Um was es geht
Am heutigen 148. Geburtstag von Hermann Hesse möchte ich von einem Projekt im Freundeskreis erzählen. In der ersten Jahreshälfte habe ich die 800seitige Ausgabe der Gedichte von Hermann Hesse, hrsg. bei Suhrkamp von Volker Michels (4. Aufl. 1997) Stück für Stück gelesen.
Mein erkenntnisleitendes Interesse war, ob in den Gedichten vor allem des jungen Hesse Metaphern, Zu- oder Beschreibungen zu finden sind, die bei jungen Erwachsenen etwa im Alter von 24-35 Jahren etwas zum Klingen bringen, ein Echo hervorrufen, eine Sehnsucht wecken können. Oder anders: Können Texte, die seitens des Verfassers sehr persönlich geschrieben sind und die ursprünglich auf Publikum verzichten wollten, dabei teils über 100 Jahre alt sind, das überhaupt noch leisten? Und dann: wenn ja, wie oder warum?
Bei gemeinsamen Wanderungen mit den jungen erwachsenen in meinem Lebensumfeld, bei Generationen übergreifenden Treffen über Zoom möchte ich gerne vor allem mit den jüngeren, aber genauso gerne auch darüber hinaus über mögliche Gedichte, die genau das leisten, ins Gespräch kommen.
Ich habe dazu ein 16seitiges PDF-Dokument erstellt, das nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt ist. Es umfasst eben die Gedichte, von denen ich glaube, dass sie Möglichkeiten eröffnen, die ich oben beschrieben habe. Denen, die ein Interesse an dieser Art des Austauschs haben, stelle ich das Dokument gerne zur Verfügung. Schreiben Sie mich an: harald.klein@koeln.de.
Impulse für einen Austausch
Als ein Beispiel mag Hesses Gedicht DIE ERWARTETE POSTKARTE (1927) dienen. Ich lese in diesem Gedicht Hesses Sehnsucht nach einem persönlichen Angesprochen-, besser: Angeschriebensein heraus. In allem Engagement im Briefschreiben – die Zahl von 40.000 und mehr Briefen Hesses wird oft genannt – ist er der Antwortende, aber wie gerne wäre er der Empfänger, der als Mensch, als Freund und Gefährte angesprochen und gemeint ist. – Die deskriptiveEbene: Dass junge Menschen diese Sehnsucht kennen, setze ich als gegeben voraus. Die optionale Ebene: was tun sie selbst dafür, die Menschen um sich herum in dieser Weise anzusprechen? Kann die Mail, die SMS oder ein Post in den Sozialen Netzwerken dies erreichen? Die voluntative Ebene: Was möchte ich ausprobieren – auf andere hin, auf mich selber hin?
Ich bin sicher, dass ein Austausch darüber – nicht nur mit jungen Erwachsenen – sehr fruchtbar sein kann. -Und hier ist das Gedicht:
DIE ERWARTETE POSTKARTE
Das Schreiben so im Liegen fällt mir schwer,
Der Rücken ist schwach, und die Gicht in den Fingern brennt sehr,
Oft kann ich das Schreibzeug nicht mehr halten.
Dennoch hab ich den meisten meiner lieben
Freunde irgendeinen kleinen Gruß geschrieben,
Ein Gedicht geschickt, mit einem Witz sie unterhalten,
Mitgeteilt, wie schäbig ich da im Krankenbett liege
Tag um Tag, allein, und all die langen Nächte.
„Vielleicht“, dachte ich, „dass auch ich eine Postkarte kriege,
Ein freundliches Wort, das etwas Trost und Wärme mir brächte.
Jeden Tag bringt die Post mir viele Briefe ins Haus
Von fremden Menschen, die irgendwas wollen,
Auf die ich pfeife. Aber die Freundespostkarte bleibt aus,
Ich hätte nicht auf sie warten sollen!
Meine Freunde haben zwar keine Gicht,
Eine Karte zu schreiben – für mich das Werk einer mühsamen Stunde –
Wäre nichts für sie – , doch die Karte kommt nicht.
Meine Freunde haben Frauen, haben Kinder, Katzen und Hunde,
Kennen alle das lange Alleinsein nicht.
Jeder von ihnen wäre (theoretisch) bereit,
Sein letztes Stück Brot mit mir zu teilen,
Oder tieftrauernd zu meinem Begräbnis zu eilen,
Aber für eine Postkarte hat keiner Zeit.
Und so liege ich Woche um Woche, und neben mir
Liegt mein bester Freund, das liebe weiße Papier,
Lächelt mich an und hat immer Zeit,
Ist immer, in allen Nächten und Tagen,
Zu unendlichen Spielen für mich bereit,
Und so darf ich mich eigentlich nicht beklagen.
Hermann Hesse (1997): Gedichte, hrsg. von Volker Michels, 4. Aufl., 562.