07. Sonntag der Osterzeit – Stehen zwischen Abbruch und Aufbruch, oder: „Draußen vor der Tür VII“

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Ein „ehrlicher Sonntag“

Zugegeben, dieser Sonntag ist einer von denjenigen, auf den ich mich Jahr für Jahr besonders freue. Und zwar deswegen, weil er so ein ehrlicher Sonntag ist. Er ist anders als z.B. der Sonntag der Barmherzigkeit, der liturgisch mit einem Ablass versehen wird und liturgisch betend an die Barmherzigkeit Gottes und die daraus eigentlich resultierende Barmherzigkeit seiner „Kinder“ erinnert. Er ist anders als der Sonntag der Weltmission, der versucht, ein weltkirchliches Bewusstsein neu zu wecken bzw. zu fördern. Er ist anders als ein Sonntag vom guten Hirten, der zum Weltgebetstag für geistliche Berufe mutiert. Der Sonntag zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten erinnert an nichts, will nichts neu wecken oder fördern, mutiert nicht auf ein bestimmtes Ziel oder Anliegen hin. Nein, er ist „ehrlich“! Er bildet schon allein durch sein Stehen zwischen Christi Himmelfahrt – einem Abbruch – und dem Pfingstfest – einem Aufbruch – genau ab, wo ich, wo wir, wo Gesellschaft, Politik und Kirche immer stehen. Wir stehen immer, wirklich immer zwischen Abbruch und Aufbruch.

Die Nagelprobe

Prüfen Sie es ruhig mal nach. Schnell kommen Situationen in den Sinn, wo es um „Abbruch“ geht, auch wenn es nur ein Wollen ist. Das sind dann so Gedanken wie „Eigentlich will ich nicht mehr…“ oder positiv: „Eigentlich würde ich gerne…“. Was lässt Sie zögern? Oder vielleicht: Wer lässt Sie zögern? Was oder wer hindert am Abbruch?

Prüfen Sie Ihre Aufbrüche – Sie erinnern sich: Wir sind von Christus dazu bestimmt, dass wir uns aufmachen und Frucht bringen, und dass unsere Frucht bleibt. So hieß es letzten Sonntag. Sich aufmachen kann auch als anderes Wort für den Aufbruch genommen werden. Welche Aufbrüche aus den letzten Tagen, Wochen, Monaten kommen Ihnen in den Sinn?

Am Ufer stehen

In Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ können Sie drei und einen halben Aufbruch erkennen. Der ersteAufbruch: Aus der dreijährigen russischen Gefangenschaft in Stalingrad bricht Beckmann zu Fuß auf, spricht von „tausend Tagen, tausend sibirischen Nächten“[1], in denen er auf die Tür seines Elternhauses gehofft hat, auf die Liebe seiner Frau, die – so hofft er, wenn auch umsonst – auf ihn wartet. Voller Hoffnung bricht er aus Sibirien, aus der Gefangenschaft auf, in aller Schwäche, die seine Figur auch bezeichnet. Der Aufbruch scheitert an der Wirklichkeit, die Überprüfung der (Nachkriegs-) Realität zerstört seine Hoffnung.

Der zweite Aufbruch: Wenn auch nur im Traum verlässt ihn diese Hoffnung, er stürzt sich in die Elbe, die hart mit ihm ins Gericht geht, die keinen „Abbruch“ gelten lassen will: „Du willst auskneifen, Du Grünschnabel, was? Du glaubst, Du kannst das nicht mehr aushalten, hm? Da oben, wie? Du bildest Dir ein, Du hast schon genug mitgemacht, du kleiner Stift. […] Du Rotznase von einem Selbstmörder. Nein, hörst Du! Glaubst Du etwa, weil Deine Frau nicht mehr mit Dir spielen will, weil Du hinken musst und weil Dein Bauch knurrt, deswegen kannst Du hier bei mir unter den Rock kriechen?“ [2] Am Ende dieses Traums speit die Elbe Beckmann bei Blankenese wieder an Land, Sterben ist nicht – er muss am Leben bleiben.

Der dritte Aufbruch zeigt sich mir am deutlichsten in der dritten Szene des Stücks. Beckmann macht sich auf seinem Oberst, den er beim Abendessen mit der Familie trifft. Der Oberst schickt Beckmann mit einer Gruppe von 20 Soldaten als Spähtrupp in Russland aus; elf der Soldaten verloren bei diesem Einsatz ihr Leben. Beckmann bricht zum Oberst hin auf, um ihm dessen Verantwortung wieder zurückzugeben, um die Last, die Schuld, die ihn drückt, loszuwerden. Er möge nicht so unmännliches Zeug reden, schließlich sei er doch Soldat gewesen, entgegnet Oberst dem Heimkehrer Beckmann.[3] Beckmann verneint. Des Obersts Schwiegersohn: „Wieso nein? Sie haben doch Uniform an!“ (Beckmann – eintönig): „Ja, Sechs Jahre. Aber ich dachte immer, wenn ich zehn Jahre lang die Uniform eines Briefträgers anhabe, deswegen bin ich noch lange kein Briefträger.“[4] In der Uniform des Soldaten bricht Beckmann mit dem „Soldaten“, der er nie war, in dessen Uniform er „nur“ steckte. Es ist die Familie des Obersten, die diesen Abbruch nicht zulässt, die einen Aufbruch, wenn nicht verhindert, so doch erschwert. Zu viel steht wohl für die Familie des Obersten auf dem Spiel.

Bleibt der halbe Aufbruch am Ende des Stückes, das verzweifelte Rufen nach ‚Antwort, das nicht erhört, nicht beantwortet wird. Der Vorhang fällt, von einem Abbruch des Bisherigen, von einem Aufbruch in Neues, von einem Durchbruch in der Geschichte Beckmanns kann keine Rede sein.

Wie Aufbruch gelingen kann

Zerstörte Hoffnung, Aushalten von Weiterleben, das Verhindern von neuer Lebendigkeit durch die Menschen um ihn herum, schließlich das Rufen nach Antworten ins Leere, ins Dunkle hinein – all das sind Faktoren, die alltäglich sind, die zum Leben gehören, und von denen ich schlicht behaupte, dass Sie sie so gut wie ich auch kennen.

Dieser „ehrliche“ Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten steht dafür ein. Wenn man ihn – wie so viele andere Sonntag – verzwecken möchte, würde ich ihn gerne als „Sonntag der Resilienz“ bezeichnen. Sein Ort zwischen Abbruch und Aufbruch zeichnet ihn dafür aus. Und Resilienz steht für die Haltung, die Möglichkeit und die Eigenschaft, Abbrüche zuzulassen und sich zu Aufbrüchen zu bereiten, so, dass es ein Mehr an Leben und Lebendigkeit zur Folge hat.

Neutestamentlich denke ich an die Apostel auf dem Ölberg, die Jesus in einer Art Abbruch gen Himmel haben auffahren sehen. Biographisch oder vom Erleben und Mitgehen her denke ich an die Abbrüche in meinem oder im Leben anderer, was immer sie auch ausgelöst haben mag. Abbrüche sind nie einfach, irgendwas, irgendwer bleibt auf der Strecke. Aber gleich, ob Sie sie angegangen oder ob Sie von Ihnen überfallen wurden, es gibt Schritte und Haltungen, in dieser Situation zwischen Abbruch und Aufbruch zu einem Mehr an Leben und Lebendigkeit zu gelangen. Sozialpsychologie wie Spiritualität kennen sieben Säulen, auf denen solche Aufbrüche ruhen, sie seien Ihnen kurz vorgestellt, mehr mit der Lesung von Christi Himmelfahrt als mit Borchert Stück. Sie werden schnell merken, dass diese sieben Säulen in Borcherts Stück fehlen.

Die sieben Säulen der Resilienz

Zwischen Abbruch und Aufbruch braucht es eine Hinwendung, einen Entschluss, mindestens den Wunsch nach Optimismus, nach der Hoffnung, dass der Abbruch eher ein Umbruch denn ein absolutes Ende bezeichnet. Dieser Optimismus baut auf einen weiten Horizont auf, er kennt mehr als nur eine Blickrichtung („Was schaut ihr zum Himmel?“), er wagt den wendigen und weiten Blick.

Zwischen Abbruch und Aufbruch ist die Akzeptanz angesiedelt, die gelten lassen kann, dass etwas ein Ende hat. Sie schlagen dieses Kapitel aus dem Buch des Lebens zu, mehr erst einmal nicht. Und Sie halten aus, wie die Apostel im Obergemach in Jerusalem, dass etwas zu Ende ist, dass jemand Sie verlassen hat, ohne es schönreden zu wollen.

Irgendwann, hoffentlich nicht zu schnell, wird aus dem Rückblick über das, was nicht mehr war, über die Traurigkeit dessen, dass einer oder eine nicht mehr da ist, die Frage, was nun werden soll. Wenn solch ein Schritt Ausdruck von Lösungsorientierung sein soll, braucht es vier Stufen. Er muss vom „Ich muss“ über ein „Ich soll(te)“ und ein „Ich möchte“ zu einem „Ich werde“ führen. Aus den bloßen Vorsätzen und Idealen will ein Tun, ein Handeln erwachsen. So bahnen sich nicht nur Aufbrüche an, so werden sie gegangen. Denken Sie an Ostern und an des Petrus‘ „Ich gehe fischen“, und die antworten: „Wir kommen auch mit.“

Ein wesentlicher innerer Punkt dabei ist es, die Opferrolle zu verlassen. Wie konnte Jesus uns das antun, uns verlassen? Warum hat er das getan? All diese Fragen bringen nichts, führen nicht wirklich weiter. Aufbruch gelingt, wenn Sie hinter sich lassen, was andere an Ihnen „verschuldet“ haben, wenn Sie aus der Haltung der Passivität in die Aktivität kommen. Die Wege können ganz verschieden sein, manchmal still, manchmal kämpferisch.

Und: Sie müssen dabei die Verantwortung übernehmen für sich, für das, was Ihr Anteil am Abbruch war. Ein kleines Geheimnis des geistlichen Lebens ist, dass nur der „gehen“ kann, der auch „zu sich steht“. Anders ist es ein Humpeln oder Kriechen. Die Apostel tun das in ihrem Obergemach, im Beten, im Wählen eines neuen Apostels, um den Zwölferkreis voll zu bekommen, später in der Apostelgeschichte dann immer wieder in Predigten, vor allem in Zeiten der Gefangenschaft.

Die Hilfe, die Ihnen zuwachsen kann, ist die Netzwerkorientierung, ist das Suchen von Menschen, die Ihnen beim Aufbruch und nach einem Abbruch helfen können. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) prägte dafür den Begriff des „Sozialen Kapitals“. Das mag erst einmal befremdlich klingen, dennoch macht dieser Begriff deutlich, welchen unglaublichen Wert Freundschaften, Beziehungen, welchen unbezahlbaren Wert jegliches Eingebundensein haben kann.

So ausgestattet, können Sie an Ihre Zukunftsplanung gehen, die immer auch einen ersten Schritt braucht. Es mag sein, dass vor dem ersten Schritt eine Wende kommen muss. Dem Abbruch – dem Himmelfahrtserleben der Apostel – drehen Sie den Rücken zu, und Sie wenden sich dem Aufbruch – dem Pfingstfest – zu, von dem Sie erst einmal nur ahnen, dass es kommen kann und hoffentlich kommen wird.

Um es noch einmal zu wiederholen: Für mich ist dieser Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten ein „ehrlichen Sonntag“! Er steht da so ganz einfach zwischen Abbruch und Aufbruch, wie ich, wie Sie. Das tut ja auch mal gut!

Amen.

Köln 16.05.2021
Harald Klein

[1] Borchert, Wolfgang (2018): Draußen vor der Tür, als E-Book hrsg. von Gerald Hermann Monnheim, veröffentlich bei Epubli, 52.

[2] a.a.O., 10f.

[3] a.a.O., 21.

[4] ebd.