Sonntag nach Weihnachten 2021 – „Definiere Familie!“

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Auf die Betonung kommt es an

In der Zuordnung der Tage und Daten zu den Festen geschieht in diesem Jahr etwas sehr Besonderes. Der 2. Weihnachtsfeiertag, der Gedenktag des ersten Märtyrers, des hl. Stefanus, wird „verdrängt“ vom Fest der Heiligen Familie, das auf den Sonntag in den acht Tagen nach dem Weihnachtsfest datiert ist. Im Direktorium des Erzbistums Köln, dem Verzeichnis der Gedenktage und der Feste, steht lapidar der Satz: „Das Fest des hl. Stefanus entfällt in diesem Jahr.

Ohne sich auf die Spitzfindigkeiten und Ordnungskriterien der Hochfeste, Feste, der großen und kleinen Gedenktage einzulassen, möchte ich der Tatsache, dass die „Heilige Familie“ sogar den ersten Blutzeugen und Märtyrer „verdrängt“, ein wenig nachgehen. „Heilige Familie“ scheint ja ziemlich hoch gehängt zu sein im Ranking der Festtage!

Aber: von allem Anfang an ist zu sagen: Auf die Betonung kommt es an. Ich möchte nicht so sehr über die HEILIGE Familie nachdenken – das tun die erste und die zweite Lesung und die Hausordnungen und Vorstellungen in bürgerlicher Zeit bis in die Gegenwart mehr als genug, und oft ist mehr Unheil als Heil damit verbunden. Betonen möchte ich die Heilige FAMILIE. Und dabei aufzeigen, wie FAMILIE in einem spirituellen, geistlichen Sinn gedacht werden kann.

» Ich vermeide es, Angehörige einer Kirche und Religionsgemeinschaft in ihrem Glauben irre zu machen. Für die Mehrzahl der Menschen ist es sehr gut, einer Kirche und einem Glauben anzugehören. Wer sich davon löst, der geht zunächst einer Einsamkeit entgegen, aus der sich mancher bald wieder in die frühe Gemeinschaft zurücksehnt. Er wird erst am Ende seines Weges entdecken, dass er in eine neue große, aber unsichtbare Gemeinschaft eingetreten ist, die alle Völker und Religionen umfasst. Er wird ärmer um das Dogmatische und alles Nationale, und wird reicher durch die Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten und Nationen und Sprachen. «
Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 124f.

„Liebe Schwestern, liebe Brüder…“?

Eine postmoderne Zeit löst sich von institutionalisiertem Denken und bestehenden Vorgaben („von oben“); stattdessen schaffen sich Menschen eigene (auch) familiäre Strukturen („von unten“). In einer Zeit, in der Standesdenken oder auch bürgerliches Denken vorherrschte, hatte die Anrede als „Brüder und Schwestern“ etwas, was Stände und bürgerliches Empfinden hinter sich hätte lassen können. Alle, die zu einer Pfarrei gehörten, wurden – zumindest in der Ansprache – als „Pfarrfamilie“ angesehen. Dass diese Familiarität endgültig verloren gehe, ist die große Sorge der Transformationsprozesse und der Frage nach Neustrukturierung von Pfarreien. Meine Vermutung und mein Erleben sind, dass diese Familiarität in den Generationen der Vierzigjährigen (und jünger) schon gar nicht mehr gekannt oder auch gewollt ist. „Schwestern und Brüder“ kann man nicht durch Ansprache, durch Predigten, auch nicht durch Gottesdienste „machen“ oder „werden“.

Wir erleben – gerade in Köln, aber auch anderswo, – dass die „Kinder“ gehen, dass die Schwestern und Brüder aus dieser Pfarrfamilie und aus der Gemeinschaft der Kirche ausziehen, sie verlassen. Jenseits aller vermuteten oder auch belegten Gründe ist eines der Motive sicher, sich Gemeinschaft selbst zu suchen, und auch selbst zu entscheiden, wer mir Bruder oder Schwester sein darf bzw. wem ich es sein will. Das ist dann die Heilige Familie on unten – und betont wird hier eindeutig und stark das FAMILIE, das Familiäre im Zusammensein.

Mit 83 Jahren beschreibt Hermann Hesse 1960 (!) dieses Phänomen: „Ich vermeide es, Angehörige einer Kirche und Religionsgemeinschaft in ihrem Glauben irre zu machen. Für die Mehrzahl der Menschen ist es sehr gut, einer Kirche und einem Glauben anzugehören. Wer sich davon löst, der geht zunächst einer Einsamkeit entgegen, aus der sich mancher bald wieder in die frühe Gemeinschaft zurücksehnt. Er wird erst am Ende seines Weges entdecken, dass er in eine neue große, aber unsichtbare Gemeinschaft eingetreten ist, die alle Völker und Religionen umfasst. Er wird ärmer um das Dogmatische und alles Nationale, und wird reicher durch die Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten und Nationen und Sprachen.“[1]

Sich lösen aus einer (Quasi-) Familie, der Einsamkeit entgegengehend, eintreten in eine neue große, aber unsichtbare Gemeinschaft. Man verliert das Dogmatische und alles Nationale, wird reicher durch Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten, Nationen, Sprachen.

Zwar entfällt das Fest des heiligen Stefanus in diesem Jahr, aber sind die Menschen, die diesen von Hermann Hesse beschrieben Weg gehen, nicht gerade Zeuginnen und Zeugen für einen – vielleicht nicht kirchlichen, aber dennoch göttlichen – Weg? Finden so nicht Menschen zueinander, die eines Geistes sind, den Dogmatismus und Nationalismus gleich ist, die auf diese Weise zu Schwestern und Brüdern werden – von „unten“?

» Wer zum Wahrnehmen der Wirklichkeit erwacht ist, ist von den anderen unweigerlich geschieden. Dafür hat er die Gemeinschaft, die im 'Steppenwolf' 'Die Unsterblichen' heißt. «
Hesse, Hermann (1950): Aus einem Brief an H. Gaupp, zit. in: Michels, Volker (Hrsg.) (1987): Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/Main, 225.

Die Wahrnehmung der Wirklichkeit

Und noch ein Unterscheidungsmerkmal der FAMILIE von oben bzw. von unten finde ich in den Briefen von Hermann Hesse. Hesse sagt sich mit 15 Jahren von seinem Vater los, der ihn in einer Heilanstalt untergebracht hatte – er wurde dem Sohn nicht mehr Herr (dieses Wort wird wohl bezeichnenderweise ausdrücken, was das „von oben“ in der Familie meint).

Seine Romanhelden sind häufig biographisch, er schreibt über sich, aus seiner Perspektive des Erlebens. Ob es nun um Hans Giebenrath in „Unterm Rad“ (1906), um Emil Sinclair in „Demian“ (1919) oder Harry Haller im „Steppenwolf“ (1927), in all diesen Schriften sucht er unter Beibehaltung seiner Individualität nach Zugehörigkeit. Sie muss freilassend sein, sie muss freiwillig sein, und ihr Ziel ist das gemeinsame Wahrnehmen und das Gestalten der Wirklichkeit in aller Verschiedenheit.

„Wer zum Wahrnehmen der Wirklichkeit erwacht ist, ist von den anderen unweigerlich geschieden. Dafür hat er die Gemeinschaft, die im ‚Steppenwolf‘ ‚Die Unsterblichen‘ heißt.“[2] Man könnte die Heilige FAMILIE heute als HEILIGE Familie ansehen und erlebbar machen, wenn sie genau das täte. Kein Dogmatismus, kein Nationalismus, keine Stände, keine determinierenden Vorgaben aus bürgerlicher Zeit. Stattdessen die Entscheidung, als Brüder und Schwestern das Leben zu teilen und zu gestalten, oder: in Hesses Worten: gemeinsam erwachen zum Wahrnehmen der Wirklichkeit. So kann ich „HEILIGE FAMILIE mit der Betonung auf beiden Worten geistlich und spirituell gut denken, eben von unten! Und mich berührt es sehr, dass in Hesses „Steppenwolf“ diese Gemeinschaft „Die Unsterblichen“ genannt wird.

Köln 16.12.2021
Harald Klein

[1] Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main 124f.

[2] Hesse, Hermann (1950): Aus einem Brief an H. Gaupp, zit. in: Michels, Volker (Hrsg.) (1987): Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/Main, 225.