Letzter sein – und ein billiger Trost?
In meiner Schulzeit war mir kaum ein Tag so verhasst wie der, an dem die vermaledeiten „Bundesjugendspiele“ stattfanden. Da bekam das „Sportler-Ich“ in mir, sofern es das gab, sogar beurkundet, was mir sonst in jeder Sportstunde schmerzhaft und sichtbar für alle bewusst wurde: Sport ist nun so gar nicht meines! Bei der Zusammenstellung der Mannschaften immer bei den Letzten, wenn nicht gar der Letzte zu sein, der dann eben noch „gewählt“ werden muss – das kratzt in der Pubertät und vor den Augen aller doch ganz schön am Ego. Und kein Religionsunterricht der Welt kann da mit einem Jesuswort trösten, das heute am Ende des Evangeliums steht: „Und siehe, da sind Letzte, die werden Erste sein, und Erste, die werden Letzte sein“ (Lk 13,30). Das klingt wie Aufrechnen und Abwägen, worin ich vielleicht doch einfach besser bin als dieser oder jener, als diese oder jene. Vergleichen ist nur ein billiger Trost, und den Schmerz im Vergleichen des „Letzten“ mit denen, die jetzt und hier die „Ersten“ sind, wird dadurch auch nicht besser. Von der freien Journalistin Jessica Wittman-Naun stammt ein Satz, der diese schmerzhafte Situation aufzulösen vermag: „Der Vergleich ist immer der Tod für das eigene Glück.“[1]
ist nicht der erhobene Zeigefinger,
sondern die ausgestreckte Hand.
Und die zu sein, was Jesu ganzes Anliegen. «
Es geht Jesus um die Gottesherrschaft
Mag sein, dass das Wort Jesu von den „Ersten“ und den „Letzten“ oberflächlich in den Vergleich zwischen mir und dem einen und mir und der anderen führt. Mag sein, dass es ein Ranking jenseits aller Leistung gibt: „Der ist für mich von der Stimme, vom Aussehen der Erste, der ist irgendwo dazwischen, aber die, die ist doch die Letzte!“ Wer so denkt, erinnere sich an Jessica Wittman-Naun: „Der Vergleich ist immer der Tod für das eigene Glück.“
Was viel wichtiger ist: In diesem Jesuswort geht es nicht – oder nur peripher – um die Herrschaft, um ein Ranking von Menschen unter- buw. übereinander. Es geht um die Frage nach der Welt und wie sie aussieht, wenn Gott und sein Wille die Herrschaft über sie gewinnt. Was Jesus als den Inhalt der ‚Gottesherrschaft‘ begreift. Da gelten auf einmal andere Kategorien, als du sie sogar in der Religion oder in den Religionen vorfindest. Eugen Drewermann schreibt dazu:
„Die Gegensätzlichkeit der Sphäre Gottes und der Welt der Menschen verläuft für ihn gerade nicht entlang der moralisch-rechtlichen Demarkationslinie von Gut und Böse. […]. Statt dessen besteht der wirkliche Kontrast zwischen der Sphäre Gottes und der Welt der Menschen in der Sicht Jesu in dem Gegensatz von Gnade und Gnadenlosigkeit, von Mitleid und Mitleidlosigkeit, von Verständnis und Verständnislosigkeit, und die ‚Umkehr‘, die er verlangt, beginnt […] als erstes mit einer radikalen ‚Entethisierung‘ und ‚Entjuridisierung‘ des Gottesbildes: einzig Güte und Menschlichkeit bilden die Quelle des sittlich Guten im Menschen, beide aber lassen sich weder gesetzlich verordnen noch mit äußerer Gewalt erzwingen; sie müssen wachsen dürfen in dem milden Licht sanfter Geduld und mitfühlender Begleitung, wie einzig Gott sie gewährt.“[2]
Wenn es in der Frage nach dem Reich Gottes und nach Gottes Herrschaft so etwas wie ein Ranking gibt, spielt es sich nach Drewermann ab zwischen den Antipoden von Gnade und Gnadenlosigkeit, von Mitleid und Mitleidlosigkeit, von Verständnis und Verständnislosigkeit – und all dem gehen „Entethisierung“ und „Entjuridisierung“ des Gottesbildes voraus. Was sind das für deutliche, für mahnende und für zurechtrückende Ansagen!
Von Osten und Westen, von Norden und Süden
Heute könnten die Theologen sagen, Jesus habe damals schon die Weltkirche im Blick gehabt. Diese Gottesherrschaft vergleicht Jesus mit einem universalen Hochzeitsmahl, einem Bild, das schon 600 Jahr v.Chr. der Prophet Jesaja für die Königsherrschaft Gottes kannte. Der Evangelist Lukas greift es auf und lässt Jesus sagen: „Und sie werden von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen. Und siehe, da sind Letzte, die werden Erste sein, und da sind Erste, die werden Letzte sein“ (Lk 13,29f). Das ist jetzt fast wie damals beim Sportunterricht: Erste und Letzte sitzen an einem Tisch, an einer Schul-, nicht Hochzeitstafel. Aber was können sie unter der Herrschaft Gottes tun, wenn sie sich nicht vergleichen wollen? Ist doch der Vergleich immer der Tod für das eigene Glück.
Jetzt warnt Eugen Drewermann vor dem Vergleich an der Hochzeitstafel warnt: „Jesus beschreibt die Gottesherrschaft im Bild der „Hochzeitsfeier (vgl. Lk 12,35-38), zu der zu kommen alle Menschen überall auf der Erde aufgerufen sind. Nur so lässt sich im Sinne Jesu sprechen von den dem ‚Königtum Gottes‘ (13,29). Es besteht eben nicht in der sieghaften Durchsetzung eines ‚auserwählten Volkes‘ gegen alle anderen Völker oder in der Dominanz einer bestimmten Religion als der allein-seligmachenden gegenüber allen anderen religiösen Überzeugungen; es besteht allein in der Vermenschlichung aller Menschen, in der Evidenz des Humanen quer durch alle Sondermeinungen; und um zu einer solchen Unabhängigkeit und Freiheit zu gelangen, gilt es, die alten vorgefertigten Schablonen innerhalb der theologischen Tradition des jeweiligen religiösen Bezugssystems buchstäblich ‚um Gottes willen‘ fahren zu lassen, damit endlich Gottes Wille grenzenlos und unverfälscht vor aller Augen treten möge.“[3]
Stell dir das mal vor: ein Tisch, eine Klasse, eine Stadt mit Menschen aus Ost und West, aus Süd und Nord, und kein Vergleichen – worin auch immer! Keine Erste, kein Letzter. Mich erinnert das an die Antwort des vierjährigen Niclas auf die Frage, ob da auch Ausländer im Kindergarten sind – falls du es nicht kennst, schau es dir unbedingt an![4]
wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. «
Gottes Wille tritt vor die Augen aller!
Just heute früh sprach Nicole Richter, Pädagogin und Fachjournalistin, in „Kirche in WDR2“ über das zweite wichtige Gebot Jesu in der Bibel: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Als hätte sie den bunten Tisch vom Hochzeitsmahl Gottes – nennen wir ihn auch mal „Kirche“ – im Blick, fragt sie nach denen, die du vielleicht als die/den Letzte(n)bezeichnen würdest. Neben denen, die für dich zu den „Ersten“ in deinem Leben gehören, fragt Nicole Richter: „Doch was ist mit dem nervigen Nachbarn, der seine Musik jeden Abend zu laut aufdreht? Oder die Freundin, die mit ihren Beziehungsproblemen jedes Gespräch dominiert? Was ist mit dem Kollegen, der immer die Welt erklärt, obwohl es keine hören will?“[5]
Fünf Gründe, warum auch „Letzte“ wertvoll für dich sein können
Und dann erzählt sie von Laura Malina Seiler, Bestsellerautorin, Coachin und Podcasterin,[6] die fünf Gründe nennt, warum uns Menschen (wie) begegnen können
„Grund Eins: Menschen als Stoppschild. Manche Menschen halten uns auf, hindern uns daran schneller weiterzukommen als uns lieb ist. Vielleicht schenken sie uns eine Pause. Geben Zeit, Dinge nochmal zu überdenken, durchzuatmen und dienen dem eigenen Wachstum.
Grund Zwei: Sie geben uns eine Lernaufgabe. Sie triggern uns, zeigen uns die eigenen inneren Baustellen. Die Punkte, auf die wir noch einmal genauer schauen sollten. Sie sind Lehrmeisterinnen und führen uns vielleicht zu einer tieferen Erkenntnis.
Grund Drei: Manche Menschen sind Engel. Sie erinnern uns daran, auch uns selbst zu lieben, unsere eigene beste Freundin zu sein. Sie begegnen uns und zeigen uns, dass es mehr gibt als dies.
Grund Vier: Menschen können auch einen neuen Weg weisen. Sie offenbaren, was wir vermissen, wonach wir uns sehnen. Sie machen uns durch ihre Präsenz Mut, diesen Weg auch zu gehen.
Grund Fünf: Manche Menschen sind tiefer mit uns verbunden. Sie gehen mit uns durchs Leben, wir meistern gemeinsam die eigenen Höhen und Tiefen. Sie sind ein Teil von uns und erinnern uns daran, wer wir sind, wenn wir es gerade mal vergessen haben.“[7]
Einnorden für das Reich Gottes kannst nur du dich selbst
Im Reich Gottes hört alles Werten und Vergleichende auf! Deutung ist gefragt. Es geht darum, dass du die Herrschaft Gottes über dich und dein Leben annimmst, dass du es „unvergleichbar“ tust, weil es um die Weise geht, in der dudieser Herrschaft in deinem Leben Ausdruck verleihst. Es mag in der Politik, in der Kirche, in den Religionen um „Mehrheiten“ gehen, um Gebote und Verbote – im Reich Gottes geht es um Gnade anstelle von Gnadenlosigkeit, umVerständnis anstelle von Verständnislosigkeit, um Mitleid anstelle von Mitleidlosigkeit. Entethisierung und Entjuridisierung sind nach Drewermann der Weg, auf dem du dem Vergleichen, dem Erster oder Letzter sein, entkommst. Es geht in der Nachfolge Jesu, in der Herrschaft Gottes – wie in jeder anderen Religion bzw. Spiritualität auch – zuerst um dich. Wenn Jesus sagt „Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen“ (Lk 13,24),dann geht es nicht um das Drängeln – wie früher nach der Sportstunde beim Schulbus! Aber es geht um die Tür, die genau passend für dich, und nur für dich ist. Dich Einnorden für das Reich Gottes kannst nur du allein, und es begegnen dir Menschen, „Erste“ und „Letzte“, von, mit und an denen du dieses Einordnen lernen kannst. Lebenslang!
Treffend mag Eugen Drewermann schließen: „Die Gottesherrschaft ist keine politische Größe. Politisch ist es von höchster Bedeutung, die Mehrheit der Bevölkerung dahin zu manipulieren, dass die eigenen Absichten von der Masse mitgetragen werden; für ‚richtig‘ wird gehalten, was von den meisten als ‚richtig‘ unterstützt wird; für ‚wahr‘ wird gehalten, was sich im Sinne von ‚durchsetzbar‘ bewährt. Ganz anders verhält es sich – wie gar nicht oft genug betont werden kann – im Bereich des Religiösen. Hier kann durchaus, wie gerade das Beispiel der Propheten Israels zeigt, der Fall eintreten, dass die Wahrheit Gestalt gewinnt in der Person eines Einzelnen, während alle anderen in der Verkehrtheit des Allgemeinen Unterschlupf suchen, so dass Widerspruch weit eher als Zuspruch für ein Wahrheitskriterium des Göttlichen zu halten ist.“[8]
So viel für heute – und für diese Woche.
Köln, 22.08.2025
Harald Klein
[1] Vgl. [online] https://www.welt.de/iconist/partnerschaft/plus241395777/Psychologie-Der-Vergleich-ist-immer-der-Tod-fuer-das-eigene-Glueck.html[22.08.2025]
[2] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 132f.
[3] a.a.O., 150f.
[4] vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=TjsI5EkDZCU [22.08.2015]
[5] vgl. [online] https://www.kirche-im-wdr.de/startseite?tx_krrprogram_pi1%5Bformatstation%5D=2&tx_krrprvgram_pi1%5Bprogramuid%5D=100309&cHash=985033a6c4bccc308dc04fdff4816ab0[22.08.2025]
[6] vgl. [online] https://www.youtube.com/@laura.malina.seiler [22.08.2025|
[7] vgl. Anm. 6.
[8] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 141f.