Gegenteil: mit ein wenig Witz in der Stimme wurde ich gelobt, dass ich endlich mal wieder „was Neues“ ausprobiere.
Bei Mönch Kenso, der eine durchgängige Rolle in dem kleinen 160 Seiten starken Büchlein des Münchner „Allrounders“ Stefan Weiss innehat, ist das anders. Da geht es nicht darum, „was Neues“ Mit der Intuition und dem sich daraus speisenden Wissen, nicht mehr in seinem buddhistischen Kloster bleiben zu können, kommt er ins Handeln, verlässt seine alte und liebgewonnene Heimat und bricht auf ins Neue, zieht in die Fremde. Es bleibt offen, wo denn das Kloster sei, in welchem Land oder in welcher Gegend, in welchem Kulturkreis dieses kurze „Roadmovie“ spielt. Es könnte Tibet sein, es könnte Tanger sein, aber auch das Bergische Land, wo in Waldbröl oder in der Nähe von Altenberg buddhistische Einrichtungen zu finden sind. Egal, der Ort, die Zeit spielen keine Rolle.
Wenn der für alle noch erkennbare Mönch Kenso eine durchgängige oder eine tragende Rolle hat, so kommen die Hauptrollen dieses – fast könnte man sagen – Entwicklungsromans doch den Menschen zu, denen er begegnet. Kenso trifft in einer Stadt, ca. vier Stunden vom Kloster entfernt, zunächst den „freundlichen Herrn“ (er bleibt durchgängig namenlos, aber nicht gesichtslos!). Dieser bietet Kenso an, in einer ihm gehörenden kleinen Wohnung kostenlos zu logieren; seine Bitte, der Preis des Wohnens, ist, dass er an den kommenden Abenden immer wieder mit verschiedenen ihm bekannten Menschen zu Kenso kommen darf, die Fragen an das Leben oder auch Fragen an ihre Lebensführung haben. Im Buch sind 13 Begegnungen wiedergegeben, die auf ca.6-7 Seiten wiedergegeben sind, und all diese Begegnungen finden in einer Cocktailbar statt (hier schließt sich der Kreis zu den einleitenden Worten). Jede Begegnung beginnt Kenso mit den Worten: „Was ist deine Frage?“ Am Ende – daher der Titel des Buches – bestellen der freundliche Herr und der Mönch Kenso sich einen Mai Tai, nach einigen Tagen mixt der Barmixer ihnen die Cocktails dann schon unaufgefordert, wenn die Gäste sich zum Gehen bereiten.
Die Sprecher:innen und die Gespräche
Diese Gesprächspartner:innen übernehmen mit ihre Fragen die Hauptrollen. Da kommt zu Beginn ein Berater mit der Frage „Wie bekomme ich wieder Aufträge?“, die sich durch Kensos Nachfrage zu „Wie bekomme ich meine Angst in den Griff?“ Eine Psychologin fragt nach der Existenz der wahren Liebe, ein Künstler fragt danach, wie er wieder kreativ werden könne. Ob es überhaupt etwas bringe zu unterrichten, will eine Lehrerin wissen; und ein Existenzgründer fragt nach dem richtigen Weg, Investoren davon zu überzeugen, dass er eine richtig gute Idee habe. Aus der Frage eines Pfarrers, wie er seine Kirche wieder voll bekomme, wird ein Gespräch über des Pfarrers Glaubwürdigkeit. Eine ältere Dame klagt über die schnell vergehende Zeit und lernt, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit ein Schlüssel zur Veränderung des Erlebens ein könnte – so, dass sich die Zeit von der Geschwindigkeit löse, indem man sich auf das, was uns wirklich wichtig ist, fokussiert. Diese Fokussierung, sagt Kenso, nenne man Authentizität (vgl. S. 85). Dass ein Familienvater schlagartig einen Ansatzpunkt zum Kampf gegen seine Depression findet, hängt schlicht an der Frage Kensos, was denn sein Wunsch für sich selbst sei – das habe ihn noch niemand gefragt. Und dem langen schon verheirateten Ehepaar, dass nach einem besseren gegenseitigen Verstehen fragt, antwortet Kenso dasselbe wie dem attraktiven Mann, der ihn fragt, was er über Sex sagen könne: Immer – in allen Gesprächen – geht es um Authentizität, und immer geht es – jetzt Achtung! – um das Wandern durch die drei Ebenen des Menschseins.
Die Lehre von der Authentizität
In den Gesprächen bietet Kenso immer wieder kleine Proben dessen an, was das Herzstück seiner Lehre ist. Alle seine Gesprächspartner:innen führt er hin zum Nachdenken – oft auch zum Einüben – von Authentizität. Zusammengefasst liefert das „Glossar“ am Ende des Buches auf wenigen Seiten einen Überblick über das, um was es in der Lehre der Authentizität geht. Sie alle, ein jeder, eine jede für sich, ich als Leser des Buches, Sie als Leser:in dieser Rezension sind dann authentisch, wenn Sie unabhängig von äußeren Einflüssen sowie frei von inneren Blockaden sind und darüber hinaus die eigenen drei Ebenen wahrnehmen können und die Fähigkeit besitzen, von einer Ebene auf eine andere zu wechseln (vgl. 142f).
Hinter den „drei Ebenen“ verbergen sich (1) die Ebene des Denkens, der der Geist, die Gedanken und alles, was der Kopf produziert, angehören; (2) die Ebene des Handelns, auf der der physische Körper und alles Handeln, das sich im Körper oder durch ihn abspielt, in seiner Wechselseitigkeit gehören; (3) eine namenlose dritte Ebene, die vielleicht mit „Intuition“, „Herz“, „Seele“ überschrieben werden kann und die eine ganz individuelle Instanz ist. Diese Ebene kann nicht trainiert oder vergrößert werden – sie liefert leise Impulse zu dem, was uns als Person individuell und zutiefst angeht. Sie ist der Ort unserer Bestimmung, unseres tiefsten Seins – und sie wahrzunehmen heißt vor allem, die beiden ersten Ebenen zur Stille, ins Schweigen zu führen.
Das ist die erste Aufgabe des Menschen, der Authentizität als Wert für sein Leben ansieht: mit Hilfe vieler probater Wege – Meditation, Achtsamkeit, Gebet etc. – die beiden Ebenen des Denkens und des Handelns zur Ruhe zu führen. Der Autor führt eine „erste Übung“ an, die als Atemmeditation sicher vielen Lesenden schon bekannt sein dürfte. Und dann gilt es, zu „hören“, zu „spüren“, zu „verkosten“ – verschiedene Spiritualität haben dafür einen eigenen Namen – und zu lernen, auf allen drei Ebenen zu Hause zu sein, sie reflektierend wahrzunehmen und nicht nur in ihnen aufzugehen, oder auch – in der Sprache des Buches – durch sie hindurchwandern zu können.
Stefan Weiss, nein: Kenso macht genau dazu Lust, verlockt ins Wandern durch die Ebenen, und er endet mit dem Hinweis auf die so entstehende Schaffensenergie (im Vergleich zur Überlebensenergie):
„Die Schaffensenergie ist der energetische Zustand, in dem unsere drei Ebenen ausgeglichen sind. Wir haben gelernt, wie wir die Ebenen des Denkens und des Handelns zurücknehmen und die dritte Ebene ‚hervortreten‘ lassen können. Wir (er-) leben das, was wir wirklich sind, und geben ihm in unserem Leben entsprechend Raum. Wir leben authentisch und (er-) schaffen etwas für uns und andere. Wir (er-) schaffen Klarheit, Freiheit, Kreativität, Liebe, Lösungen. Wir handeln aus der Energie der dritten Ebene. Wir leben selbstbestimmt mit Sinn und Klarheit und können bewusst zwischenunseren drei Ebenen wandern.
Mögliche Anzeichen für den Zustand der Schaffensenergie: Klarheit, Kreativität, Leichtigkeit, Freude, Erfolg, Neugierde, Offenheit, Begeisterungsfähigkeit, Aktivität, Sinn, Zufriedenheit, Glück etc. Die Überlebensenergie ist der energetische Zustand, in dem unsere drei Ebenen nicht ausgeglichen sind. Die Ebene des Denkens und die Ebene des Handelns bestimmen unser Leben, während die dritte Ebene nicht wahrgenommen und/oder nicht gelebt wird. In dieser Energieform sind wir nicht authentisch. Wir verbrauchen zu viel Energie für Dinge, die nicht wirklich zu uns gehören. Wir haben unsere Klarheit über unser eigenes Leben verloren und leben ein überwiegend fremdbestimmtes Leben.
Mögliche Anzeichen für den Zustand der Überlebensenergie: Müdigkeit, Schlafschwierigkeiten, verminderte Konzentrationsfähigkeit, erhöhte Gereiztheit, Energielosigkeit, Interesselosigkeit, Schwere, Traurigkeit, Burnout, Depressionen etc. sind mögliche Anzeichen dafür, dass wir uns eventuell schon zu lange in der Überlebensenergie befinden.“ (145f)
Die vorletzte der Begegnungen Kensos ist die mit den Kindern, die ihn fragen, warum sich Menschen in dem Kloster in den Bergen vor anderen Menschen verstecken, und ob sie Angst hätten. Kensos Antwort: „Sie leben etwas außerhalb, weil man dort besser auf Schatzsuche gehen kann“, sagte Kenso. (123) Der Schatz, um den es Kenso geht, ist dem Menschen von Geburt an mitgegeben, und die Gefahr ist groß, dass man ihn im Laufe der Zeit verliert – wenn man nur auf der Ebene des Denkens und des Handelns ist. Es geht um den Schatz eines authentischen Lebens.
Und in seiner letzten Begegnung trifft Kenso einen Geschäftsmann, der wissen möchte, wie Kenso Erfolg definiere. „‘Erfolg ist das Loch im Kreis‘, antwortete Kenso ohne irgendeine Regung. Der Geschäftsmann blickt ihn verwundert an. ‚Wie bitte?‘, fragte er dann. Kenso zog einen Stift aus seiner Tasche, nahm eine auf dem Tisch liegende Serviette und zeichnete einen Kreis. Mit demselben Stift stach er ein Loch in die Serviette und legte sie vor den Geschäftsmann.“ (131) Die Quintessenz: Erfolg kann nicht und niemals sein, immer noch mehr von dem, was man sowieso schon hat, hinzufügen zu wollen. Stattdessen meint Erfolg, neben dem Denken und Handeln sich ein Loch freischaufeln – das dann zur dritten Ebene hinab und danach auch wieder hinaufführt.
und es hat mich hierher geführt. «
Jetzt einen Mai Tai!
Ich habe das Buch im Bett, auf dem Schaukelstuhl und auf der Couch gelesen. Das war falsch. Ich hätte den Weg zur Cocktailbar gehen sollen, vielleicht allein, und doch nicht allein, weil ich Kenso an meiner Seite gewusst hätte.
Und mir bleibt die Frage: Wie mag ein Mai Tai schmecken, wenn ich authentisch trinke, unabhängig von äußeren Einflüssen sowie frei von inneren Blockaden und darüber hinaus die eigenen drei Ebenen wahrnehmend, mit der Fähigkeit, von einer Ebene auf eine andere zu wechseln? Ich bin sicher, dass ich es herausfinden werde, und Kenso – vielleicht auch Stefan Weiss – werden dabei helfen!
Köln, 12.04.2023
Harald Klein