06. Sonntag der Osterzeit – Der Dreischritt Jesu, oder: „Draußen vor der Tür V“

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Ein Heimkehrer?

Beckmann ist Borchert! Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ ist nicht nur das Flaggschiff der deutschen Trümmerliteratur kurz nach dem Ende des II. Weltkrieges (erschienen 1947), das Stück drückt in seinem Anti-Helden Beckmann vor allem das Lebensgefühl der Männer aus, die mit jungen Jahren in den Krieg gezogen sind und jetzt in ein Land zurückkehren, das sie, die Heimkehrenden, nicht mehr kennen – und das sie, die Heimgekehrten, nicht mehr kennt. Wolfgang Borchert war 24 Jahre alt, als er nach amerikanischer Gefangenschaft von Frankfurt/Main aus zu Fuß nach Hamburg floh, schwer krank, völlig erschöpft. Er ist nicht der Einzige, der solche Wege gegangen ist, äußere Wege, von der Gefangenschaft zurück nach Hause, auf der Suche nach der „Bleibe“, der Wohnung, und innere Wege, auf der Suche nach einer Beheimatung, einem Zuhause, bei und in sich selbst, bei und in einem oder einer anderen. „Draußen vor der Tür“ ist ein Zeugnis des Misslingens dieses Weges, der sein Ziel, seine Ziele verfehlt.

Der Dreischritt Jesu

Den Beckmann vor Augen, die eigenen Wege auf der Suche nach innerer und äußerer Geborgenheit und Beheimatung in Erinnerung, klingen die Worte Jesu aus dem heutigen Evangelium schon stark: „Ich habe Euch dazu bestimmt, dass Ihr Euch aufmacht und Frucht bringt, und dass Eure Frucht bleibt“ (Joh 15,16).

» Wir brauchen ein Standbein für Stabilität und ein Spielbein zum Erobern von Möglichkeitsräumen, für die Entwicklung ins Offene hinein. «
Reckwitz, Andreas (2021): Wir erleben einen Wandel hin zu einer Politik des Negativen, in: Philosophie Magazin 02/2021, Berlin, 53.

„…dass Ihr Euch aufmacht…“: Beckmann kommt im Drama aus Stalingrad zurück, Borchert läuft „nur“ von Frankfurt nach Hamburg. Der Dreischritt Jesu in Joh 15,16 beginnt mit dem „sich aufmachen“. Ich liebe die doppelte Bedeutung dieses Wortes. Es geht um Aufbruch – wieder im doppelten Wortsinn. Um Frucht zu bringen, braucht es ein Losgehen auf dem äußeren Weg, vielleicht von Frankfurt nach Hamburg, wie bei Borchert; es braucht ein Hinter-sich-lassen dessen, was diesem Fruchtbringen im Wege steht, wie dem Wunsch Beckmanns, die Verantwortung für elf von zwanzig Kameraden, die bei einem Einsatz unter Beckmanns Leitung umkamen, dem Oberst zurückzugeben, der beim Abendessen im Kreis der Familie aber davon nichts wissen will. Beckmann muss „seine“ Toten schon mitnehmen. Dann, vor seinem Elternhaus, findet er Frau Kramer, die jetzt im Elternhaus wohnt. Seine Eltern haben sich das Leben genommen, sich auf eigene Weise entnazifiziert, sagt sie. Wieder führt der Aufbruch ins Leere. Der äußere Weg läuft ins Leere, von hier ist keine Frucht zu erhoffen, erst recht keine Frucht, die bleibt. Beckmann bleibt letztlich nur der innere Aufbruch, und Borchert – samt der Heimkehrergeneration – auch. Das Stück zumindest erzählt davon nichts. Und Borchert stirbt 1947, im Jahr der Veröffentlichung von „Draußen vor der Tür“.

» Wir brauchen keine Magie, um unsere Welt zu verwandeln; wir tragen alle Kraft, die wir brauchen, bereits in uns: Wir haben die Kraft, uns Besseres vorzustellen. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 67.

„…und Frucht bringt…“: Zugegeben, „Frucht“ und „fruchtbar leben“ sind mir zwei biblische, zwei neutestamentliche Begriffe, die ich sehr liebe. Dabei geht es mir weniger um einen Dualismus zwischen „Frucht“ und „Unkraut“, sondern um Bedingungen, wie Leben wachsen und gedeihen kann; oder um den Blick darauf, welche Farben und Formen Deine Frucht hat – im Gegensatz zu meiner, um die Freude an Diversität, so könnte man es sozialpädagogisch nennen. Vielleicht ist das in diesen Tagen nach Ostern und vor Pfingsten das Beste, was wir einander tun können: einander Stütze und Halt beim gegenseitigen Wachstum sein. Wolfgang Borchert macht dies in der Figur des „Anderen“ deutlich, der in einer Art Gewissen dem Beckmann immer wieder andere, neue Möglichkeiten aufzeigt, ihn ins Leben rufen will. Mit ihm ringt Beckmann, als dieser Andere ihn auffordert: „Hör doch nicht hin, Du. Die Straße wartet. Beckmann, komm!“[1] Aber Beckmann verzweifelt an dem, was er erlebt, an dem, was eben keine Frucht bringt: „Du, Du! Wo geht sie hin, Du? Wo sind wir? Sind wir noch hier? Ist dies noch die alte Erde? Ist uns kein Fell gewachsen, Du? Wächst uns kein Schwanz, kein Raubtiergebiss, keine Kralle? Gehen wir noch auf zwei Beinen? Mensch, Mensch, was für eine Straße bist Du? Wo gehst Du hin? Antworte doch, Du Anderer, Du Jasager! Antworte doch, Du ewiger Antworter!“[2] In dieser Szene des Stückes wird deutlich, dass „Frucht bringen“ den „Aufbruch“ voraussetzt. Und wieder sind es Jesu Worte in Joh 15, die vom „Anderen“, vom Herrn kommen und die den Aufbruch auch in der Dunkelheit des Lebens Beckmanns möglich machen: „Ich habe Euch Freunde – ich habe Dich Freund – genannt“ (Joh 15,15). „Nicht Ihr habt mich, sondern ich habe Euch erwählt“ (Joh 15,16). „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich Euch geliebt“ (Joh 15,9). „Dies trage ich Euch auf, dass Ihr einander liebt“ (Joh 15,17). Lesen Sie es einmal im Singular, auf sich hin, zu Ihnen gesagt. Das sind die Worte des Anderen, des Jasagers, und oft genug brauche ich sie, damit ich Frucht bringen kann.

» Dankbarkeit ist die Schwester der Großzügigkeit. Sie wirkt wie eine Brille, die uns einen klugen Blick auf die Welt ermöglicht. Die Welt ändert sich nicht, aber wie sehen sie mit anderen Augen, wenn wir all die vielen Momente erkennen, in denen uns das Leben beschenkt. «
Mannschatz, Marie (2019): Vollkommen unvollkommen. Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen, München, 25.

„…und dass Eure Frucht bleibt“: Im Hamburg von 1947 ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, in der Biographie Wolfgang Borcherts, die mit 26 Jahren ein jähes Ende fand, mag es nach den Erfahrungen des Krieges nicht anders gewesen sein. Jesus sagt in Joh 15,16. „Nicht Ihr habt mich erwählt, sondern ich habe Euch erwählt und dazu bestimmt, dass Ihr Euch aufmacht und Frucht bringt und dass Eure Frucht bleibt.“ In diesem Dreischritt Jesu gibt es zwei Aktiv- und einen Passiv-Posten. Das Sich-aufmachen und das Frucht-bringen liegt in meiner Verantwortung, in meinem Entschluss, in meinem Handeln. Die Figur des Beckmann zeigt, dass es alles andere als selbstverständlich ist, diese beiden „Aktiv-Posten“ anzugehen. Da muss man nicht ein Beckmann sein, um es verstehen und nachempfinden zu können. Es ist der „Andere“, der „Jasager“ in uns, neben uns, mit uns, der dazu anstiftet. So erwächst Frucht in und durch mein oder Ihr Leben. Und nun kommt der Passiv-Posten: Der Versuch, das, was Frucht trägt, zu halten, für sich zu nutzen, sich dessen zu bedienen, dieser Versuch läuft ins Leere. Das „Halte mich nicht fest“ des Auferstandenen zu Maria Magdalena ist ein Osterzeugnis dafür, auch die kommende Himmelfahrt Jesu. Die Frucht ist gesetzt, jetzt kann der „große Gärtner“ (vgl. das entsprechende Bild von Emil Nolde) die Früchte sich selbst überlassen – gestärkt, und das ist Pfingsten – durch das Ja des Heiligen Geistes. Die Frucht, die so gewachsen ist, bleibt, aber sie verändert sich, sie mutiert – im besten Sinne immer mehr dem Herrn entgegen.

» Wo gehen wir denn hin?
Immer nach Hause. «
Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Berlin, 1802, [online] https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_ofterdingen_1802?p=369 [08.05.2021]

Ein Heimkehrer!

Ich bin dankbar, nicht in der Rolle des Beckmanns  „Draußen vor der Tür“ leben zu müssen – im Untertitel schreibt Borchert ja: „Ein Stück, dass kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“. Ich bin dankbar, dass ich nicht das Schicksal des Kriegsheimkehrers Wolfgang Borchert teilen muss. Und ich bin dankbar, dass ein Stück, sein Protagonist und die anderen Figuren eine Art Folie sind, auf der ich in diesem Jahr Ostern lernen und deuten kann. Der Dreischritt Jesu „sich aufmachen“, „Frucht bringen“, „Frucht bleiben lassen“ ist je und je ein weiterer Schritt einer inneren Heimkehr. Mit Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801), genannt Novalis, frage ich mich selbst und kann mich fragen lassen: „Wo gehen wir denn hin?“ und höre des Novalis‘ Antwort: „Immer nach Hause.“[3]

Amen.

Köln 08.05.2021
Harald Klein

[1] Borchert, Wolfgang (2018): Draußen vor der Tür, als E-Book hrsg. von Gerald Hermann Monnheim, veröffentlich bei Epubli, 41.

[2] ebd.

[3] Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Berlin, 1802, [online] https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_ofterdingen_1802?p=369[08.05.2021]