Freude an Sprache
„Treffen sich zwei mit Freude an Sprache
treffen sich, lesen sich vor,
lassen sich berühren vom Wort
und …“
Nein, da fehlt nichts, zumindest nichts von uns beiden Autoren. Den letzten Satz können nur Sie ins Wort bringen, besser: Den letzten Satz können nur Sie gebären, nur Sie können ihn ins Leben holen und ihm Leben geben.
Wir beide haben Freude an Sprache. Keiner fährt irgendwohin, ohne nicht ein „gutes Buch“ mitzunehmen. Die Lyrik hat es uns beiden angetan. Als Kölner kommen wir da an Hilde Domin nicht vorbei, die hier in der Riehler Straße nahe dem Ebertplatz geboren wurde. Aber ins benachbarte Düsseldorf zieht es uns auch – zumindest, was die Lyrik angeht. Rose Ausländer (1901-1988) kam 1965 nach vielen anderen Stationen ihres Lebens nach Düsseldorf, zog 1972 in das Nelly-Sachs-Haus, das Altenheim der Jüdischen Gemeinde. Beide sind wir fasziniert von Rose Ausländers Entschluss, nach einem Oberschenkelhalsbruch ab 1977 ihr Zimmer nicht mehr zu verlassen, um sich mit allem, was sie ausmachte, auf das Schreiben zu konzentrieren. In den folgenden elf Jahren entwickelte Rose Ausländer in ihrer selbstgewählten „Klausur“ eine unglaubliche Produktivität. Im Fischer-Verlag ist eine gebundene Gesamtausgabe ihrer Gedichte in acht Bänden editiert.
Unsere Sterne
Ein Gedicht berührt uns beide besonders, es erschien 1976 und trägt den Titel „Unsere Sterne“[1]:
Um den Atemmond
namenlose erleuchtete Sterne
Unsere irdischen Sterne
Brot Wort und
Umarmung
Wir sind freudig angetan vom Dreischritt am Ende: Brot, Wort und Umarmung. Ist es doch eine Umschreibung für Freundschaft, für Gefährtenschaft. Genau das erleben wir in den Kreisen, in denen wir freundschaftlich und als Gefährten unterwegs sind. Und wir geben Brot, Wort und Umarmung weiter über den eigenen Kreis hinaus. Wir möchten es Ihnen überlassen, Bilder, Situationen, Menschen vor Ihrem geistigen Auge zu haben, die Sie – „Sie“ als Subjekt und als Objekt – mit Brot, Wort und Umarmung verbinden bzw. andere mit Ihnen verbinden können.
Der „Atemmond“
Fragend angetan sind wir vom Bild des „Atemmondes“. Was mag Rose Ausländer da gesehen haben, was mag sie mit diesem Bild verbinden – und was verbinden Sie damit?
Uns fällt auf, dass die Vokabel „Atem“ als Bild, als Metapher häufig bei Rose Ausländer vorkommt. „Mein Atem heißt Jetzt“ oder „Im Atemhaus wohnen“ sind zwei Titel von Gedichtsammlungen, die im Jahr 1981 erschienen sind. 1983 erscheint „So sicher atmet nur der Tod“. Rose Ausländer ist im jüdischen Glauben erzogen, unser Wort „Atem“ entspricht dem hebräischen „Ruach“, das auch so viel wie „Geist“ heißt, prominent im Juden- wie im Christentum als Gottes Geist, der nicht nur über dem Wasser, sondern auch über dem Tohuwabohu, dem Ur-Chaos schwebt. So wird aus dem „Atemmond“ so etwas wie ein „Nachtgeist“, ein Geist, der nicht von sich aus oder aus sich heraus strahlt – als „Sonne“, sondern vom Licht eines anderen zu Strahlen kommt und dieses Licht eines anderen auch weitergibt – vergleichbar mit dem Mond. (Lohnend, auch über die „Geistnacht“ nachzudenken, aber das sprengte den Rahmen.) Da gibt es kaum Beziehung zwischen dem „Atemmond“ und den „namenlosen erleuchteten Sternen“. Abgesetzt, Unterschieden davon – mit Leerzeile und großem ersten Buchstaben in der dritten Zeile – unsere Sterne / Brot Wort und / Umarmung. Schon das „unsere“ stiftet Beziehung zwischen mindestens Zweien. Und das Sternenlicht kann bei Nacht wie bei Tag Geltung haben, ersehnt sein: Brot, Wort, Umarmung. Der Theologe mag sagen, das Gedicht habe seinen Sitz im Leben in der gelebten Gefährtenschaft. Der Sozialarbeiter in uns beiden sagt: Hier wird in verdichteter, knapper Form Freundschaft, Beziehung, Gefährtenschaft beschrieben.
Was predigen in Zeiten der Pandemie?
Und noch einen Schritt weiter wollen wir gehen. In der Frage, was predigen in der Pandemie, wo so Vieles zurückgefahren ist und gelähmt scheint, wie Ostern feiern in einer Situation von Kirche, die einen Übergang vom Karfreitag zum Ostermorgen wirklich nur noch erhoffen und erbeten kann? Wir wollen es wagen, dieses knappe Gedicht von Rose Ausländer als Schlüssel für ein Zugehen, für einen Zugang zu den Gottesdiensten an Palmsonntag, an Gründonnerstag, an Karfreitag und an Ostern zu befragen. In Köln heißt es, man könne vor Ende April nicht mehr aus der Kirche austreten, es gäbe keine Termine mehr beim Amtsgericht. Vielleicht braucht es anderes Brot als die kleine Oblate, andere Worte als die der Psalmen, der althergebrachten Gebete, und andere Formen von Umarmungen als den Händedruck beim Friedensgruß (wenn denn wenigstens der wieder möglich wäre). An die Stelle der „namenlosen Erleuchteten“ braucht es ein „Wir“ in vielen Formen, das (vom) Brot, (vom) Wort und (von der) Umarmung lebt.
Köln 26.03.2021
Harald Klein
[1] In: Ausländer, Rose (1992): Gelassen atmet der Tag. Gedichte, Frankfurt/Main, 50.