Sonntag in der Weihnachtsoktav: „Kind, warum hast Du uns das angetan?“

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„Heilige Familie“ – ein Klärungsversuch

In den drei Lesejahren, die ausschlaggebend für die Sonntagevangelien sind, hält uns die Messtextordnung zwar immer am Sontag nach dem Weihnachtsfest den Spiegel mit der sogenannten „Heiligen Familie“ vor Augen. Aber in jedem Lesejahr werden verschiedene Aspekte dieser „Heiligen Familie“ betont. Im Lesejahr A, das sich der Evangelien aus dem Matthäusevangelium bedient, geht es um den Traum Josefs vom Engel, der ihm die Flucht mit Mutter und Kind nach Ägypten aufträgt, und um die Rückkehr der Familie nach dem Tod des Herodes (Mt 2,13-15.19-23).

Im Lesejahr B, das sich der Evangelien aus dem Markusevangelium bedient, wird auf das Lukasevangelium zurückgegriffen, weil Markus keine Kindheitsgeschichten kennt. Zu Gehör kommt die Begegnung Mariens und Jesu mit dem greisen Simeon und der alten Prophetin Hanna im Tempel (Lk 2,22-40), in der der Erstgeborene dem Herrn geweiht werden soll.

Im gegenwärtigen Lesejahr, dem Lesejahr C, das sich nun regulär der Evangelien aus dem Lukasevangelium bedient, ist das Jesuskind schon herangewachsen und mit seinen Eltern auf eine Pilgerreise nach Jerusalem zum Paschafest unterwegs gewesen. Du kennst die Geschichte: irgendwann unterwegs merken die Eltern, dass das Kind fehle, er sei in Jerusalem geblieben, ohne dass die Eltern es merkten, schreibt Lukas. Und da finden sie ihn, den Zwölfjährigen, im Tempel, mitten unter den Lehrern, ihnen zuhörend und ihnen Fragen stellend, sogar ihnen Antworten gebend, die alle zum Erstaunen bringt, weil sie so verständig waren. Maria und Josef seien voll Staunen gewesen, berichtet der Evangelist, und seine Mutter habe zu ihm gesagt: „Kind, warum hast Du uns das angetan?“

Die drei Evangelien in den drei Lesejahren anschauend, kann doch klar werden, dass „Heilige Familie“ im biblischen Sinne sich eben nicht in durchgehaltenen und tradierten Gewohnheiten, in einem „Weiter-so“ oder einem „wie es war vor aller Zeit“ abspielt, sondern in außergewöhnlichen, sogar in bedrohlichen Situationen sich selbst und erst einmal auch nur für sich als „Heilige Familie“ bezeugt. Es macht die „Heilige Familie“ aus, dass sie angesichts der widrigen Umstände ins Agieren kommt, auf Situationen eben, die außerhalb ihrer selbst gewachsen und geworden sind. Ein Zusammenleben in familiären Strukturen, wie auch immer diese aussehen mögen, durch althergebrachte und in die Gesellschaft hineinzementierte Normen und Verhaltensweisen als „heilig“ zu attribuieren, mag in verschiedenen kirchlichen oder freikirchlichen Kreisen wohl üblich sein, ist aber über die Auswahl der Evangelien und ihrer Hintergründe und Deutungen am Fest der Heiligen Familie alles andere als biblisch! Im Gegenteil: es ist allem Anschein nach das von außen kommende „Außer-Gewöhnliche“ und die die Reaktion darauf, dass diese Dreierkonstellation Jesus – Maria – Josef zur „Heiligen Familie“ macht!

»Die Gefangenen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kultivieren Zerrbilder ihrer realen Lage, deren Veränderung aussichtslos ist, solange das Gefängnis nicht abgerissen wird. «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 209.

Das von außen kommende Außergewöhnliche

In einem Kalenderblatt des „Anderen Advents“, den der in Hamburg sitzende Verein Andere Zeiten e.V. mittlerweile seit 30 Jahren herausgibt, war am 15.12.2024 unter der Überschrift „Mache Dich auf und werde Licht“ ein Satz zu finden, der mir überaus dem Herzen spricht: „Heute nennen wir das, was uns verbindet, Familie.“[1]

Im Nachsinnen über den Satz wird mir deutlich, wie sehr herkömmliche Vorstellungen von und Erwartungen an „Familie“ zerbrechen, aber auch gleichzeitig eine Unmenge von Verhältnissen, in denen „familiaritas“, in denen vertrauter Umgang gelebt, gehalten, durchgetragen wird, neu und anders erwächst. Du weißt, dass mein Wort dafür das der „Gefährtenschaft“ ist.

Zum Bruch solcher Verbindungen i.S.v. einer Wirkung kommt es erst dann, wenn i.S.v. einer Ursache nichts oder kaum etwas Verbindendes mehr gesehen und gemeinsam getragen oder gestaltet wird. Wenn das, was der einen Generation als „Wert“ erscheint, der anderen Generation nicht nur nichts mehr sagt, sondern als „Bedrohung“ erfahren wird. Wenn es keinen Konsens mehr gibt darüber, wofür es sich (früher einmal) zu leben lohnt oder sogar, ob und wie Leben weiterhin (jetzt) noch möglich sein wird. Das Wort Marias „Kind, wie konntest Du uns das antun?“ wird zur Klage, wenn nicht sogar zu An-Klage der älteren Genration auf die jüngere Generation hin.

Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat schon in der frühen Moderne einen Niedergang der Kultur vorhergesagt, der sich in einem sich ausbreitenden Werteverlust ausrückt. Täuschung, Eigennutz, Begierde, so Nietzsche, bekommen im Leben des Einzelnen einen höheren Wert als alles Selbstlose, Wahrhaftige und als ein Einklang mit der Gemeinschaft. Man könnte den König Herodes im Evangelium als einen Vertreter dieser Klasse bezeichnen. Und es wird Dich nicht wundern, dass ich das Leben in der gegenwärtigen Zeit als ein Leben in dem Horizont bezeichne, den Nietzsche vorausgesagt hat. Das Außergewöhnliche kommt auch hier von außen in mein, in Dein Leben, allerdings nicht überraschend, nicht ohne Prophezeiung (wie die des Simeon und die der Hanna), nicht ohne unser eigenes Zutun. Allerdings gibt es einen dramatischen Unterschied: Wir sind verstrickt in dieses unheilvolle Außergewöhnliche, weil wir es als das vertraute und allgemeingültige Gewöhnliche ansahen und es gefördert, weiterentwickelt haben.

» In den Sommermonaten des Jahres 2023, zu Anfang der Ferienzeit, klebten sich Menschen fest auf den Startbahnen verschiedener Flughäfen. Alsbald wurden die Klebeprotestler als ‚Ökoterroristen‘ bezeichnet, und es affichierten Zeitungen mit der Überschrift, nun sein ‚eine rote Linie überschritten‘. Aber die Frage sei erlaubt, wer genau hier diese rote Linie überschritten hatte – die Anklebenden oder die Abhebenden, die Erdverbundenen oder die Davonfliegenden? «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 13.

„Heilige Familie“ – und die rote Linie

Jean-Pierre Wilms attestiert: „Die Gleichzeitigkeit von Erschütterungen und schwerwiegenden Herausforderungen, die allesamt an die Substanz der Lebensweise gehen, also längst in die Regionen unseres Alltags vorgerückt sind, kennzeichnen unsere Gegenwart.“[2]

Das von außen kommende Außergewöhnliche ist quantitativ umschrieben mit einer Vielzahl von internationalen, nationalen und verschränkten Krisen. Es zeigt sich vor allem qualitativ durch eine Lebens- und Überlebensangst angesichts der Klimakatastrophe und der fehlenden Übereinkunft, ihr lebensförderlich zu begegnen, sofern das noch geht. Niedergang der Kultur und gleichzeitig Werteverlust – so beschreibt es Nietzsche 130 Jahr vorher! Das ist der Status quo für die „Heilige Familien“ und die „Heiligen“ im Singular.

„Heute nennen wir da, was uns verbindet, Familie“, schreibt Christiane Langrock-Kögel im „Anderen Advent“ (vgl. Anm. 1). Nietzsche als Lehrer für die „Heiligkeit“ von Familien heranzuziehen, ihn, der seine „Gott-ist-tot“-Lehre in die Welt geschrieben hat, kann nur heißen, angesichts der Krisen und in dem von außen kommenden Außergewöhnlichen eine passende Lebenskultur und die passenden Werte dazu zu formulieren, einzuüben, zu leben.

Es macht die Unsicherheit nicht leichter, wenn dann Dir und mir lieb gewonnene Werte keine Anerkennung mehr finden, vielleicht sogar sanktioniert werden. Es macht die Unsicherheit auch nicht leichter, wenn Selbstverständliches, wenn politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich Hochgehaltenes plötzlich vom Thron fällt.

Noch einmal Jean-Pierre Wils, ich gebe zu, es ist mein liebstes Zitat in seinem Buch:

„In den Sommermonaten des Jahres 2023, zu Anfang der Ferienzeit, klebten sich Menschen fest auf den Startbahnen verschiedener Flughäfen. Alsbald wurden die Klebeprotestler als ‚Ökoterroristen‘ bezeichnet, und es affichierten Zeitungen mit der Überschrift, nun sein ‚eine rote Linie überschritten‘. Aber die Frage sei erlaubt, wer genau hier diese rote Linie überschritten hatte – die Anklebenden oder die Abhebenden, die Erdverbundenen oder die Davonfliegenden? Wenn wir den Unterschied zwischen Störungen und Blockaden auf der einen Seite und ‚Terror‘ auf der anderen Seite nivellieren, haben wir jegliches Maß zur Beurteilung der Lage verloren. Gehört unsere Solidarität den – buchstäblich – Erdverbundenen oder den Illusionisten der Lüfte, unser Mitgefühl den Verzweifelten oder den Ignoranten? Von einem ‚Aufstand der Äste gegen den Baum‘[3] sprach C.S. Lewis in seinem Essay ‚Die Abschaffung des Menschen‘ und zielte mit diesem Bild auf die leichtsinnige und verantwortungslose Zerstörung der Grundlagen einer Kultur durch die von ihr zutiefst Abhängigen.“[4]

Jahrzehnte-, ja sogar jahrhundertelang gab (und gibt es noch) es eine „rote Linie“ in Sachen Familie, in Sachen Kritik an den Regierenden, in Sachen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, auch Kirche. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich hoffe, Dir vier Evangeliums-Flöhe ins Ohr zu setzen:

Der erste: „Heute nennen wir das, was uns verbindet, Familie.“[5] Ich lasse mich von der Heiligen Familie anschauen und fragen, mit wem ich mich zusammentue, und warum, und wozu. Mit wem will ich, wem und wie kann ich solidarisch sein? Und wessen „rote Linien“ ich beachten möchte mit den Fragen, wer sie ziehen darf, wer sie zu definieren vermag, wer sie überschritten habe.

Der zweite: Nietzsches „Umwertung aller Werte“ habe ich im Ohr, den Niedergang der Kultur und den Werteverlust habe ich vor Augen, eine Unruhe habe ich im Gefühl. Ich schaue auf Josef und den Engel: Das, was Leben gefährdet, hinter mir lassen, mutig aufbrechen und im Blick haben, wann ich wohin zurückkann, um zu bleiben, um Leben vor Ort zu gestalten, in den Möglichkeiten, die da sind.

Der dritte: Es geht an und es geht um die Freiheit. Und auch hier hole ich mir eine Hoffnung bei Jean-Pierre Wils. Zum Ende der Einführung in sein Buch schreibt er:

„Die Neuordnung unserer Freiheiten hat nämlich nicht zur Folge, dass wir weniger, sondern dass wir anders frei sein werden, vielleicht sogar besser frei, wenn diese Formulierung erlaubt ist. Und es ist ebenso wenig ausgeschlossen, dass wir womöglich sogar glücklicher leben werden.“[6]

Als „Heilige Familie“ womöglich sogar glückliche leben – in dieser Welt, die so ist wie sie (auch durch uns) geworden ist: In diesem Sinne allen Familien und all denen, die in Verbundenheit mit anderen Menschen Familie leben, viel Glück!

Amen.

Köln, 28.12.2024
Harald Klein

[1] Langrock-Kögel, Christiane, Mache Dich auf und werde Licht, in: Andere Zeiten e.V. (2024): Der 30. Andere Advent, Kalenderblatt zum 15.12., Hamburg.

[2] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 9.

[3] vgl. Lewis, C.S. (1979) Die Abschaffung des Menschen, Einsiedeln, 50.

[4] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 13.

[5] vgl. Anm. 1.

[6] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 18.