Mehr als „Lutschen am Lebensleid-Lolly“
Thomas Steinfeld, im Jahr seiner Besprechung von Roger Willemsens „Der Knacks“ Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, geht mit Willemsens Buch und mit dessen Autor hart ins Gericht. Was zunächst wie Lob klingt, ist harsche Kritik: „Dieses Buch ist, so will es scheinen, das Buch zur Saison. Nicht, weil es besonders wahr wäre oder besonders schön, besonders gut oder besonders klug, sondern weil es wie kein anderes eine weit verbreitete Stimmung erfasst. […] Dieses Buch handelt davon, dass einer den Willen aufgibt, den Lauf der Dinge zu verstehen, um vom Ändern ganz zu schweigen, und stattdessen in der Betrachtung der Schäden und Verluste versinkt, die ihm eben dieser Lauf der Dinge zufügte und immer noch zufügt.“[1]
„Lutschen am Lebensleid-Lolly“ überschreibt Steinfeld seine 2010 erschienene Rezension – sie wurde vor 13 Jahren geschrieben. Vielleicht war in diesen Jahren der Optimismus größer, der „Wille zur Macht“ was die Gestaltung des eigenen Lebens, des politischen Lebens im Kleinen wie im Großen, des kulturellen Miteinanders anging. So gesehen könnte ich den Inhalt der Rezension annehmen – aber wir stehen 13 Jahre später! M.a.W.: Der „Knacks“ liest sich 2023 völlig anders als 2010 anders. Beschriebene Wirklichkeiten sind zeitbedingt und kontextabhängig. Und Willemsens Gedanken sind von hier aus gesehen nun wirklich mehr als „Lutschen am Lebensleid-Lolly“.
Begegnung mit Menschen und mit ihren Geschichten
Es ist hier nicht Ort, den Autor Roger Willemsen zu würdigen, es geht um eines seiner Bücher. Als „Buch“- im Sinne eines Romans oder eines Essays – ist Willemsens „Der Knacks“ unlesbar! Die Kapitel unterteilen sich von der Geburt eines Menschen an bis zu seinem Tode. Jedes Kapitel hat eine Unzahl von kleinen Begegnungen mit Menschen genau dieser Altersgruppe zum Inhalt, um die es in diesem Kapitel geht. Kinder, Paare, Verlassene, älter werden, alt seiende Menschen und schließlich Sterbende. Was davon ist Fiktion, was wirklich erlebt? In einer österreichischen Talkshow[2] outet sich Willemsen als ein Mensch, der immer sein Notizheft in der Jackentasche hat, der immer Sätze auffängt, notiert, in Zusammenhang bringt – und der sich wundert über das, was er da sieht und hört. Und das genau erzählt und beschreibt er.
Viele kleinen Geschichten, Anekdoten, die wie Mosaiksteine zu einer Lebensstufe passen, ohne ein zusammenhängendes Bild zu ergeben, diese Geschichten machen den „Knacks“ aus.
Trauma vs. Knacks
Was die Geschichten, was die Menschen verbindet, ist eben dieser „Knacks“. Willemsen unterscheidet das Trauma vom Knacks und erklärt das eine durch das andere. Er schreibt: „Das Trauma besteht, psychoanalytisch gesehen, darin, dass das Ereignis eintritt und sich immer wiederholt, ohne dass dieses Ereignis bewusst wäre; es bahnt sich Wege, ist also latent gegenwärtig. Erst in der Erinnerung wird das Ereignis hinfällig, erscheint, um verschwinden zu können. Im Augenblick seiner Vergegenwärtigung hat das Ereignis aufgehört zu sein. […] Im Knacks dagegen verdichten sich die Ereignisse, die nicht vorhanden sind. Gleichwohl hören sie nicht auf zu existieren, sie beginnen vielmehr, das ganze Leben zu überfluten. Insofern vollzieht sich im Knacks ein eigenes Drama. Der Problemkern ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft.“[3]
Dem Trauma liegt ein bedrückendes Ereignis zugrunde, dem Knacks ein schleichender Prozess. Der Knacks, so liest man auf der Umschlagseite, sei weniger der harte Bruch im Leben als der unmerkliche Übergang. Immer und überall gehe er vonstatten, in uns und um uns herum: eine Farbänderung ins Dunkle, ein Abfallen der Temperatur, ein Wechsel von Dur zu Moll. Es könne der Einzug der Enttäuschung sein oder des Alters, der Moment, an dem etwas an sein Ende gelange und sich am Horizont zum ersten Mal der Tod zeige. Nicht wie ein Sprung markiere dieser Knacks sein Objekt, sondern wie die Risse in der Oberfläche eines alten Bildes.
Das Trauma geht in die Tiefe, der Knacks in die Fläche, in die Weite. Willemsen spricht von einem Craquelé, von einem sich selbst produzierenden Muster – wie eine Kachel im Badezimmer, deren Haarrisse weiter und weiter reißen, so, dass jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden könnte. Aus der Biologie (und in der Folge aus der Philosophie) kann das Bild des Rhizoms als Beschreibung für den Knacks genommen werden. Fachtechnisch ausgedrückt ist ein Rhizom ein sich horizontal ausbreitendes Sprossachsensystem, wie es etwa Ingwer, Kartoffel oder der Giersch bilden. Es gilt als Gegenbegriff zum Baummodell: eine Organisation des Wissens, die nicht hierarchisch, nicht auf übergeordnete Einheiten bezogen ist und sich nicht auf Dualismen stützt. Stattdessen kann im Rhizom jeder Punkt an jedem anderen angeschlossen werden, ständig bilden sich neue Verbindungen, während andere sich auflösen, wobei sich ganz verschiedenartiges miteinander verknüpft.“[4]
Dem eigenen Knacks auf den Grund gehen?
Es geht um die dem Menschen innewohnenden Gewohnheiten, Marotten, Eigenheiten, Denkmuster, Lebensweisen und, und, und… Der oben schon angesprochene Lebensleid-Lolly trifft es nicht, der Knacks muss nicht notwendigerweise mit Leiderfahrung zu tun haben. Es geht um den beschädigten Menschen, aber beim Knacks geht es um Beschädigung an (nicht am) Leben, das aus welchen Gründen auch immer sie geschehen und zugelassen werden. Einschränkung an Leben ist die Folge, und das muss nicht notwendig gefühltes Leid. Vielleicht wäre das Verbleiben in der Komfortzone ein adäquat passendes Bild; auch hier werden Lebensmöglichkeiten nicht (mehr) ergriffen.
Wie steht es um meine, um Ihre Gewohnheiten, Routinen, Marotten, Eigenheiten, Denkmuster, Lebensweisen und, und, und… Können Sie denen auf die Spur kommen, und wollen Sie das? Können Sie sie benennen und einordnen, und wollen Sie das? Ahnen Sie, wie viel an Leben Ihnen der Knacks nimmt, unter dem Anschein, er würde es in Fülle geben?
„Die wichtigsten Dinge erschließen sich retrospektiv, sind unbemerkt ins Leben gekommen und sinken allmählich tiefer. Der Knacks der Endlichkeit, wann, in welcher Situation wird er bewusst? […] Im selbstbewusst werdenden Knacks erscheint nicht das Leben, das geführt wird, sondern jenes, das führt“, schreibt Willemsen.[5] Wenn es so etwas wie einen Lebensleid-Lolly gäbe, dann hätte er den Geschmack des gelebten Lebens in eigenen Leben, das von irgendetwas anderem gelebt wird. Leben mit, vor allem aus dem Knacks heraus verträgt sich nicht mit einem wirklich autonomen Leben.
Das Ja zum Knacks wagen
Was tun mit einem Buch, das gesammelte Begegnungen unter einem bestimmten Aspekt – dem „Knacks“ – und nach verschiedenen aufeinanderfolgenden Lebensstufen vorlegt? Wie gesagt: Sie können es nicht lesen wie ein Roman, ihm fehlt jede Handlung, oder wie einen Essay, ihm fehlt – zumindest auf einen oberflächlichen Blick hin – das Thema. Sie können es nicht lesen wie eine psychologische Abhandlung, ihm fehlt jede Wissenschaftlichkeit. Sie können die beschriebenen Begegnungen „nur“ in sich aufnehmen, was bei der Sprachkompetenz des Autors nicht schwer ist. In meiner Heimat sagt man, man könne sich besaufen an der Sprache von diesem und jenem. In der mystischen Theologie wird der hl. Bernhard von Clairvaux im 11. Jahrhundert als „doctor mellifluus“, als honigfließender Gelehrter bezeichnet. Beides spreche ich Roger Willemsen und seiner Sprachfähigkeit zu.
Man sollte sich zur Lektüre doppelt Zeit lassen: zum einen, um Schritt für Schritt durch das eigene Leben und seine „Stufen“ zu schreiten, mehr erspürend als bedenkend, welcher „Knacks“ im eigenen Leben wann Einzug genommen hat, wie er sich auswirkt, vielleicht, wovor er schützt, sicher, was er verhindert. Und dann das Bild von Craquelé, von der gerissenen Kachel im Badezimmer, die weiter und weiter reißt, so, dass jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden könnte. Willemsens „Knacks“ lädt ein, diesen Punkten Namen zu geben, ihre Eigenschaften zu erspüren.
Sie können eine Ahnung davon bekommen, wie der “Knacks“ jeden Punkt Ihres Lebens mit jedem anderen Punkt Ihres Lebens in Verbindung bringen kann. Manch einer, manch eine mag dazu einen Lebensleid-Lolly lutschen wollen; andere können sich berühren lassen von dem, was so geworden ist, und wieder andere können dem Knacks ein entschiedenes Nein gegenüberstellen – und hoffen, dass sie aus dieser Nummer einmal wieder herauskommen.
Mir scheint ist die Orientierung an den Weisen des Ostens am hilfreichsten und gesündesten, die etwas, z.B. ihren „Knacks“ betrachten – und dann lächeln.
Köln, 15.08.2023
Harald Klein
[1] Vgl. [online] https://www.sueddeutsche.de/kultur/roger-willemsen-knacks-lutschen-am-lebensleid-lolly-1.536285 [15.08.2023] – der Artikel erschien am 17.05.2010 auf sz-online.
[2] Vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=p6-jxAiicfk [15.08.2023]
[3] Willemsen, Roger (2008): Der Knacks, 7. Aufl., München, 57f.
[4] vgl. Philosophie-Magazin, Themenheft „Pflanzen“, Sonderausgabe Sommer 2023, Berlin, 104.
[5] Willemsen, Roger (2008): Der Knacks, 7. Aufl., München, 138f.