Was für ein Buch!
Da hat die in Indien geborene, in Deutschland aufgewachsene und in England lebende Autorin Andrea Wulf den Lesenden in jeder Beziehung ein echtes Schwergewicht geschrieben. Die gebundene Fassung ist über 800 gr. schwer; von den 526 bedruckten Seiten sind die letzten 105 Seiten Anmerkungen zum Text und Hinweise auf benutzte und zitierte Literatur. Diese 105 Seiten lesen sich wie ein Werkverzeichnis der von Wulf liebevoll bezeichneten „Fabelhaften Rebellen“, der Frühromantiker in Jena in den zwölf Jahren zwischen 1794 und 1806.
Frühromantiker – das sind die auf unterschiedlichen Wegen nach Jena gekommenen Dichter und Philosophen Friedrich von Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schelling, August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline (die sich später trennte und Schelling heiratete), sein Bruder Friedrich Schlegel und dessen Frau Dorothea, Friedrich von Hardenberg, gen. Novalis, Wilhelm von Humboldt und sein Bruder Alexander und Ludwig Tieck.
Deren Ideen und Gedanken zum „Ich“ – ob und wie das Ich sich vom Nicht-Ich abgrenzt und doch darauf bezieht (Fichte), ob der „Idealismus des Ich“ (Fichte) oder der „Idealismus der Natur“ (Schelling) höher zu bewerten sei, welche Schwierigkeiten die Übersetzung des Werke Shakespeares (durch August Wilhelm und Caroline Schlegel) im Anspruch und Zuspruch auf das „Ich“ mit sich bringen, oder ob man der Welt nur mit dem rationalen Denken oder nicht auch, vielleicht sogar besser mit Spiritualität gerecht würde (Novalis) – all diese Fragen gibt Andrea Wulf durch ihre „Fabelhaften Rebellen“ weiter. Und meist ist es die Biographie, sind es die Zeugnisse des Lebens der „Rebellen“, die die Fragen beantworten – lange Diskussionen oder Dispositionen findet man im Buch nicht, vermisst sie aber auch nicht. Die Lücken im Verständnis, die aufkommen könnten, werden durch Fußnoten und Anmerkungen, vor allem aber durch die Hinweise auf die Quellen abgedeckt.
Aber nun von Anfang an…
Ankunft in Jena
Wulf erzählt die Geschichte dieses „Jenaer Kreises“, der vor allem im Umfeld einer frei denkenden Universität entstehen und wirken konnte. Im 1. Teil beschreibt sie die Ankunft der „Rebellen“ in Jena, indem sie auf ihre Herkunft eingeht und die Denkschemata nennt, um die es den „Rebellen“ in Zukunft gehen wird. Die Personen werden greifbar und sichtbar – gleich zu Beginn etwa Caroline Böhmer, die spätere Frau von August Wilhelm Schlegel, die den Franzosen und den Zielen der Französischen Revolution zujubelte und aufgrund dessen dann mit ihre kleinen Tochter Auguste (und gerade durch eine Affäre zum zweiten Mal schwanger) von den Preußen in die Festung Königstein im Taunus gefangen gehalten wurde.
Empirische und idealistische Experimente
Der 2. Teil stellt dann philosophische (und zum Teil auch physische) Experimente des Kreises vor, der sich als eine Art Lebens- und Arbeitsgemeinschaft im Hause der Schlegels in der Leutragasse in Jena etablierte. Wie gut, dass die Autorin Kartenmaterial aus dem 18. Jahrhundert mitliefert – die Lesenden haben den Stadtplan und das Zueinander der Wohnorte der „Fabelhaften Rebellen“ vor Augen. Die Zusammenkünfte des Kreises werden inhaltlich dargestellt, kein Zitat oder Brief bleibt ohne Angabe von Quellen. Ich habe große Hochachtung von der Arbeit des Zusammentragens, des Sortierens und Ordnens der unsagbar vielen Quellen, das Andreas Wulf sich angetan hat.
In den beiden ersten Kapiteln kann nachvollzogen werden, wie die Parole von Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit sich ins Denken des Jenaer Kreises „eingenistet“ hat. Die logische Folge der „Freiheit“ für jeden und jede ist auch die Möglichkeit des „Ich“-Sagens, der Abwehr von geistigen Übergriffen und des Wagnisses des „sapere aude“, der Ermutigung, selbst zu denken, um sich von der selbst verschuldeten (aber auch fremdverschuldeten) Unmündigkeit zu befreien, wie es Immanuel Kant in der Definition des Begriffs „Aufklärung“ beschrieb. All das, um in diesen Wagnissen eine Entscheidung zu treffen, die die „romantische“ Entscheidung ist: Welche Rolle spielt die Natur, spielt das Ich in und mit der Natur, in und mit der Mit-Welt? Wie sieht die Verbundenheit von beidem aus – oder ist es ein (wie auch immer zu fassendes) Gegenüber?
Geglückte und misslingende Verbindungen
Im 3. Teil schildert Andrea Wulf die verschiedenen Verbindungen der Mitglieder des Jenaer Kreises untereinander. Einige standen sich näher, andere diskutieren konträr. Man weiß nicht recht, ob es Neid, Eifersucht, Konkurrenz oder Gedankennähe ist, die die „Rebellen“ mal mehr zueinander hin-, mal mehr voneinander weg- oder sogar ganz auseinanderführt. Das ging soweit, dass es zur frei gelebten offenen Beziehung (im Hause August Wilhelm Schlegels) kommt, dann zur Scheidung (unglaublich, was dieses Rechtsgeschäft für Caroline von Schlegel an Voraussetzungen und Bedingungen hatte), und dann zur Wiederverheiratung – Caroline, die ursprüngliche Ehefrau von August Wilhelm Schlegel heißt nun mit vollem Namen Caroline Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel, verh. Schelling – und das am Ende des 18. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite sei die inhaltliche Auseinandersetzung genannt, u.a. zwischen den „Forschenden“, den „Empiristen“ wie Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt und den „Sehenden“, den „Idealisten“, vor allem dem jungen Friedrich von Hardenberg gen. Novalis, der sich auf die Fahnen schrieb, eine neue Religion für Europa zu beschreiben, in der das Gefühl und die Emotionen eine besondere Rolle spielen.
Zersplitterungen
Der 4. Teil beschreibt dann die schleichende Auflösung und den Verfall des Jenaer Kreises über sieben Jahre hinweg. Geistige Entfremdungen gehen einher mit persönlicher Entfremdung zwischen den Denkerinnen und Denkern. Der Druck des bürgerlichen, des kirchlichen und des aristokratischen Umfelds spielten dabei eine Rolle – besonders deutlich wir das an Johann Gottlieb Fichtes Entlassung aus der Jenaer Universität nach einem Atheismus-Vorwurf. Oder ein anderes Beispiel: Dorothea Veit, die Tochter des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, war Lebensgefährtin von und später Ehefrau von Friedrich Schlegel. Durch ein jüdisches Rabbinatsgericht wurde ihre Ehe mit Simon Veit unter einem Katalog von Auflagen geschieden, sodass ein Zusammenleben mit Friedrich und den anderen aus dem Jenaer Kreis in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft nur unter Beachtung dieser Auflagen – z.B. Aufgabe des Sorgerechtes für ihr Kind, Meidung des ehemaligen Wohnortes Berlin usw. möglich wurde. Die „gedachte Größe“ des Ich erfährt seine Grenzen durch die „institutionellen Größen“ des Bürgertums, der Kirche und des Adels.
Doch die Gräben zwischen den „Fabelhaften Rebellen“ wurden zu tief. Der Jenaer Kreis löste sich auf. Zum einen war es Napoleon und die näherkommende Gefahr für Leib und Leben, zum anderen aber – und vielleicht viel stärker – die Erkenntnis, nicht mehr miteinander „zu können“, zu viel erlebte Kränkung und inhaltliche Spaltung stand dagegen. Geistig öffneten die letzten sieben Jahre nie geglaubte Horizonte, menschlich waren diese Horizonte kaum einholbar, sowohl für einzelne, erst recht für den Kreis als Ganzen.
Spätestens mit der Schlacht um Jena im Oktober 1806 blieb kaum ein Stein auf dem anderen, sowohl in Jena als auch im Jenaer Kreis. Standen die Herzen und vor allem der Verstand der „Fabelhaften Rebellen“ seit 1794 in Flammen, so brannte jetzt die Stadt, die Universität und die Orte, an denen die Rebellen gelebt und gearbeitet hatten, und so kam in den Flammen des Geistes und der Biografien der einzelnen die Gesamtheit des Kreises um. Ihr Vermächtnis blieb!
Epilog – oder: wohin es wen verschlagen hat
Großartig fasst Andrea Wulf im dreißigseitigen Epilog zusammen, was aus den „Fabelhaften Rebellen“ nach dem Angriff der napoleonischen Truppen im Oktober 1806 geworden ist. Von Jena ging es ins für die einen nahe Weimar, für andere auch ins weit entfernte Köln oder nach Paris. Jeder und jede der Denkerinnen und Denker spann die eigene Spur des Nachdenkens über das „ich“ auf seine, auf ihre eigene Weise weiter.
Und Andrea Wulf nimmt die Lesenden mit. In die Biografien der Heldinnen und Helden ihres Buchs, in die Gedankenwelt, in das Jena des späten 18. Jahrhunderts – und setzt sie auf die Spur des Nachdenkens über das „Ich“, sei es das eigene Ich, sei es das Ich eines anderen oder eines Ich – ja, das gibt es auch, – das zwar nicht-personal ist, aber vom ich als personales Gegenüber gedacht werden kann, z.B. Natur, Poesie, Geschichte.
Wem ich das Buch gerne schenken würde
Ganz klar, zuerst allen Rationalisten und Idealisten, die meinen, nach Kant müsse nichts mehr kommen! Ich habe nichts gegen das Denken, wirklich nicht – aber die frühen Romantiker machen klar, dass das Denken eine Umarmung, eine Ummantelung, einen Horizont braucht, und sie setzen auf den Begriff der Natur – allerdings ohne ihn genau zu fassen. Poesie kann für sie ein Weg dahin sein.
Dann würde ich das Buch gern denen schenken, denen im Oberstufenunterricht Goethes „Faust“ oder die „Hymnen an die Nacht“ des Novalis (sorry) versaut wurden! Achtzehn ist kein Alter für solche Worte und Gedanken! Es sei denn, man hätte das Hintergrundwissen der „Fabelhaften Rebellen“. Dann kann es Freude machen, in jungen Jahren in den Versen die Auseinandersetzung um das „ich“ bzw. das Ringen des „Ich“ mit dem eigenen Leben zu vergleichen. Ich bin sicher: Irgendwann im Leben holt einen das ein!
Und schenken würde ich es schlichtweg gerne allen, die mit Freude die Wege der Ideengeschichte der Philosophie nachvollziehen wollen. Wissend, dass man Andrea Wulf vielleicht besser nicht in einer Facharbeit im Fach Philosophie zitieren sollte, ist mir dieses Mitgenommen-sein und dieses Anteilhaben an den Entdeckungen, die sie gemacht hat, deutlich lieber als ein philosophischer Fachartikel und eine Disputation darüber. Der Artikel kann vielleicht das Hirn und den Verstand sättigen, Andrea Wulf sättigt das Hirn (wenn auch anders), aber zusätzlich sättigt sie das Herz und das Verlangen nach Anschauung. Ob sie auch so etwas wie eine „Fabelhafte Rebellin“ ist?
Köln, 29.11.2022
Harald Klein